„Junge Menschen an der Schnittstelle von Kinder- und Jugendpsychiatrie und Kinder- und Jugendhilfe“

Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ zur Entwicklung gemeinsamer Eckpunkte der Zusammenarbeit beider Systeme

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I. Einleitung

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ möchte mit den Fachgesellschaften und Verbänden der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in einen partnerschaftlichen Dialog treten. Ausgehend von den Schnittstellen zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (KJPP) und Kinder- und Jugendhilfe (KJH) will die AGJ gemeinsam erörtern, welche Handlungsbedarfe für kooperative Unterstützungs- und Behandlungs-modelle es gibt.

In diesem Papier werden dazu insbesondere die Arbeitszusammenhänge der KJH im Rahmen der Gewährung von Leistungen mit Hilfeplanung (§§ 19, 27ff, 35a, 41 SGB VIII) in den Blick genommen. Zwar ist auch bei Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit, der Kita- oder Hortbetreuung und in den Frühen Hilfen das Thema Kooperation mit der KJPP relevant, hierauf konzentriert dieses Papier indes nicht.

Aus Sicht der AGJ hat eine Kooperation beider Systeme zum Ziel, die Bedarfe der jungen Menschen bestmöglich zu befriedigen, Beziehungskontinuitäten zu gewährleisten und medizinische Versorgung durchgängig zu garantieren. Kooperation und Koordination leben von der Unterschiedlichkeit; sie sind Ausdruck von und zugleich Antwort auf Spezialisierung und Differenzierung, auf Arbeitsteilung und Abgrenzung[1]. Es gilt, mit diesen Unterschiedlichkeiten im Alltag umzugehen und einen gemeinsamen Weg der Zusammenarbeit zu finden.

Dieses Papier soll Impulse aufgreifen, die seit langem immer wieder zur Schnittstellenthematik zwischen KJPP und KJH gemacht worden sind[2], und als Auftakt für einen Dialog der AGJ mit Dachverbänden der KJPP dienen. Es kann hierfür auch auf existierende Handreichungen zur Kooperation zwischen den Systemen zurückgegriffen werden, die insbesondere auf Landes- und kommunaler Ebene bereits erarbeitet wurden[3].

II. Gemeinsamer Ansatz: Vom Kind aus denken

Die AGJ sieht eine große Notwendigkeit für eine gemeinsame Verständigung. Für diese gibt es auch einen gemeinsamen Ausgangspunkt: Trotz der bestehenden, durch die Strukturen in den beiden Systemen bedingten Unterschiede sind sowohl die KJPP als auch die KJH auf die zunehmende Befähigung der jungen Menschen, auf die Stärkung ihrer Kompetenz zur Ermöglichung eigenständiger, teilhabender Lebensführung ausgerichtet. Die Herausforderung der Kooperation zwischen den Systemen besteht darin, den gemeinsamen Bezug auf das Kind auch faktisch zu realisieren.

Für die Kooperation über Systemgrenzen hinweg hält die AGJ es für wichtig einzugestehen, dass beide Systeme in der Praxis ihren Ansprüchen nicht immer entsprechen und der idealtypischen Grundorientierung auf die Förderung der Selbstwirksamkeit der Adressatinnen und Adressaten nicht immer gerecht werden. Die Vielfalt möglicher theoretischer und methodischer Orientierungen, insbesondere aber auch die jeweiligen institutionellen und individuellen Möglichkeiten des Hilfesystems, führen teilweise dazu, dass hiervon abgewichen wird.
Bei Friktionen in der Zusammenarbeit beider Systeme besteht die Gefahr, solche Brüche im eigenen System als bedauerliche Abweichung im Einzelfall zu entschuldigen, dem Gegenüber aber systembedingte Kontinuitäten zu unterstellen. Gleichzeitig weiß man aus den Erfahrungen im Kontext der Qualitätsentwicklung, dass die Aufarbeitung problematischer Verläufe gute Ansatzpunkte für Verbesserung bietet.
Die AGJ würde sich wünschen, dass die Kooperation zwischen beiden Handlungssystemen so weit gedeiht, dass sie – ausgehend von der gemein-samen Orientierung am jungen Menschen – der Frage nachgehen kann, wo und warum im Einzelfall die Kooperation trotz dieser nicht gut gelungen und wie das perspektivisch zu vermeiden ist.

Entsprechend der gemeinsamen Grundorientierung sollten im Mittelpunkt des Austauschs aus Sicht der AGJ daher das Kind bzw. die jungen Menschen stehen: Was braucht es? Wie kann jungen Menschen Raum und Unterstützung gegeben werden zur Entfaltung ihrer Potenziale? Was können die Fachleute aus beiden Systemen, was können ihre Institutionen zur Gestaltung einer Hilfe beitragen, die dem komplexen Bedarf der gemeinsamen Adressatinnen und Adressaten (möglichst) gerecht wird? Wie können Übergänge gestaltet, vor-, aber auch nachbereitet werden? Und schließlich: Was ist diese Gesellschaft bereit, zur Gestaltung und Begleitung der Entwicklungswege von „schwierigen“ Kindern mit komplexen, disziplinenübergreifenden Problemlagen einzufordern und welche entsprechenden Ressourcen werden zur Verfügung gestellt? Denn vor allem dann, wenn es gelingt vom Kind bzw. von der Familie aus zu denken, kann herausgearbeitet werden, an welchen Stellen Schwierigkeiten entstehen und wie potenzielle Lösungen aussehen könnten.

