Kinderarmut und Familienpolitik in Deutschland – eine fachpolitische Einordnung

Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

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Aktuelle Studien belegen, dass rund jedes sechste Kind unter drei Jahren in Deutschland in Armut aufwächst, „für über die Hälfte der armen Kinder ist Armut keine Episode in ihrem Leben, sondern ein anhaltendender Normal- oder Dauerzustand“.[1] Selbst in Zeiten guter Konjunkturdaten, abnehmender Arbeitslosigkeit und steigender Sozialausgaben kann eine anhaltend hohe Armutsbetroffenheit von Kindern und Jugendlichen und deren Familien festgestellt werden.[2] Auffallend ist zudem, dass die Armutsbetroffenheit von Kindern abhängig ist von der Familienform, in der sie aufwachsen und leben. Kinder aus Haushalten von Alleinerziehenden, Mehrkindfamilien oder Familien mit Migrationshintergrund sind häufiger von Armut betroffen, als Paarfamilien mit einem oder zwei Kindern. Die materielle Armut dieser Familien bewegt sich seit Jahren auf gleichbleibend hohem Niveau: Laut amtlicher Statistik liegt die Armutsgefährdungsquote von Alleinerziehenden seit 2008 konstant bei 40 Prozent. Bei Paarfamilien mit drei und mehr Kindern liegt diese Quote bei rund 24 Prozent.[3]

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ nimmt dies zum Anlass, das Armutsrisiko von Kindern und Jugendlichen und deren Familien kritisch zu hinterfragen, dabei verschiedene Armutsdimensionen zu beleuchten und mit familienunterstützenden Leistungen in Bezug zu setzen. Abschließend werden Empfehlungen für eine bessere und effektivere Förderung von armutsbetroffenen Kindern und deren Familien vorgestellt. Für die AGJ ist es ein wichtiges gemeinsames familien-, sozial-, kinder- und jugend(hilfe)politisches Ziel, Armut von Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien ganzheitlich und wirksam zu bekämpfen.

Verständnis von Armut und ihre Dimensionen

Armut wird in Wissenschaft, Forschung, Politik und (Fach-)Öffentlichkeit unterschiedlich diskutiert und definiert. Im Wesentlichen unterscheidet man zwischen dem Konzept der absoluten und dem der relativen Armut. Wenn in Deutschland über Armut gesprochen wird, so ist in der Regel damit nicht die absolute Armut gemeint, bei der ein Mangel an den elementaren Grundbedürfnissen, wie der Versorgung mit Nahrung, Kleidung oder Wohnung für die Betroffenen erkennbar ist. Durch die sozialen Sicherungssysteme, insbesondere die Leistungen des Sozialgesetzbuch II (SGB II), des Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) oder des Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) haben alle Menschen in Deutschland, die ihren Lebensunterhalt nicht allein sicherstellen können, Ansprüche auf Grundversorgung. Die Tatsache, dass es Leistungen gibt, die eine absolute Armut verhindern, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in Deutschland ein anhaltend hohes Maß an relativer Armut gibt, die sich in einer Unterversorgung materieller, kultureller und sozialer Teilhabe der Betroffenen an der Gesellschaft ausdrückt (oder widerspiegelt). Armut von Kindern manifestiert sich dabei vor allem als Verhinderung von Teilhabe und Chancengerechtigkeit, oft mit negativen Folgen für ihre Entwicklung und Gesundheit.

Um Armut in ihren verschiedenen Dimensionen erfassen und abbilden zu können, wird seit einigen Jahren der sogenannte Lebenslagenansatz präferiert. Lebenslagen werden dabei definiert als „Gesamtheit der Zusammenhänge, in denen Personen ihre materiellen und immateriellen Teilhabechancen nutzen“.[4] Mit diesem Ansatz können Aussagen zu den Auswirkungen von Armutslagen über den Lebensverlauf der betroffenen Kinder und Jugendlichen und deren Familien gemacht werden. In der Langzeituntersuchung der AWO-ISS-Studie[5] zu Lebenslagen und Lebens-chancen von Kindern und Jugendlichen wurde ein eigenes Lebenslagen-konzept in Bezug auf Kinderarmut entwickelt. Dabei wurde neben der materiellen (Grundversorgung) auch die kulturelle (Bildung), soziale (Integration, Kompetenzen) und gesundheitliche Situation (Gesundheitszu-stand, körperliche Entwicklung) des Kindes betrachtet. Diese vier Dimensionen wurden zu einem Lebenslagenindex zusammengefasst, der einen umfassenden Blick auf die kindliche Lebenssituation ermöglicht. Verknüpft man den Lebenslagenansatz mit dem Konzept der Verwirklichung-schancen, so erhält man eine noch weitergehende Perspektive.[6] Ausgehend von einem differenzierten Freiheitsbegriff wird Armut bei diesem Ansatz als Mangel an fundamentalen Verwirklichungschancen definiert. Danach ist das Einkommen ein wichtiges, aber nicht das einzige Instrument, um Verwirklichungschancen zu schaffen. Vielmehr ist die instrumentelle Beziehung zwischen niedrigem Einkommen und geringeren Verwirklichungschancen variabel und immer auch im Kontext der Gesellschaft und des Individuums zu betrachten. So kann beispielsweise eine gesundheitliche Beeinträchtigung oder fehlende Teilhabe und Bildung die Umwandlung von Einkommen in Verwirklichungschancen behindern. Aus Sicht der AGJ ist es daher grundsätzlich notwendig, politischem Handeln ein solch umfassendes Verständnis von Armut zu Grunde zu legen, auch wenn es nur schwer gelingt, diesen Ansatz in gewohnter Weise empirisch zu erfassen und zu beschreiben.

Erfassung relativer Einkommensarmut

Auch wenn der Mangel an Einkommen nur eine Armutsdimension abbildet, dürfen Bedeutung und Auswirkungen von Einkommensarmut auf die Situation von Familien und die Entwicklungsbedingungen von Kindern weder vernachlässigt noch klein geredet werden. Einkommen ist und bleibt ein zentrales Mittel für Teilhabe und Verwirklichungschancen.[7] Um Einkommensarmut erfassen und abbilden zu können, können unterschiedliche statistische Verfahren und Modelle sowie Referenzgrößen zur Anwendung kommen. Die gängige Definition basiert auf dem EU-weit gültigen Berichtsstandard, bei dem das verfügbare und bedarfsgewichtete Haushaltsnettoeinkommen ermittelt wird und mit dem mittleren Einkommen (Median) der Gesamtbevölkerung (Nettoäquivalenzeinkommen) in Bezug gesetzt wird. Als armutsgefährdet oder arm gilt ein Haushalt, dem weniger als 60 Prozent des Nettoäquivalenz-einkommens der Bevölkerung zur Verfügung steht. Die Anzahl der betroffenen Haushalte bildet die Armutsrisikoquote ab.

In Deutschland liegt der Median des Nettoäquivalenzeinkommens für Alleinstehende, bezogen auf 2013, bei 892 Euro im Monat (10.704 Euro im Jahr). Für eine Familie mit zwei Kindern unter vierzehn Jahren beträgt danach das bedarfsgewichtete[8] Nettoäquivalenzeinkommen 1.873 Euro im Monat (22.476 Euro im Jahr). Wer weniger als 60 Prozent des Nettoäquivalenz-einkommens im Monat zur Verfügung hat, liegt unterhalb der Armutsrisiko-schwelle und gilt als armutsgefährdet. Auffallend ist, dass der Anteil der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren – vor und nach Sozialleistungen – auf einem anhaltend hohen Niveau verharrt. So lag diese Armutsrisikoquote vor Sozialleistungen 2008 bei 30,6 Prozent und 2013 bei 30,4 Prozent. Bezogen auf den Zeitverlauf sank die Quote nach Transferleistungen leicht gegenüber 2008, von 15,2 Prozent auf 14,7 Prozent 2013.[9] Die Zahlen belegen die große Bedeutung von Sozialleistungen: die Armutsquote der unter 18-Jährigen wird durch die verschiedenen Sozialleistungen halbiert.[10]

Armut und deren familienpolitische Bewältigungsstrategien

Ausgehend von der eingangs beschriebenen Betrachtung von Lebenslagen wird von der AGJ Familienpolitik als Querschnittsaufgabe verstanden, die in weitere Politikbereiche und Handlungsfelder hineinwirken muss. Das ist vor allem dann bedeutsam, wenn es um eine ganzheitliche und wirksame Bekämpfung von Armut von Familien geht, da sich ihre Ausprägung, neben einem Mangel an Einkommen, eben auch an einem Mangel an Teilhabe und Bildung, in Segregation oder einer eingeschränkten Mobilität sowie gesundheitlichen Beeinträchtigungen finden kann. Noch viel zu selten nimmt, nach Ansicht der AGJ, Familienpolitik an dieser Stelle ihre Funktion als politische Querschnittsaufgabe wahr.

Grundsätzlich wird zwischen existenzsichernden und familienfördernden Leistungen unterschieden. Besonders für Kinder und Jugendliche, die auf existenzsichernde Leistungen nach SGB II und XII sowie auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz angewiesen sind, ist Armut Lebensrealität. Die Lebenssituation ist für viele Kinder und Jugendliche im Grundsicherungsbezug auch deswegen besonders einschneidend, weil ihnen viele typische familienpolitische Leistungen „verwehrt“ bleiben. Ein Beispiel hierfür ist das Elterngeld, was seit 2011 nur noch in sehr engen Grenzen für Eltern im SGB II und SGB XII Leistungsbezug gezahlt wird. Die Anrechnungslogiken der unterschiedlichen familienbezogenen Leistungen verhindern in aller Regel, dass Familien im Grundsicherungsbezug von diesen profitieren können. Hier braucht es, nach Ansicht der AGJ, perspektivisch einen bedarfsgerechten Kinderregelsatz, der nicht nur das physische Überleben sichert, sondern jedem Kind die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Das Bildungs- und Teilhabepaket ist in dieser Hinsicht keinesfalls ausreichend. Dazu ist es notwendig das kindliche Existenzminimum anhand transparenter und nachvollziehbaren Kriterien neu zu bestimmen, sodass es den tatsächlichen Bedarfen von Kindern und Jugendlichen Rechnung trägt.
Das vorliegende Papier nimmt eine Konzentration auf familienbezogene Leistungen vor. Diese sind den Grundsicherungsleistungen vorgelagert und wirken dementsprechend in erster Linie präventiv. Sie können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Armut von Kindern und ihren Familien zu verhindern, bevor sie Grundsicherungsleistungen bedürfen.

1. Monetäre Förderung

Eine wichtige familienpolitische Aufgabe ist die monetäre Förderung und Unterstützung von Familien, in den den Grundsicherungsleistungen vorgelagerten Sicherungssystemen. Mit diesen Leistungen soll dem Armutsrisiko von Familien effektiv entgegengewirkt werden. In den weiteren Ausführungen soll somit eine Fokussierung auf Leistungen wie Kinderzuschlag, Unterhaltsvorschuss sowie das Kindergeld und den Kinderfreibetrag erfolgen. Anhand einer kritischen Überprüfung kann beispielhaft aufgezeigt werden, wie es gelingen kann, Familien ein Leben oberhalb der Einkommensarmutsrisikoquote zu ermöglichen.