III. Allgemeine Aspekte in der Kooperation

An den Schnittstellen zwischen KJPP und KJH begegnen sich unterschiedliche Fachkulturen, für deren unterschiedliche Handlungs- und Denkansätze es systemisch-methodische Gründe gibt, die dem jeweils anderen System ggf. fremd erscheinen:

  • KJPP und KJH haben nicht nur einen unterschiedlichen Auftrag, auch der Zugang zu den jeweiligen Leistungen, die Entscheidung über die Leistungsberechtigung sowie die Abrechnungsmodalitäten differieren.
  • Für die KJH ist das sogenannte „Fallverstehen“ zentral, das sich von der für die KJPP zentralen „Diagnose“ unterscheidet. Diagnose und Fallverstehen sind methodisch anders verankert. Dies ist so festzustellen, obgleich mittlerweile einerseits in der Diagnose der KJPP ein Fallbezug hergestellt wird, andererseits auch in der KJH sozialpädagogische Diagnostik durchgeführt wird. Diagnose und Fallverstehen sind in eine eigene Fachsprache gefasst, beide werden unterschiedlich an die Adressatinnen und Adressaten sowie andere beteiligte Personen kommuniziert. Diagnose und Fallverstehen stehen aber keinesfalls stets im Gegensatz zueinander: Beiden ist gemeinsam, dass sie ein Verstehen der Problemlage des jungen Menschen anstreben und eine Prognose über den anstehenden Entwicklungsverlauf beinhalten, die in der Folgezeit zu überprüfen und ggf. anzupassen ist. Diagnose und Fallverstehen sind Grundlage für eine passgenaue Intervention und Unterstützung.
  • Der auf der Diagnose beruhende „Behandlungsplan“ der KJPP und der auf dem Fallverstehen gründende „Hilfeplan“ in der KJH wird jeweils anders aufgestellt, überprüft und fortentwickelt. Dabei differiert insbesondere die Beteiligung der jungen Menschen und weiterer Beteiligter (z. B. der Familie, von Vertrauenspersonen, Lehrkräften oder Professionellen aus anderen Kontexten).
  • Während die KJH den Anspruch an sich stellt, eine „lebenswelt-orientierte Hilfe“ zu erbringen und stark an und im Alltag der jungen Menschen und ihrer Familien anknüpft, findet die „Behandlung“ durch die KJPP zwar auch unter Einbeziehung der Bezugspersonen statt, sie agiert aber zumeist im Therapiesetting außerhalb des Alltags.
  • Aus Sicht der KJH erscheint problematisch, dass der psychiatrische Krankheitsbegriff im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung zunehmend diffus wird. Auf der einen Seite existieren in der KJPP scheinbar eindeutig anwendbare Klassifikationssysteme, auf der anderen Seite wird nicht nur an der Schnittstelle zur Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche (§ 35a SGB VIII), sondern zunehmend auch in anderen Kontexten deutlich: Zentrale und für einen jungen Menschen relevante gesellschaftliche Institutionen (z. B. Schule) weisen immer wieder Intoleranz gegenüber Abweichungen von den normierten Zugangsvoraussetzungen bzw. institutionsspezifischen Verhaltensanforderungen auf. Soziale Abweichung gerät damit schnell in die Nähe von Krankheit oder wird zur Krankheit. Dies führt dazu, dass innerhalb der KJH kritisch hinterfragt wird, ob und wieso es eine zunehmende Zahl von Störungen bzw. Störungen mit Krankheitswert in den Klassifikationssystemen der KJPP gibt. Gleichzeitig macht die KJPP deutlich, dass sie nicht für jede als kritisch beurteilte Handlungs-disposition junger Menschen in Anspruch genommen werden will und kann. Es gibt Rückmeldungen aus der KJPP, dass sie sich eher einer stärkeren Inanspruchnahme ausgesetzt sieht als einer steigenden Zahl von Störungen mit Krankheitswert in ihren Klassifikationssystemen.

Grundlage der Kooperation muss eine Bereitschaft zu gegenseitiger Akzeptanz und Achtung sein. Aufgrund des unterschiedlichen professionellen Selbstverständnisses kann es nicht selten zu unterschiedlichen Auffassungen und Konflikten darüber kommen, welches nun die beste Vorgehensweise ist. Gemeinsamer Anspruch beider Systeme an sich selbst sollte sein, dass unter der Verortung der Helfer in den beiden Systemen KJPP und KJH nicht die Versorgung und Betreuung der jungen Menschen leidet. Dies muss durch einen kollegialen Dialog beider Systeme bei gleichzeitiger Wahrung der fachlichen Autonomie erreicht werden. Zwischen den Systemen besteht kein hierarchisches Verhältnis, auch wenn (noch) Macht- und Statusunterschiede zwischen den in diesen vertretenen Professionen feststellbar sind. Die AGJ regt an, dieses grundlegende Verständnis des Verhältnisses beider Systeme zueinander in gemeinsam zu entwickelnde Eckpunkte der Zusammenarbeit aufzunehmen.

Sowohl von den Adressatinnen und Adressaten, ihren Familien, aber auch der Gesellschaft werden Hoffnungen und Erwartungen an „Heilung“ durch die KJPP bzw. an „wirksame Hilfe“ der KJH herangetragen, die aber nicht zwangsläufig von Fachkräften beider Systeme geteilt werden. Wenn KJPP oder KJH diesen Hoffnungen und Erwartungen an das eigene System zurückhaltend begegnet, (notwendige) Abgrenzungen vornimmt oder Leistungsgrenzen aufzeigt, kann das enttäuschend wirken. Gleichzeitig ist nur verständlich, wenn  die KJPP das überhöhende Bild der „Heilung“ bringenden „Halbgötter in Weiß“ nicht akzeptieren will und auch die KJH nicht bereit ist, als „Ausfallbürge“ bereitzustehen, wenn andere sich zurückziehen, sich als „gescheitert“ betrachten oder nicht mehr weiter wissen.

IV. Konkrete Kooperationsbezüge

1. Stellungnahmen für Eingliederungshilfen gem. § 35a SGB VIII

Rechtlich ist vor einer Bewilligung von Eingliederungsleistungen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gem. § 35a Abs. 1, 1a SGB VIII eine gutachtliche Stellungnahme der KJPP einzuholen, ob die seelische Gesundheit des Kindes/Jugendlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand abweicht. Die Prüfung, ob sich aufgrund dessen eine Teilhabebeeinträchtigung ergibt oder eine solche zu erwarten ist, sowie die Wahl der zu bewilligenden Hilfeform ist vom Jugendamt entsprechend des Bedarfs im Einzelfall im Rahmen einer eigenständigen, von der ärztlichen Stellungnahme abgrenzbaren Entschei-dung zu treffen. Hierfür ist ein Hilfeplanverfahren (§ 36 SGB VIII) durchzuführen. In diesem ist bei das Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen (§§ 5, 36 Abs. 1 S. 4 SGB VIII) zu achten und die Person, welche die gutachtliche Stellungnahme nach § 35a Abs. 1a SGB VIII abgegeben hat, soll beteiligt werden.

In der Praxis werden an dieser Schnittstelle Probleme aus den unterschiedlichen Perspektiven aufgezeigt:

  • Jugendämter klagen über Eingriffe in ihre Entscheidungsbefugnisse, wenn über die Stellungnahme nach § 35a SGB VIII hinaus bzw. im Anschluss an eine kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung konkrete Jugendhilfemaßnahmen oder gar konkrete Anbieter empfohlen werden. Dies kann z. B. die Hilfeplangespräche mit den Betroffenen deutlich erschweren, weil diese häufig auf die von der KJPP benannten Hilfen beharren und nicht mehr offen für den gemeinsamen Beratungs- und Entscheidungsprozess sind.
  • Die KJPP berichtet aber auch von anderen Jugendämtern, die sich sehr genaue Stellungnahmen, neben Arztbriefen, wünschen. Die KJPP mahnt zudem an, dass die KJH den krankheitsbedingten Behandlungsbedarf junger Menschen zu wenig in ihre Hilfen einbeziehe und sich nicht ausreichend um Diagnostik der jungen Menschen kümmere. Z. B. werde die KJPP zu wenig in Hilfeplanung und Hilfeplanfortschreibung einbezogen. Die KJH sollte Wege finden, um mit bestimmten Krankheiten, Störungen oder Entwicklungs-auffälligkeiten besser umgehen zu können und hier bereit sein, Erfahrungen und Hinweise einzubeziehen.

Hinsichtlich der von KJPP verfassten Stellungnahmen ist es für die KJH von entscheidender Bedeutung, dass diese im Kontext der KJH verständlich und nutzbar sind. Diverse Jugendämter sind dazu übergangen, der KJPP hierzu konkrete Muster bzw. Fragenkataloge zu unterbreiten, um sicherzustellen, dass sie auf Grundlage der Stellungnahmen eine bedarfsgerechte Ein-schätzung zu den Eingliederungshilfen machen können. Die Stellungnahmen müssen aber nicht nur all jene Informationen enthalten, die für die Leistungsgewährung erforderlich sind, sondern sollten auch die Möglichkeit eröffnen, den Entwicklungs- und Krankheitsverlauf während der Leistungs-erbringung im KJH-Kontext weiter zu verfolgen.

Die Frage der Abrechnung angefertigter Stellungnahmen ist in der Praxis nicht selten ein weiterer Konfliktpunkt. Im Hinblick auf die Diagnostik von Krankheit erwartet die KJH dabei eine Abrechnung über die Krankenkasse. Die AGJ erkennt jedoch an, dass jedenfalls soweit auf Grund der spezifischen Bedürfnisse der KJH durch die Anfertigung der Stellungnahme ein zusätzlicher Aufwand entsteht, auch ein entsprechender finanzieller Ausgleich durch die KJH vorauszusetzen ist.

2. Gegenseitige Einbeziehung in Behandlungs- und Hilfeplanung

Die psychiatrische Diagnose gibt der KJH im Regelfall ergänzende Hinweise für eine erfolgreiche Anlage des sozialpädagogischen Settings und kann mögliche Grenzen sozialpädagogischen Handelns aufzeigen. Aber auch für die KJPP ist es sinnvoll, dass durch den Patientenstatus die Zugangs-möglichkeiten zum Fallverstehen und die Möglichkeiten zur Aktivierung des jungen Menschen, unter Einbeziehung des sozialen Umfelds, durch die KJH nicht verschüttet werden. Sie hat ein Interesse daran, dass dessen krankheitsbedingte Einschränkungen zwar erkannt, der junge Mensch aber dennoch in seiner Handlungsfähigkeit im Lebensumfeld gestärkt und zur Mitwirkung an seiner Gesundung befähigt wird.