  • Kinderzuschlag und Wohngeld
    Zeitgleich mit der Grundsicherung für Arbeitssuchende trat zum 1. Januar 2005 auch der Kinderzuschlag in Kraft. Mit dieser Leistung sollte die Armut von Kindern gezielt vermieden werden. Kinderzuschlag erhalten Eltern, die aufgrund ihres geringen Einkommens lediglich in der Lage sind, ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, deren Einkommen aber nicht für den Bedarf des Kindes ausreicht. Der Kinderzuschlag beträgt derzeit pro Kind bis zu 140 Euro im Monat (ab 1. Januar 2016 steigt der Betrag um 20 Euro auf 160 Euro pro Kind und Monat) und wird maximal bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gezahlt.

    In der Regel haben Haushalte, die kinderzuschlagsberechtigt sind, auch einen Anspruch auf Wohngeld. Allerdings wurde das Wohngeld seit 2009 nicht mehr angehoben und soll erst zum 1. Januar 2016 an die Mietpreisentwicklung angepasst werden. Mit dem neuen Wohngeld sollen auch die gestiegenen Heizkosten teilweise berücksichtigt werden. Obwohl immer mehr Familien trotz Erwerbseinkommen auf ergänzende Leistungen nach dem SGB II angewiesen sind, steigen die Zahlen bei der Inanspruchnahme des Kinderzuschlags nur geringfügig an. Als Gründe hierfür können u. a. das komplizierte Antragsverfahren und der enge Leistungskorridor benannt werden. Ohne entsprechende Reformen wird der Kinderzuschlag, auch auf lange Sicht, die an ihn gestellten Erwartungen nicht erfüllen und damit auch nicht der Kinderarmut sinnvoll entgegenwirken können.

    Empfehlung: Um das Ziel des Kinderzuschlags zu erreichen, ist aus Sicht der AGJ eine Qualifizierung des Kinderzuschlags notwendig. Diese sollte u. a. aus einer Streichung der Höchsteinkommensgrenze sowie der Einführung eines Mehrbedarfszuschlags für Alleinerziehende bestehen. Zudem sollte über eine Anhebung der Leistung sowie eine Altersstaffelung nachgedacht werden. Das Wohngeld sollte neben der Heizkostenkomponente auch eine Komponente für die sonstige Haushaltsenergie einschließlich der Stromkosten enthalten und in einem Zweijahresrhythmus angepasst werden. Nach Ansicht der AGJ bietet ein reformierter Kinderzuschlag in der Kombination mit Kindergeld und Wohngeld die Möglichkeit für einen Einstieg in eine bedarfsabhängige existenzsichernde Kindergrundsicherung[11].
     
  • Unterhaltsvorschuss
    Eine wichtige Leistung für Alleinerziehende ist der Unterhaltsvor-schuss. Mit der Leistung soll der Ausfall von Kindesunterhalt durch den unterhaltspflichtigen Elternteil zeitlich befristet aufgefangen werden. Die zeitliche Befristung sowie die Höhe der Leistung sind in der Fachöffentlichkeit immer wieder Gegenstand der Kritik. Insgesamt werden Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) nur maximal 72 Monate gezahlt. Die Leistung beträgt seit dem 1. Januar 2010 unverändert für Kinder unter 6 Jahren 144 Euro (ab 1. Januar 2016, 145 Euro) und für Kinder zwischen 6 und 12 Jahren 192 Euro (ab 1. Januar 2016, 194 Euro) im Monat. Obwohl bei getrennt lebenden Eltern beiden das hälftige Kindergeld zusteht, wird beim UVG das gesamte Kindergeld berücksichtigt.

    Empfehlung: Angesichts des bestehenden Armutsrisikos gerade von Alleinerziehenden ist es für die AGJ unverständlich, dass die notwendigen Anpassungen beim UVG nach wie vor nicht erfolgt sind. Die AGJ spricht sich daher für eine deutliche Anhebung der maximalen Dauer des Leistungsbezuges sowie der Altersgrenze über die bestehenden 72 Monate bzw. das 12. Lebensjahr aus.
     
  • Kindergeld und Kinderfreibetrag
    Eine wichtige Besonderheit beim Kindergeld besteht in seiner Doppelfunktion: Es dient zum einen der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums und zum anderen der Förderung und Unterstützung von Familien. Das Kindergeld beträgt gegenwärtig 188 Euro für das erste und zweite, 194 Euro für das dritte sowie für jedes weitere Kind 219 Euro im Monat. Für 2016 ist eine weitere geringe Anhebung um 2 Euro pro Kind vorgesehen. Verfügen Eltern nur über ein geringes oder kein Einkommen, wird ihnen das Kindergeld als reine Förderleistung gezahlt. Bei Eltern, die auf Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII angewiesen sind, wird das Kindergeld erst auf den Bedarf der Kinder und wenn dieser gedeckt ist, auf den Bedarf der Eltern angerechnet. Darüber hinaus gibt es die Kinderfreibeträge. Sie umfassen das sächliche Existenzminimum und den Bedarf für Betreuung, Erziehung und Ausbildung des Kindes (BEA). Diese Kombination von Anrechnung, Förderung und Entlastung ist einmalig bei den familienbezogenen Leistungen und führt zu paradoxen Ergebnissen. Denn obwohl gerade bei Familien mit geringem Einkommen von einem höheren monetären Unterstützungs- und Förderbedarf ausgegangen werden kann, führt die Verankerung des Kindergeldes und Kinderfreibetrages im Einkommensteuerrecht dazu, dass Eltern, die über höhere Einkommen verfügen, den Kinderfreibetrag nutzen können und somit eine höhere Entlastung pro Monat erhalten.