Insbesondere wenn Maßnahmen aus beiden Systemen parallel erfolgen oder bereits absehbar sind, müssen die pädagogische und therapeutische Sichtweise immer wieder miteinander abgeglichen und die Maßnahmen aufeinander abgestimmt werden. Hier können aus Sicht der AGJ Überlegungen in Richtung einer gemeinsamen Hilfeplanung bzw. der Verbindung von Hilfe- und Behandlungsplan getroffen werden.

Ausdrücklich rechtlich vorgesehen ist die Einbeziehung der KJPP bei der Aufstellung und Änderung des Hilfeplans sowie bei der Durchführung von Hilfen nach § 35a SGB VIII (§ 36 Abs. 3 SGB VIII). Die Person, die die Stellungnahme nach § 35a Abs. 1a SGB VIII abgegeben hat, soll beteiligt werden. Ferner ist gem. § 36 Abs. 4 SGB VIII vor der Durchführung von im Ausland geplanten Erziehungshilfemaßnahmen durch die KJPP gutachtlich eine seelische Störung mit Krankheitswert auszuschließen. Aber auch bei der Planung anderer Hilfen können Personen außerhalb des Jugendamtes zur Fachteamberatung i.S.d. § 36 Abs. 2 S. 1 SGB VIII hinzugezogen und diese zu einer Helferkonferenz ausgeweitet werden. Die AGJ erkennt an, dass insbesondere bei der Fortschreibung von Hilfeplänen die Einbeziehung der Verlaufsdiagnostik in der Praxis teils vernachlässigt wird.

Die AGJ ist aber auch der Meinung, dass die KJH Beiträge während der Aufstellung und Fortschreibung von Behandlungsplänen machen kann. Eine Einbeziehung der KJH durch die KJPP kann z. B. ermöglichen, das alltägliche Lebensumfeld der jungen Menschen stärker in den Blick zu nehmen. Die KJH kann dazu beitragen, Bezugspersonen für den Umgang mit den entwicklungs- und krankheitsbedingten Verhaltensweisen der jungen Menschen zu stärken, und kann nicht zuletzt Hilfen nach einer Entlassung aus der KJPP anbieten.

Die AGJ ist der Auffassung, dass, in Anbetracht des komplexen, disziplinenübergreifenden Hilfebedarfs der gemeinsamen Gruppe von Adressatinnen und Adressaten, eine Individualisierung und Flexibilisierung standardisierter Angebotsformen beider Systeme notwendig ist. Auf Grund des komplexen Hilfebedarfs der gemeinsamen Gruppe von Adressatinnen und Adressaten, der nicht umsonst als „systemübergreifend“ bezeichnet wird, wird in vielen Fällen eine Maßnahme nur eines Systems dem Bedarf nicht gerecht, das Scheitern dieser Maßnahme wird aus übergreifender Blickrichtung als häufig vorhersehbar zu betrachten sein. Dieses Scheitern kann unterschiedliche Form haben: sich herausstellende fehlende Wirksamkeit, aber auch ein von der Adressatin bzw. dem Adressaten initiierter Abbruch und/oder ein Abbruch auf Grund von Eskalation aus Überforderung durch die Professionellen. Die AGJ hält integrierte Hilfeansätze bzw. eine fortdauernde Begleitung nach Übergängen zwischen den Systemen für eine vielversprechende Möglichkeit der Weiterentwicklung der bestehenden, häufig versäulten Hilfsangebote (z. B. ambulante kinder- und jugendpsychiatrische Unterstützung in Einzelfällen während einer stationären Betreuung in der Jugendhilfe bzw. ambulante Jugendhilfemaßnahmen während eines stationären Aufenthalts in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, ambulante KJH-Leistungen zugunsten von Eltern, die bereits während des KJPP-Klinikaufenthalts des Kindes ansetzen und diese stärken/befähigen mit den Problemlagen ihres Kinders nach der Entlassung umzugehen). Es müssen gemeinsame Konzepte entwickelt, durch beide Systeme Ressourcen zur Umsetzung zur Verfügung gestellt und Zugangswege geklärt werden.

Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich in der Praxis dadurch, dass für Kooperationsgespräche in dem System der KJPP keine hinreichende Finanzierung vorgesehen ist. Dennoch erwartet die KJH insbesondere im stationären Bereich der KJPP, dass dafür Zeiten zur Verfügung gestellt werden. Aus bereits gelebten Kooperationen (Gemeindepsychiatrischen Verbünden u. a.) wird z. B. von sehr bereichernden gemeinsamen Fachteamsitzungen berichtet. Vom ambulanten Bereich der KJPP erwartet die KJH, dass zumindest ein Austausch darüber stattfindet, wie in einer für beide Seiten akzeptablen Weise Kooperation ermöglicht werden kann.

Die AGJ empfiehlt auf der regionalen Ebene dringend, zwischen der strategischen Netzwerkebene und der operationalen Einzelfallarbeit zu unterscheiden. Die operationale Ebene sollte nicht überlastet werden, was aber geschieht, wenn – sie den Einzelfall zum Anlass nehmend – beauftragt wird, parallel gleich grundlegende Kooperationsstrukturen (mit) zu entwickeln. Die grundlegenden Kooperationsstrukturen auszuhandeln und damit den Rahmen des Kooperationsnetzwerks festzulegen, sollte Leitungskräften beider Systeme mit fallübergreifenden Entscheidungskompetenzen übertragen werden. Elemente gemeinsamer Vereinbarungen können u. a. sein:

  • Information über vorhandene Angebote beider Systeme;
  • Entwicklung gemeinsamer Indikationskriterien und Verfahrensstandards für die Einzelfallarbeit;
  • gemeinsame regionale Angebots- und Bedarfsplanung;
  • Berücksichtigung in der Landespsychiatrieplanung;
  • Initiierung regionaler Arbeitskreise zum systemübergreifenden Austausch jenseits der Einzelfallarbeit;
  • ggf. auch ein Angebot gemeinsamer Fort- und Weiterbildung zu Fallgruppen / diagnostischem Verfahren – Fallverständnis / bestimmten Methoden / zur Dokumentation;
  • evtl. auch eine gemeinsame Supervision von Teams beider Systeme.

Auf der operationalen Ebene soll so Raum für die Umsetzung geschaffen werden. Hier sind insbesondere klare, verbindliche Absprachen der im Einzelfall beteiligten Professionellen beider Systeme über die jeweilige Aufgaben(teil)verantwortung und die Entscheidungsprozesse (z. B. Überprü-fungszeitpunkte zu gemeinsam festgelegten Zielen; Kriterien für die Feststellung einer Zielerreichung; Person für Fallmanagement) wichtig. Festzu-halten sind diese im Hilfe- bzw. Behandlungsplan. Es muss der unter Punkt 3 bis 5 angesprochene Austausch über jeweilige Erkenntnisse und Sichtweisen und die konkrete Einbeziehung in die Fallarbeit erfolgen.

Dabei darf die Einbeziehung der Betroffenen nicht zu kurz kommen. Das Einholen von für die Kooperation unerlässlichen Schweigepflichts-entbindungen kann als Chance für eine Aufklärung und Einbeziehung der Betroffenen genutzt werden. Wichtig erscheint, dass die Professionellen sich im Hinblick auf wechselseitige Rückmeldungswünsche verständnisvoll zeigen, hierbei allerdings nicht aus den Augen verlieren, dass solche in beiden Systemen nur mit Einverständnis der Adressatinnen und Adressaten erfüllbar sind. Für ein Einverständnis zu werben bzw. eine solches zu erarbeiten, gehört zur Zusammenarbeit im Dreieck zwischen Betroffenen, KJPP und KJH.

3. Stationäre Unterbringungen – Wechsel von KJPP in KJH und zurück

An der Schnittstelle des Übergangs von stationärer KJPP zur stationären KJH und von stationärer KJH zu stationärer KJPP werden in der Praxis ebenfalls immer wieder Probleme aus den unterschiedlichen Perspektiven aufgezeigt:

  • Von beiden Seiten werden Vorhaltungen zur Entlassung junger Menschen aus der stationären Unterbringung der KJPP in die KJH gemacht: Die KJH beklagt, dass teils „von heute auf morgen“ entlassen werde, aber gleichzeitig ein nahtloser Übergang in die Unterbringung durch die KJH erwartet werde bzw. entlassen werde, ohne dass eine Anschlussunterbringung gesichert sei. Die KJPP beklagt, dass die KJH den auf medizinische Indikation begrenzten Behandlungsauftrag der stationären KJPP nicht respektiere und hinreichend Anschlusshilfen bzw. die Inobhutnahme von Kindern/-Jugendlichen ablehne, obgleich es für deren Verbleib in der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie keine Indikation (mehr) gibt.
  • Jugendämter und Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe beklagen, die unzureichende Bereitschaft der KJPP im Krisenfall junge Menschen stationär aufzunehmen, die bislang von der Kinder- und Jugendhilfe betreut werden (z. B. „um das Setting in der Klinik zu erhalten“).

Die AGJ hält die Frage der Überleitung zwischen den Systemen für einen zentralen Aspekt in der gemeinsamen Zusammenarbeit. Neuralgischer Punkt ist dabei regelmäßig die gegenseitige, frühzeitige Einbeziehung und Information des jeweils anderen Systems. Vorweggenommen sei, dass es bestenfalls darum gehen sollte, ein Hin und Her zwischen verschiedenen Lebensorten und sozialen Bezügen zu vermeiden. Die AGJ erkennt an, dass die KJH hierfür die eigenen Angebote weiterentwickeln muss und dabei die KJPP einbeziehen sollte (vgl. dazu im Folgenden unter Punkt 5). Gleichwohl werden Übergänge in der Praxis weiterhin notwendig bleiben. Die AGJ möchte, dass die gemeinsame Zusammenarbeit qualifiziert wird: Es geht um ein Abholen, Übergeben und Begleiten der jungen Menschen von den Professionellen des jeweiligen Systems.

Wichtig ist, wann und wie das andere System auf den nahenden Versorgungsbedarf aufmerksam zu machen ist. Bestimmte Probleme werden sich dabei nicht lösen lassen, z. B. dass Krisen oft – selbst bei gelingender Kooperation etwa in Heimkindersprechstunden – nicht frühzeitig absehbar sind. Entscheidend ist hier ein gegenseitiges Verständnis, dass man zwar so gut als möglich plant, in der Realität aber teils erst kurzfristig die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit erkennt. Der „Fall“ bzw. die gemeinsame Adressatin/der gemeinsame Adressat muss übergeben, statt abgegeben werden.