    Empfehlung: Nach Ansicht der AGJ muss das Kindergeld so ausgestaltet werden, dass es Eltern mit geringem oder keinem Einkommen besser fördert als bisher. Hierzu sind auch die verschiedenen Anrechnungspraxen, etwa beim Unterhaltsvorschuss oder bei SGB II und SGB XII Leistungsempfängern einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.

Im Abschlussbericht der Gesamtevaluation der ehe- und familienbezogenen Maßnahmen wird den oben aufgeführten Leistungen eine armutsvermeidende Wirkung bescheinigt. Diese könnte mit den notwendigen Anpassungen und Reformen nach Ansicht der AGJ durchaus erhöht werden. Zurzeit entfaltet laut Bericht jedoch die Subventionierung von Infrastrukturangeboten, wie der Kindertagesbetreuung, die stärkste armutsvermeidende Wirkung.[12]


2. Bildung und Infrastrukturangebote

Bildung ist eine wichtige Voraussetzung für eine selbstbestimmte Lebensführung und gesellschaftliche Teilhabe. Daher muss an allen Bildungsorten, Teilhabe und Chancengerechtigkeit für alle Kinder ermöglicht werden. Die Bildungschancen eines Kindes in Deutschland hängen allerdings nach wie vor stärker als in anderen Ländern vom sozialen Status[13] der Eltern ab. Der Bildungsbericht 2014 kommt zu dem Ergebnis, dass „für die Verwirklichung von Chancengleichheit (…) die vorliegenden sozialen Disparitäten des Kompetenzerwerbs (…) nach wie vor eine der zentralen Herausforderungen im Bildungssystem“ darstellen.[14]

Im frühkindlichen Bildungsbereich nehmen gegenwärtig mehr als 95 Prozent der Kinder zwischen drei und sechs Jahren ein Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsangebot in der Kindertagesbetreuung in Anspruch.[15] Zudem haben seit August 2013 alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr einen Rechtsanspruch auf eine Förderung in einer Kindertageseinrichtung oder Kindertagespflege. Zum Stichtag 1. März 2014 standen für Kinder unter drei Jahren 660.750 Plätze in einer Kindertageseinrichtung oder bei einer Tagesmutter bzw. einem Tagesvater zur Verfügung.[16] Damit wurde bereits ein wichtiger Beitrag im Bildungs- und Betreuungsangebot für Kinder im Vorschulalter geleistet. Nun gilt es die Qualität frühkindlicher Erziehung, Bildung und Betreuung mit ebenso hoher Intensität zu sichern und weiterzuentwickeln, um gleichwertige Bedingungen für das Aufwachsen aller Kindern zu schaffen und an ihren individuellen Bedarfen orientierte Rahmenbedingungen für eine gesunde Entwicklung, für Teilhabe- und Chancengerechtigkeit zu schaffen.[17]

Die Familie gilt als eine weitere unverzichtbare Bildungs- und Sozialisationsinstanz für Kinder und Jugendliche. Bei der Bekämpfung von Armut muss Familienpolitik daher gleichermaßen auch formale und non-formale Bildungsbereiche in den Blick nehmen und entsprechende Hilfe- und Unterstützungsangebote auch außerhalb von Kindertagesbetreuung und Schule für Kinder, aber auch ihre Eltern zur Verfügung stellen. So sollten alle Eltern und Kinder durch Angebote der Familienhilfe, -bildung und -beratung sowie der Frühen Hilfen bereits vor und nach der Geburt von Kindern unterstützt und durch passgenaue Angebote entlastet werden. Hierbei gilt es, die Ressourcen, Kompetenzen und Bewältigungsstrategien für Armutslagen bei Eltern und Kindern gleichermaßen zu stärken.

Ein weiterer Beitrag zur Bekämpfung von Chancenarmut bietet eine gute und enge Zusammenarbeit zwischen Schulen (insbesondere von Ganztags-schulen) und Trägern der Kinder- und Jugendhilfe mit ihren vielseitigen Angeboten der kulturellen, sozialen und politischen Bildung, aber auch durch Schulsozialarbeit oder einzelfallbezogene Hilfen. Lokale Bildungslandschaften können einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung einer kommunalen Bildungspolitik mit dem Ziel, herkunftsbedingte Bildungsbenachteiligungen abzubauen, leisten, wenn sie eine Brückenfunktion zwischen verschiedenen Schulen, Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe sowie anderen Bildungsorten bieten.

Zudem muss das bestehende Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) überprüft und an die aktuelle Rechtsprechung angepasst werden. Hierbei sollte insbesondere das Antragsverfahren vereinfacht und der Zugang zu den Leistungen verbessert werden.[18]

Empfehlungen: Nach Ansicht der AGJ ist Familienpolitik aufgefordert, dazu beizutragen, für alle Kinder und Jugendlichen gleiche Bildungschancen herzustellen und damit Armutslagen nachhaltig entgegenzuwirken. Hierzu ist eine systematische und kontinuierliche Zusammenarbeit mit dem formalen Bildungsbereich notwendig, um zu einer stärkeren Einbeziehung und Verzahnung formaler und non-formaler Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche und deren Familien beizutragen. Die Angebote der Kindertagesbetreuung gilt es weiterhin bedarfsgerecht auszubauen sowie die Qualität der Angebote zu verbessern und zu sichern, so dass alle Kinder bereits von Anfang an gleiche Chancen für ihre (Selbst-)Bildungsprozesse erhalten.[19]

3. Sozialraum und Wohnen

Neben der Familie können auch die Bedingungen im Sozialraum, unter denen Kinder aufwachsen, eine Wirkung auf den Sozialisationsprozess entfalten. Die Wohnumgebung und Wohnbedingungen (wie Wohnortqualität und Infrastrukturausstattung) oder die kulturelle Milieubildung wirken sich im komplexen Wechselspiel mit anderen Umweltfaktoren (wie dem familiären Hintergrund, den Freundschafts- und Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb und außerhalb des Stadtteils, der Kindertageseinrichtung oder der Schule etc.) potenziell auf die Erfahrungswelt, das Wohlergehen, die Lebenssituation und die Bildungsbiographie von Kindern aus.[20] Die sozialräumlichen Entwicklungen in Deutschland deuten hierbei auf starke regionale Disparitäten bei der Verteilung der Kinderarmut sowie auf eine soziale Polarisierung von Lebenslagen und Lebenschancen der nachwachsenden Generation zwischen einzelnen Regionen, Städten und Quartieren hin. Ins Blickfeld gerät hierbei insbesondere die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen in sozial benachteiligten Stadtteilen sowie in weitgehend entvölkerten ländlichen Regionen.