Insbesondere ist von beiden Systemen gemeinsam auch in den Blick zu nehmen, wie mit Situationen umgegangen werden kann, in denen zum identifizierten Zeitpunkt das andere System keinen Platz zur Verfügung stellen kann.
Die AGJ möchte auf das Problem aufmerksam machen, dass die KJH in der Praxis teils Schwierigkeiten hat, junge Menschen trotz Krise und medizinischem Handlungsbedarf in der KJPP aufnehmen zu lassen. Durch Kliniken der KJPP werden Aufnahmen hinausgeschoben oder auch ganz mit der Begründung verweigert, die jungen Menschen seien durch die stationäre KJH-Maßnahme (zumindest halbwegs) versorgt. Soweit keine medizinische Indikation, keine Fremd- und Selbstgefährdung gesehen wird, mag dies fachlich richtig sein, in anderen Fällen werden Einschätzungen und Leistungsgrenzen der KJH nicht ernstgenommen und Verantwortung abgeschoben (vgl. zu Akzeptanz und Achtung, aber auch teils überhöhten Erwartungen bereits unter Punkt III).
Die AGJ bittet gleichzeitig die KJPP um Verständnis und Berücksichtigung, dass für die KJH eine Identifizierung und Bereitstellung passgenauer Hilfen aufwändig sein kann, sodass häufig nur bzw. allenfalls bei frühzeitiger Einbeziehung ein Platz in einer geeigneten Einrichtung oder Pflegefamilie gefunden werden kann. Die Fachkräfte in den Jugendämtern sind mit einem Platzmangel innerhalb der KJH konfrontiert, der gerade bei sehr spezifischen Bedarfssituationen die Suche zusätzlich schwierig und trotz intensivster Bemühungen zeitaufwändig machen.
Die AGJ appelliert aber auch an die Verantwortlichen insbesondere der öffentlichen KJH, ein Entgegenkommen/Abwarten der KJPP nicht auszureizen und zu berücksichtigen, dass für die KJPP die Abrechnung eines Platzes an einen medizinischen Behandlungsbedarf gekoppelt ist. Die KJPP hat ein berechtigtes Interesse daran, einen jungen Menschen zu entlassen, wenn sie den Platz gegenüber der Krankenkasse nicht mehr abrechnen kann. Sie kritisiert zu Recht, dass es Kindern und Jugendlichen auch nicht gut tut, in einer Klinik zu sein, wenn kein Behandlungsauftrag mehr da ist und dann Verläufe sogar wieder schlechter werden können. Die KJPP sieht sich zum Teil ebenso wie die KJH mit einer hohen Nachfrage gegenüber einer beschränkten Platzkapazität konfrontiert.
Es müssen daher gemeinsam Lösungen für Zeiträume ausgelotet werden, wenn bei anstehender Entlassung aus der KJPP trotz intensiver Suche noch kein adäquater Platz in der KJH zur Verfügung gestellt werden kann. Eine Überlegung kann dabei sein, dass sich zum Teil doch ein medizinischer Bedarf begründen lässt, wenn anderenfalls in eine für den jungen Menschen im Einzelfall möglicherweise gefährdende Umgebung entlassen werden müsste, woraus sich mehr oder weniger unmittelbar wieder ein Bedarf für eine stationäre Unterbringung entwickeln würde. Aber auch die KJH muss bereit sein, den jungen Menschen aus der Klinik heraus in Obhut zu nehmen, wenn sie nach Ende eines Klinikaufenthalts eine notwendige stationäre Unterbringung in der KJH nicht nahtlos ermöglichen kann. Dabei kann auch erwogen werden, ob die KJH zur Durchführung der Versorgung und Unterbringung während der Inobhutnahme mit der Klinik kooperiert und für die Übergangszeit den Platz dort als KJH-Maßnahme finanziert. Liegt die Schwierigkeit einen Platz zu finden daran, dass Einrichtungen eine Überforderung nach der Aufnahme befürchten, müssen wiederum die gemeinsamen Überlegungen darauf gerichtet sein, wie diese gemeinsam gestärkt werden können, um den sich nach der Auf-/Übernahme des jungen Menschen ergebenden Herausforderungen gerecht werden zu können.

4. Systemüberforderung sowie Freiheitsentziehende Maßnahmen

Beide Systeme, KJPP und KJH, haben Probleme den richtigen Umgang mit den jungen Menschen zu finden, die hochauffällig sind, Grenzen nicht einhalten, ggf. gewalttätig und delinquent werden, sich prostituieren, die sich massiv zurück- oder auch ganz entziehen. Es reicht aber nicht aus, die Lösungsverantwortung im jeweils anderen System zu suchen. Beide Systeme sind deswegen auch zu gemeinsamen Anstrengungen aufgefordert: Die Angebote sind im Miteinander zwischen den Systemen so zu konzipieren, dass die jungen Menschen nicht zwischen KJH und KJPP hin- und hergeschoben werden. Dies betrifft insbesondere auch die Delegation der Verantwortung auf die Allgemeinen Sozialen Dienste, wenn Kinder und Jugendliche bei besonderen Vorkommnissen (z. B. bei Drogenkonsum oder Diebstahl) kurzfristig aus einer Einrichtung entlassen werden.