Kinderarmut verteilt sich nicht gleichmäßig auf das Bundesgebiet, sondern schwankt zwischen den Ländern und Regionen, Städten und Landkreisen in beträchtlichem Umfang. Während etwa im Jahr 2012 in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern jeweils knapp 34 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren armutsgefährdet waren, lagen die Armuts-risikoquoten in Bayern und Baden-Württemberg lediglich bei 12 und 13 Prozent. Generell ist die Armutsgefährdung bei Kindern und Jugendlichen in Ostdeutschland höher als in Westdeutschland.[21] Vor allem im Westen treffen allerdings soziale und ethnische Segregation aufeinander. Dies stellt eine besondere Herausforderung für eine verbesserte soziale und kulturelle Inklusion dar.[22]

Die Stadt- und Raumforschung sowie die Regionalsoziologie weisen darüber hinaus seit einigen Jahren verstärkt darauf hin, dass sich Kinderarmut zunehmend auf die Städte konzentriert. Hierbei hat die soziale Segregation insbesondere in den Großstädten zugenommen, während sich die ethnische Segregation eher rückläufig entwickelt hat. Auch innerhalb der Städte lässt sich eine sozialräumliche Spreizung sozialer Ungleichheit nachweisen. Einkommensschwache Haushalte und Kinderarmut konzentrieren sich zunehmend auf wenige Stadtteile und Quartiere, die sich durch schlechte Wohnbedingungen, hohe Umweltbelastungen (wie Luftschadstoffe und Lärm) sowie fehlende Grünzonen und Spielgelegenheiten für Kinder auszeichnen. Im Ergebnis führt dies zu einer sozialen Entmischung der Stadtteile, so dass sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen dort die kulturellen Milieugewohn-heiten dauerhaft bestimmen. Die Wohnumgebungen in derartigen Stadtquartieren können zu Sozialisationseffekten führen, von denen Kinder besonders betroffen sind.[23,24]

Empfehlungen: Die sozialräumlichen Entwicklungen stellen die zuständigen Akteure auf den verschiedenen föderalen Ebenen vor die Aufgabe, gleichermaßen zukunftsfähige wie auch integrative Strategien zu konzipieren, um den sozialen Verwerfungen und der Kinderarmut entgegenzuwirken. Aus Sicht der AGJ sollten sich Strukturpolitik, Konzepte und Maßnahmen dabei jedoch nicht allein auf die Arbeitsmarkt- und Wohnraumpolitik beschränken. Erforderlich ist zugleich eine armutspräventiv angelegte Familien- und Bildungspolitik im Sozialraum, die der Mehrdimensionalität von Armutslagen Rechnung trägt. Gerade Kindern in Unterversorgungslagen sollte von Anfang an der Zugang zu kulturellen Ressourcen in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld eröffnet werden. Die familien- und kindbezogenen Angebote in den benachteiligten Quartieren sind so zu gestalten, dass sie gesundheits- und resilienzförderlich sind. Hierbei sollte den vielfältigen Gesichtern der lokalen Armut durch die Entwicklung passgenauer Angebote Rechnung getragen werden.[25] Notwendig ist es darüber hinaus, die präventiven Ansätze in ein dauerhaftes Monitoring, in Verbindung mit einer strukturierten Jugendhilfeplanung, einzubinden, das Entwicklungen kleinräumig, problem-orientiert und frühzeitig erkennt und den beteiligten Akteuren auf diese Weise differenzierte Steuerungsmöglichkeiten eröffnet.


4. Gesundheit und Sicherheit

Die Gesundheit ist ein wichtiger Indikator für die Lebensqualität und den Lebensstandard von Kindern und Jugendlichen und deren Familien. Dabei spiegelt sich „die soziale Ungleichheit der Lebensbedingungen und Teilhabechancen (…) in der Gesundheit der heranwachsenden Generation wider.“[26] Aus dem UNICEF-Bericht zur Lage von Kindern in Deutschland 2013 geht hervor, dass Kinder aus benachteiligten und sozial schwachen Familien weniger Sport treiben, mehr fernsehen und häufiger rauchen. Alltagsroutinen in der Familie wie Essgewohnheiten, Bewegungsverhalten oder Rauchen haben häufig einen lebenslangen Effekt auf Gesundheit und Risikoverhalten.[27]

Eine weitere wichtige Datengrundlage bietet die Längsschnittuntersuchung zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS). Im Ergebnis wird auch hier deutlich, dass die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland gesund aufwachsen. Ungeachtet dessen kann jedoch ebenfalls nachgewiesen werden, dass das Risiko für Gesundheitsprobleme durch psychische Auffälligkeiten, Essstörungen, Gesundheitsverhalten (z. B. Ernährungsgewohnheiten, sportliche Aktivitäten, usw.) von Kindern und Jugendlichen aus Familien mit niedrigem sozialen Status höher ist, als bei Gleichaltrigen aus Familien mit mittlerem oder hohem Sozialstatus.

Empfehlungen: Es bleibt abzuwarten, ob von dem zum 1. Januar 2016 wirksam werdenden Präventionsgesetz auch Impulse für eine Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit von Kindern und Jugendlichen ausgehen werden. Nach Ansicht der AGJ ergeben sich dringende Anforderungen an die Gesundheitspolitik, möglichst früh in Prävention und Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen, die aus sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen kommen, zu investieren und damit gezielt zu einem Ausgleich der Gesundheitschancen beizutragen. Allerdings gilt auch hier, dass die Gewährleistung gesundheitlicher Chancengleichheit nach Ansicht der AGJ nicht allein die Aufgabe der Gesundheitspolitik ist, sondern Gegenstand einer familienpolitischen Gesamtstrategie zur Bekämpfung von Armut von Kindern und Jugendlichen und deren Familien sein muss.

5. Umwelt- und Freizeitbedingungen

Kinder in Armutslagen müssen auf zahlreiche Aktivitäten verzichten, die ihnen Kontakte zu (finanziell besser gestellten) Gleichaltrigen ermöglichen. Besonders im Bereich Freizeitverhalten ist ein deutlicher Effekt zu beobachten: Kinder in Deutschland, deren Alltag von Armut mitgeprägt ist, sind signifikant seltener Mitglied in einem Verein als der Durchschnitt ihrer Altersgenossen. Sie können keine Freunde zum Essen einladen, mit Freunden ins Kino gehen und auch nicht mit ihren Familien Urlaub außerhalb der eigenen Wohnung machen.[28] Das, was die Allgemeinheit als „ziemlich wichtig“ und selbstverständlich erachtet, können Familien mit Kindern in Armutslagen häufig nicht realisieren.[29] Für das Wohlbefinden von Kindern und um für sie wichtige soziale Kompetenzen entwickeln zu können, die später nur schwer nachgeholt werden, ist es daher entscheidend, dass sie in sozialen Gruppen eingebunden sind. Das Recht auf Spiel, Ruhe, Freizeit und Erholung (Artikel 31, UN-KRK), das Recht auf angemessene Lebensbedingungen (Artikel 27, UN-KRK) und das Recht auf Zugang zu Informationen, die für ein gutes Leben notwendig sind (Artikel 17, UN-KRK) werden durch Armut und Armutsgefährdung jedoch massiv eingeschränkt.

Ferien- und Erholungsfreizeiten werden von kommunaler Seite ebenfalls immer weniger gefördert und stehen somit immer weniger Kindern offen. Aufgrund fehlender finanzieller Mittel werden kommunale Freizeitangebote wie Schwimmbäder oder Bibliotheken teurer und kostenlose Freizeitangebote wie Spielplätze oder Freizeitzentren knapper.[30] Kommunale Sozialpässe sind zwar ein geeignetes Mittel, um von Armut betroffenen Kindern und Jugendlichen mehr Beteiligung am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, sie bergen jedoch die Gefahr, stigmatisierend zu wirken.

Empfehlungen: Aus Sicht der AGJ müssen Kommunen stärker finanziell dabei unterstützt werden, ihren Gestaltungsspielraum im Sinne von Kindern und Jugendlichen mehr zu nutzen und die Infrastruktur im Interesse von Kindern und Jugendlichen auszubauen. Dabei ist es empfehlenswert, Kinder und Jugendliche in die Entscheidungsfindung mit einzubeziehen. Die Leitlinien des Vereins „Kinderfreundliche Kommune“ können als Orientierung dienen.

Die Mobilität von Kindern und Jugendlichen sollte gefördert werden, damit sie die Möglichkeit bekommen, Freizeit- und Erholungsangebote wahrzunehmen und ihren Sozialraum aktiv erleben und mitgestalten können. Dazu gehört neben einer Subventionierung der Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs auch die Bereitstellung sicherer und beleuchteter Fuß- und Radwege.

Offene Kinder- und Jugendarbeit und andere non-formale Bildungsangebote schaffen weitere offene Räume und Freizeitangebote, die auf Teilhabe und bürgerschaftliches Engagement ausgerichtet sind und zum Ausprobieren verschiedener Rollen außerhalb der Familie einladen. Auch Kinder- und Jugendverbände sind solche Räume, die Mitbestimmungserfahrungen ermöglichen. Sie bedürfen einer strukturellen Absicherung auf kommunaler, Landes- und Bundesebene.

Durch die Stärkung sozialer Netzwerke von Familien im Sozialraum, z. B. durch niedrigschwellige offene Familienbildungsangebote, können Erfahrungs-austausch und gegenseitige Unterstützung angestoßen werden. Darüber hinaus erscheint eine gute Vernetzung und Verzahnung von Sozialplanung und Jugendhilfeplanung sinnvoll, damit beide Bereiche gemeinsam Kinder und Jugendliche in der Wahrnehmung ihrer Rechte unterstützen können.

6. Subjektives Wohlbefinden und Resilienz

Auffallend ist, dass ein reiches Land wie Deutschland in internationalen Vergleichsstudien im Hinblick auf das subjektive Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen verhältnismäßig schlecht abschneidet. So nimmt Deutschland 2013 im Vergleich von 29 Industrienationen nur den Rang 22 ein. Auch wenn dieser Befund nur einen Ausschnitt kindlicher Lebenswirklichkeit erfasst, muss es zumindest aufhorchen lassen, wenn Kinder und Jugendliche in Deutschland vergleichsweise oft unzufrieden mit ihrem Leben sind, sich damit nicht wertgeschätzt und akzeptiert fühlen.[31] Bei der Betrachtung der Lage von Kindern sind aber nicht nur die Risiken und Probleme in den Blick zu nehmen, sondern auch die Ressourcen, die entwicklungsförderlichen Faktoren und die Bewältigungskompetenzen von Kindern und ihren Familien. Arme Kinder bzw. Kinder aus armen Lebensverhältnissen sind nicht automatisch in ihrer Entwicklung benachteiligt. In der Resilienzforschung unterscheidet man zwischen Risiko- und Schutzfaktoren, die dazu beitragen, dass sich Kinder trotz riskanter Lebensumstände positiv entwickeln.[32] Die Schutzfaktoren sind beeinflussbar. Über die Familie, Bildungsinstitutionen oder das weitere soziale Umfeld werden entsprechende Fähigkeiten vermittelt. Zu solchen sozialen oder personalen Ressourcen zählen vor allem das Erleben von Erfolg und Selbstwirksamkeit, welche das Selbstwertgefühl erhöhen sowie wohlwollende Zuwendung und Unterstützung durch konstante Bezugspersonen und der Erwerb von Problembewältigungskompetenzen.