Die AGJ nimmt wahr, dass – häufig aus Hilflosigkeit der Systeme KJPP wie KJH und überwiegend im Glauben, den jungen Menschen nicht anders helfen und/oder schützen zu können – eine Lösung in Freiheitsentziehenden Maßnahmen gesucht wird. Die AGJ hält es jedoch für notwendig, den Fokus auf eine Weiterentwicklung der Systeme zu legen[4]. Freiheitsentziehende Maßnahmen sind in beiden Systemen nur bei akuter Selbst- und Fremdgefährdung zulässig, bleiben aber auch in diesen Fällen in der KJH fachlich umstritten. KJPP und KJH sind gefordert, ihre Zuständigkeit für diese Gruppe hochbelasteter junger Menschen wahrzunehmen, sich zu qualifizieren und Freiheitsentziehende Maßnahmen nicht aus eigener Hilflosigkeit, sondern erst nach höchstkritischer Überprüfung des Einzelfalls und aller Hilfeoptionen in Freiheit in Betracht zu ziehen. Ein wichtiger Gesichtspunkt der Prüfung ist aus Sicht der KJH, welches Setting und wie ein Wahren von Beziehungskontinuitäten selbst bei Freiheitsentziehenden Maßnahmen gelingen kann.

5. Während der außerfamiliären Unterbringung in der KJH

Der Ort einer außerfamiliären Unterbringung in der KJH (also Heim, betreute Wohnform oder Pflegefamilie)ist in erster Linie als Lebensort der gemeinsamen Adressatinnen und Adressaten anzuerkennen. Wenn eine solche erforderlich ist, muss eine medizinische Versorgung durch die KJPP aber mitgedacht und im Interesse der jungen Menschen integriert und akzeptiert werden, ohne dass z. B. das Heim damit zur „besseren Psychiatrie“ wird.

Medizinische Diagnostik kann für Kinder und Jugendliche, die in Einrichtungen oder Pflegefamilien leben, etikettierende und stigmatisierende Wirkungen haben. Dies kann zu der möglicherweise als stigmatisierend erlebten Betreuung in der KJH hinzukommen und beides schwer zu tragen sein. Die AGJ sieht aber auch, dass eine medizinische Begleitung während der Fremdunterbringung für etliche Kinder, Jugendliche und junge Volljährige vorteilhaft ist und den Hilfeverlauf positiv beeinflusst. Die AGJ wünscht sich daher einen Austausch darüber, wie es gelingen kann, an Diagnosen und ihre Auswirkungen differenziert heranzugehen. Ihr ist wichtig, dass das Feststellen einer psychischen Störung nicht bereits als Wert an sich begriffen wird, andererseits aber innerhalb der Systeme ein Bewusstsein dafür hergestellt werden kann, dass für einige junge Menschen eine medizinische Diagnose auch entlastend wirken, ergänzende therapeutische oder anderweitige medizinische Unterstützung für die Entwicklung und das Aufwachsen im Heim oder in der Pflegefamilie förderlich sein kann (vgl. zur gegenseitigen Einbeziehung in Behandlungs- und Hilfeplan unter Punkt IV.2).

Aus Sicht der AGJ hat die Sicherstellung von Beziehungskontinuitäten in der Begleitung junger Menschen während dieser für sie schwierigen Lebensabschnitte erhebliche Bedeutung. Mit Blick auf die KJH erkennt die AGJ an, dass es hier „bei uns selbst“ ebenfalls einen Weiterentwick-lungsbedarf gibt (z. B. für individuelle Wiederaufnahmekonzepte bei Rückkehr nach Klinikaufenthalten; für ein Aufbrechen der Säulen ambulant – stationär zur Ermöglichung einer Begleitung und ambulanten Betreuung durch vertraute Fachkräfte einer KJH-Wohngruppe auch während eines längeren Klinikaufenthalts; zur Aufrechterhaltung eines Gesprächsrahmens zumindest mit der fallverantwortlichen Fachkraft im Jugendamt auch nach Abbruch der KJH-Maßnahme). Die AGJ bittet auch ihre künftigen Gesprächspartner auf Seiten der KJPP zu überlegen, welche Weiterentwicklungsmöglichkeiten zur Sicherstellung von Beziehungskontinuitäten diese für die KJPP und KJH sehen.

Die AGJ erhofft sich ferner von einer frühzeitigen Einbeziehung der Perspektive der KJPP in die Hilfen gem. §§ 33, 34 SGB VIII, dass es gelingt, die Maßnahmen der KJH „krisenfester“ zu gestalten. Bereits so könnte jungen Menschen ein Wechsel des Betreuungsrahmens erspart werden. Die Fachkräfte der KJH sehen sich in der Praxis teils mit Krisen konfrontiert, in denen sie ein verbindliches Handlungsrepertoire vermissen, unsicher sind und eine Aufnahme in die KJPP anregen. Anders als der KJH steht der KJPP eine solche Weiterverweisungsmöglichkeit im Krisenfall nicht offen. Krisen gehören einerseits verstärkt zum Alltag, die KJPP muss diese andererseits aber immer mit eigenen Mitteln (ggf. durch den Zugriff auf Medikamente) bewältigen. Die AGJ regt an, die Mittel der Krisenbewältigung intraprofessionell zu hinterfragen und auf Ansatzpunkte für Kooperation zu untersuchen. Es ist zu klären, wie eine Einbeziehung in der konkreten Fallarbeit (z. B. i.S.v. Konsultationen) strukturell ermöglicht werden kann. Gleichermaßen könnte das Gespräch zwischen AGJ und KJPP aber auch Anlass für einen fallübergreifenden Qualitätsdiskurs zur Vermeidung und Bewältigung von Krisen bieten (z. B. im Rahmen einer gemeinsamen Fachveranstaltung).