Empfehlung: Für die betroffenen Familien sind aus Sicht der AGJ daher nicht nur Bildungsinstitutionen und -angebote von besonderer Bedeutung, sondern auch auf Dauer angelegte Freizeit- und Kulturangebote, zivilgesellschaftliche Initiativen oder soziale Projekte. In einem guten Zusammenspiel der verschiedenen Lebenswelten kann es gelingen, die Schutzfaktoren von Kindern zu stärken, ihre Ressourcen zu aktivieren und Resilienz aufzubauen. Bei der Betrachtung von Resilienzfaktoren im Feld der Armutsprävention ist bei aller Bedeutung jedoch nicht zu vergessen, dass diese lediglich eine Möglichkeit der sekundären Armutsprävention darstellen und die primäre Prävention nicht vernachlässigt werden darf.

7. Fazit

Deutschland gehört unzweifelhaft zu den reichsten Ländern der Welt. Ungeachtet dessen gibt es hier gegenwärtig rund 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche, die in Armutslagen aufwachsen. Bei der Darstellung von Armut reicht es jedoch nicht aus, nur die ökonomische Situation der Betroffenen zu betrachten. Um die Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen hinreichend abbilden und gezielte Gegenmaßnahmen ergreifen zu können, müssen nach Ansicht der AGJ weitere Armutsdimensionen und Handlungsfelder in den Blick genommen werden. Hierfür wäre es auch hilfreich im Rahmen der Armuts- und Reichtumsberichterstattung unter Einbezug des zuständigen Beraterkreises und des Wissenschaftlichen Gutachterkreises umfassendere Indikatoren für die Beschreibung von Armutsdimensionen zu entwickeln.

Für die AGJ müssen das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen sowie die Verwirklichung ihrer Rechte Richtschnur des politischen Handelns in Bund, Ländern und Kommunen sein. Das bedeutet im Kern auch, die Armut von Kindern und Jugendlichen in allen Dimensionen zu erfassen und wirksam zu bekämpfen und dafür Sorge zu tragen, dass Kindern und Jugendlichen Verwirklichungschancen geboten werden, damit sie zu selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Menschen heranzuwachsen können.

Um diesem Anspruch Rechnung zu tragen, braucht es nach Ansicht der AGJ eine familienpolitische Gesamtstrategie, die als Querschnittsaufgabe konzipiert ist und alle gesellschaftlichen Akteure und Ebenen einbezieht.

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 17./18. September 2015     



[1] Vgl. Gross, Thomas/Jehles, Nora (2015): Schriftenreihe Arbeitspapiere wissenschaftliche Begleitforschung „Kein Kind zurücklassen“, Bertelsmann-Stiftung und Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung (ZEFIR) (Hrsg.); Band 3, Gütersloh, Seite 7.
[2] Der Paritätische Gesamtverband (2015): Die zerklüftete Republik – Bericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland 2014; 2. Auflage, Berlin.
[3] Destatis, Statisches Bundesamt, Armutsgefährdungsquote nach Mikrozensus 2013; neben dem Mikrozensus mit einem Messkonzept auf Monatsbasis gibt es vergleichbare Angaben zu Armutsquoten von EU-SILC, die von Jahreseinkommen ausgehen und – bei gleicher Entwicklungstendenz – zu leicht unterschiedlichen Armutsquoten gelangen.
[4] Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, https://www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/a334-4-armuts-reichtumsbericht-2013.html, Stand 9. April 2015
[5] AWO-ISS-Studie (2012): Lebenslagen und Zukunftschancen von (armen) Kindern und Jugendlichen in Deutschland, Frankfurt am Main.
[6] Vgl. Sen, Amartya (2000): Ökonomie für den Menschen – Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, Carl Hanser Verlag, München, Wien.
[7] ebd., S. 113
[8] Bei der Gewichtung der Haushaltsmitglieder bekommt der Haushaltsvorstand den Wert 1, der Partner oder die Partnerin den Faktor 0,5 sowie jedes Kind unter 14 Jahren den Faktor 0,3.
[9] Destatis, Statisches Bundesamt, Lebensbedingungen, Armutsgefährdung (EU-SILC), Wiesbaden 2015
https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/EinkommenKonsumLebensbedingungen/LebensbedingungenArmutsgefaehrdung/ Stand: 14.04.2015. Zu beachten ist, dass sich diese Daten nicht auf den Mikrozensus beziehen sondern auf EU-SILC.
[10] Vgl. hierzu auch UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Industrienationen 2013, Seite 3 http://www.unicef.de/informieren/projekte/-/unicef-bericht-2013/21940: Stand: 09.07.2015
[11] Modelle für die Kindergrundsicherung werden in den verschiedenen Verbänden und Organisationen in unterschiedlichen Ausgestaltungen diskutiert.
[12] Vgl. prognos (2014): Endbericht Gesamtevaluation der ehe- und familienbezogenen Maßnahmen und Leistungen in Deutschland, Berlin, Seite 211.
[13] Der Soziale Status beschreibt die Position in der sozialen Hierarchie oder dem sozialen Feld. Ein niedriger oder hoher Sozialstatus ist mit eher ungünstigen oder begünstigenden Lebensbedingungen und sozialen Teilhabechancen verbunden.
[14] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, a. a. O., Seite 96.
[15] Bundesministerium für Bildung und Forschung (2014): Bildung in Deutschland, Bielefeld, Seite 55.
[16] vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2015): Fünfter Bericht zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes, Berlin, Seite 9.
[17] Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2014): Nach dem U3-Ausbau: Qualität in der Kindertagesbetreuung kann nicht warten! – Positionspapier. Berlin
[18] Mit Ausnahme der Leistungen zum Schulbedarf, die automatisch ohne Antrag gewährt werden, hindert der relativ hohe bürokratische Aufwand viele Familien an einer Nutzung der Leistungen für Bildungs- und Freizeitangebote. Eine Verbesserung würde es darstellen, wenn die Anträge auf Leistungen der BuT grundsätzlich mit dem Antrag auf ALG II-Regelleistungen, Kinderzuschlag und/oder Wohngeld als gestellt gelten (Globalantrag), so dass die jeweiligen Einzelleistungen bei Bedarf auch rückwirkend für den Bewilligungszeitraum des Antrags auf Regelleistungen gewährt werden können. Zum anderen sollte gesetzlich die Erstattung der Fahrtkosten zur Inanspruchnahme der Leistungen zur BuT geregelt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem aktuellen Urteil klargemacht, dass Bildungs- und Teilhabeangebote für die Bedürftigen tatsächlich ohne weitere Kosten erreichbar sein müssen und die bestehende gesetzliche Regelung zur Kostenerstattung gem. § 28 Abs. 7 Satz 2 SGB II nach verfassungskonformer Auslegung auch die Fahrtkosten erfasst, vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (2015): Positionierungen der BAG FW zu den Regelbedarfen SGB II, Berlin
[19] Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2014): AGJ-Positionspapier : Nach dem U3-Ausbau: Qualität in der Kindertagesbetreuung kann nicht warten!“ Berlin.
[20] Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2013): Lebenslagen in Deutschland. Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn, S. 133.
[21] Vgl. Baumann, Helge/Seils, Eric (2014): Wie „relativ“ ist Kinderarmut? Armutsrisiko und Mangel im regionalen Vergleich. In: WSI Report 11, Nr. 11, Januar 2014, S. 13f.
[22] Bundesministerium für Arbeit und Soziales, a. a. O., S. 133.
[23] Vgl. ebd., S. 134.
[24] Wie eine Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik (Difu) belegt, ist die ungleiche Verteilung in den untersuchten 19 Großstädten unterschiedlich stark ausgeprägt, wobei es in fast allen Städten Stadtteile gibt, in denen die Kinderarmut noch weiter ansteigt. Sie befinden sich zumeist am Stadtrand. Kennzeichnend ist eine Bebauung mit Großwohnsiedlungen oder Gebäuden der 1950er- und 1960er-Jahre. Vermutlich finden in den innerstädtischen Quartieren momentan Aufwertungsprozesse statt, die diese Entwicklungen befördern (vgl. Seidel-Schulze, Antje (2012): Kleinräumiger Städtevergleich in sozialräumlichen Spreizungen. In: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg.): Gespaltene Stadtgesellschaften? Konferenz am 19. Juni 2012 in Siegburg. BBSR-Berichte Kompakt. 03/2012, S. 6-7.
[25] Meier-Gräwe, Uta (2009): Armutsprävention im Sozialraum - ein Schlüssel zur Verringerung von Bildungsarmut, In: Sozialer Fortschritt, Heft 2-3, S. 29-36.
[26] Robert Kochinstitut (2015): CBE Kompakt, Zahlen und Trends aus der Gesundheitsberichterstattung des Bundes, 1/ 2015 6.Jahrgang, Seite 1.
[27] Hans Bertram (Hrsg): Reiche, kluge, glückliche Kinder? – Der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland, Zusammenfassung; Weinheim und Basel 2013, S.1
[28] 11% der von World Vision befragten Kinder geben an, dass sie i. d. R. nicht in den Urlaub fahren, 8% gehen so gut wie nie ins Kino oder Freibad. 6% können sich keine Vereinsmitgliedschaft oder Aktivitäten wie Musikunterricht leisten, 4% können manchmal benötigte Lernmittel (Hefte, Stifte etc.) nicht beschaffen und je 2% gaben an, Lebensmittel von der Tafel zu erhalten, nicht täglich ein warmes Essen zu erhalten oder im Winter nicht immer ausreichend warme Kleidung zu haben. Als Begründung lagen jeweils fehlende finanzielle Mittel vor. Vgl. World Vision Deutschland e.V. (2013): Wie gerecht ist unsere Welt. Kinder in Deutschland 2013. 3. World Vision Kinderstudie. Weinheim und Basel, S. 98.
[29] Sabine Andresen, Danijela Galic (2015): Kinder. Armut. Familie. Alltagsbewältigung und Wege zu wirksamer Unterstützung, Gütersloh, S.20.
[30] Deutsches Kinderhilfswerk (2009): Positionspapier 23 Mehr Ferienfahrten ermöglichen! Recht auf aktive Erholung für alle Kinder und Jugendlichen!
[31] UNICEF, a.a.O. Seite 9ff.
[32] Vgl. Zander, Margaritha (2010): Resilienzförderung als Neuorientierung in der kommunalen Kinderarmutsprävention, In: Lutz, Ronald/ Hammer, Veronika (Hrsg.): Wege aus der Kinderarmut, Weinheim/München 2010, S. 142-158.