6. Kosten und Finanzierung in gemischten Settings

Die AGJ hält es für notwendig, Kosten- und Finanzierungsfragen in dem gemeinsamen Gespräch nicht auszusparen. Bisher ist die Kostenverant-wortung je nach Zuordnung der Maßnahme zu dem einen oder anderen System klar definiert.

Gemischte Settings / integrierte Hilfen ggf. neue Finanzierungsregelungen im jeweiligen Sozialrecht (Kofinanzierungsmodelle) müssten vielfach erst noch geschaffen werden. Als Beispiel aus der Praxis kann die Adaptions-behandlung herangezogen werden: Im Hinblick auf gemeinsame Adressa-tinnen und Adressaten mit Suchtmittelabhängigkeit, weiß die AGJ z. B. von Vereinbarungen auf kommunaler Ebene, die die Kostenverantwortung für die ärztliche/medikamentöse Versorgung unabhängig von Einzelfall nach klar definierten Regeln teilen. So wird dem Konflikt begegnet, welcher sich häufig nach einer Entlassung aus dem Entzug der KJPP dadurch ergibt, dass die Adaptionsbehandlung durch KJPP mit Krankenkassen-Abrechnung nur geleistet wird, solange eine „regelmäßige medizinische Behandlung“ erforderlich ist. Es liegt nahe, dass die damit erforderliche Bestimmung des Zeitpunkts, wann eine regelmäßige medizinische Behandlung nicht mehr erforderlich ist und die Adaptionsbehandlung damit durch die KJH zu finanzieren ist, interessen- und konfliktbehaftet ist.
Weitere Anregungen kann die multisystemische Therapie Kinderschutz (MST-CAN) geben, bei der gemischte Leistungssettings geschaffen werden, wenn Eltern psychisch krank sind. Die Einbeziehung der Familien im medizinischen System ist Grenzen unterworfen, die durch die KJH aufgefangen werden können. Durch ein intensives aufsuchendes Therapieangebot eines interdisziplinären Teams wird versucht, die psychiatrische Symptomatik der Familienmitglieder zu verbessern und unter Einbezug des sozialen Netzwerkes die Familie zu befähigen, den Kindern ein sicheres und entwicklungsförderliches Umfeld zu bieten.
Zu diskutieren ist auch, welche Folgen sich aus einer Teilung der Kostenverantwortung auf der Entscheidungsebene ergeben. Die Regel, „wer zahlt bestimmt“, wird in dieser Reinform nicht mehr so einfach anzuwenden sein. Um Konfliktfällen vorzubeugen und auch in diesen handlungsfähig zu bleiben, braucht es eine gute Rollenklärung und Aufgabenverteilung. Diese muss an inhaltlichen Fragen und nicht Statusgesichtspunkten orientiert sein (dazu bereits unter Punkt III).
Eine interdisziplinäre Kooperation, die nur von idealtypischen Voraussetzungen ausgeht, wird sich vor diesem Hintergrund in den Brüchen zwischen Ideal und Wirklichkeit verfangen und die Probleme womöglich als mangelnden Kooperationswillen interpretieren. Die jeweiligen infrastrukturellen sowie wirtschaftlichen Ausgangssituationen sind transparent zu machen, wenn Kooperation gelingen soll. Die Zusammenarbeit könnte so perspektivisch zu einer wechselseitigen fachpolitischen Unterstützung bei Bedarfsdefinition und Planung werden. Die AGJ möchte sich im gemeinsamen Gespräch auch darüber verständigen, welche Träger die KJPP und KJH hier in der Verantwortung sehen und wie an diese herangetreten werden kann, damit sie ihre Verantwortung auch wahrnehmen.

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 17./18. September 2015

   

[1] Vgl. von Kardorff, E. Kooperation, Koordination und Vernetzung. Anmerkungen zur Schnittstellenproblematik in der psychosozialen Versorgung. In: Röhrle, B.; Sommer, G.; Nestmann, F. (Hrsg.), Netzwerkintervention. Fortschritte der Gemeinde-psychologie und Gesundheitsförderung. Bd. 2,1998, Tübingen: dgvt-Verlag, S. 203-222, 220.
[2] U. a. Gemeinsames Positionspapier der Jugendministerkonferenz (Nov. 1990) und Gesund-heitsministerkonferenz (Juni 1991) „Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie“, Jugendhilfe 1991, S. 362-366.
[3] Z. B. aus Berlin (abrufbar unter https://www.berlin.de/imperia/md/content/sen-jugend/jugendhilfeleistungen/hilfen_zur_erziehung/kooperation_psychiatrie_jugendhilfe_schule.pdf?start&ts=1401977231&file=kooperation_psychiatrie_jugendhilfe_schule.pdf ), Mecklenburg-Vorpommern (abrufbar unter http://service.mvnet.de/_php/download.php?datei_id=51859), Hamburg (abrufbar unter: http://www.hamburg.de/contentblob/117770/data/handlungsleitfaden.pdf), Saarland (abrufbar unter http://www.saarland.de/dokumente/thema_landesjugendamt/Leitfaden_Kooperation_KJH_KJPP__Nov.12.pdf), Landschaftsverband Westfalen-Lippe (abrufbar unter: http://www.lwl.org/lja-download/pdf/Arbeitshilfe_Jugendhilfe_Jugendpsychiatrie.pdf).
[4] Vgl. AGJ-Diskussionspapier „Freiheitsentziehende Maßnahmen im aktuellen Diskurs. Konequenzen für die Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung“ v. 17./18. September 2015, abrufbar unter: https://www.agj.de/menue-rechts/positionen/aktuell.html