Zusammenführende Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ zu den beiden Sitzungen der Bundes-AG „SGB VIII: Mitreden – Mitgestalten“ mit den Themen Prävention im Sozialraum und Inklusion

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Die AGJ beteiligt sich an dem breiten Beteiligungs- und Dialogprozess zur Modernisierung der Kinder- und Jugendhilfe, den das Bundesministerium für Frauen, Senioren, Familie und Jugend (BMFSFJ) initiiert hat. Zur Repräsentation der Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe entsandte sie 15 Personen zuzüglich Stellvertretungen in die Arbeitsgruppe „SGB VIII: Mitreden – Mitgestalten“. Im Vorfeld jeder Sitzung wurden thematische Arbeitspapiere des BMFSFJ versandt und unter anderem durch die sogenannte AGJ-Gesamt-AG vorabkommentiert. In der AGJ-Gesamt-AG waren sowohl die AGJ-Mitglieder und ihre Stellvertretungen der Bundes-AG „SGB VIII: Mitreden - Mitgestalten“, als auch die Mitglieder der internen AGJ-AG „Reformprozess SGB VIII“ tätig, die die seit dem Jahr 2015 die Diskussion begleitet.

Eine formell ordnungsgemäße Abstimmung der in den Bundesdialogprozess eingebrachten Positionen im Vorstand der AGJ war aufgrund der vorgegebenen engen zeitlichen Vorgaben nicht möglich. Der Vorstand der AGJ macht durch den Beschluss dieser zusammenführenden Stellungnahme jedoch im Nachgang der Bundes-AG-Sitzungen deutlich, dass die hier dargelegten Positionen solche der AGJ sind.

Am 27./28. Juni 2019 wurde eine erste zusammenführende AGJ-Stellungnahme zu den beiden Sitzungen der Bundes-AG „SGB VIII: Mitreden - Mitgestalten“ mit den Themen Kinderschutz und Fremdunterbringung vom Vorstand der AGJ verabschiedet.[1] Die hier vorliegende Stellungnahme beruht auf den AGJ-Vorabkommentierungen zum Thema „Prävention im Sozialraum stärken“ (Sitzung am 11. Juni 2019) und „Mehr Inklusion / Wirksames Hilfesystem / Weniger Schnittstellen“ (Sitzung am 17./18. September 2019). Zu ausgewählten Gesichtspunkten wird erneut zudem die Gelegenheit wahrgenommen, auf Äußerungen von Teilnehmenden der Bundes-AG „SGB VIII: Mitreden – Mitgestalten“ einzugehen. Die AGJ verbindet hiermit das Bestreben, einen stärkeren dialogischen Austausch in den Prozess einzubringen.

1. Diskussion zu „Prävention im Sozialraum stärken“

Die AGJ begrüßt das Anliegen weiter über rechtliche Veränderungsmöglichkeiten nachzudenken, die zum einen den Zugang zu präventiven, niedrigschwelligen Angeboten für schwer erreichbare Adressatengruppen (z. B. Eltern mit psychischer Belastungen oder Krankheit) verbessern, zum anderen Kommunen anhalten solche Angebote auch tatsächlich vorzuhalten. Die AGJ teilt die im Arbeitspapier des BMFSFJ deutlich gewordene Einschätzung, dass in einem erleichterten, selbstinitiierten Zugang zu im Sozial-/Lebensraum der Familien präsenten Hilfen Chancen liegen.
Dass der Austausch zu diesem Thema vergleichsweise stockend verlief, ist aus Sicht der AGJ ein Hinweis, dass entsprechende Lösungen noch nicht gefunden sind.

Grundlegende Anmerkung zum Sachverhalt / Aufbereitung des aktuellen Leistungs- und Finanzierungssystems

Sich zunächst auf eine gemeinsame Sicht des aktuellen Standes („Sachverhalt“) zu verständigen, ist sicher sinnvoll. Die in dem vorbereitenden Arbeitspapier des BMFSFJ zu dieser Sitzung gewählte Darstellung des aktuellen kinder- und jugendhilferechtlichen Leistungs- und Finanzierungssystems wählt eine Blickrichtung, die einerseits den Zugang (Wieviel Aufwand ist mit der Inanspruchnahme der Leistung verbunden? Braucht es eine Bedarfsprüfung im Einzelfall?), andererseits die zugrundeliegenden Rechtsverhältnisse (Liegt ein jugendhilferechtliches Dreiecksverhältnis zwischen Leistungsberechtigten – Jugendamt – Leistungserbringer zugrunde? Besteht ein durchsetzbarer Rechtsanspruch auf die Leistung?) besonders beleuchtet. Das ist grundsätzlich nachvollziehbar, da zum einen der niedrigschwellige Zugang als wesentliches Konstruktionselement der angestrebten präventiven Angebote im Sozialraum gesehen wird, zum anderen wirkt sich der Grad der Durchsetzbarkeit der Rechtsnormen, in denen die Leistung/das Angebot verankert ist, auf die Anwendbarkeit unterschiedlicher Finanzierungsvorgaben aus.

In der Darstellung sind dabei jedoch aus Sicht der AGJ wichtige Aspekte vernachlässigt oder an einzelnen Stellen unzutreffend wiedergegeben worden. Leider wurde während der Bundes-AG-Sitzung nicht deutlich, inwieweit diesen Ergänzungen von Seiten des BMFSFJ zugestimmt wird und damit eine gemeinsame Grundlage für die weitere Befassung mit der Thematik gewonnen ist. Dabei wird zunächst auf die Begriffe, dann die Finanzierung ambulanter Leistungen, das Vergaberecht im jugendhilferechtlichen Dreieck und schließlich europarechtliche Möglichkeiten für inhaltliche Vorgaben zur Trägerauswahl bei zweiseitigem Finanzierungsverhältnis eingegangen.

Begriffe

Die grundlegenden Begriffe „niedrigschwellig“, „präventiv“, „sozialraumorientiert“ werden im Arbeitspapier des BMFSFJ nahezu synonym verwendet. Alle drei Begriffe bezeichnen aber jeweils unterschiedliche Fachkonzepte, zudem wird jeder Begriff in unterschiedlichen disziplinären Kontexten anders gefüllt. Es ist daher durchaus verständlich, wenn im Arbeitspapier zwar Hinweise zum Verständnis gegeben werden, auf Begriffsdefinitionen aber verzichtet wird. Trotzdem kann dieses Vorgehen zu wesentlichen Unschärfen führen, durch die Diskussionen verwirrt, möglicherweise auch fehlgeleitet werden können. Aus Sicht der AGJ ist eine Klärung daher anzustreben.

Die AGJ versteht im vorliegenden Diskussionskontext die Begriffe folgendermaßen:

  • niedrigschwellig: Zugänglichkeit einer Leistung ohne Antragstellung bzw. vorherige Entscheidung über die Leistungsgewährung durch den öffentlichen Leistungsträger. Wie auch im Arbeitspapier betont wird, braucht es also insbesondere keine Bedarfsermittlung im Einzelfall, wie sie etwa im Hilfeplanverfahren (§ 36 SGB VIII) vorgesehen ist. Niedrigschwelligkeit erschöpft sich aber nicht in der Vermeidung von bürokratischen Hürden, sondern geht bspw. auch mit guter Erreichbarkeit, einem aufsuchenden Charakter oder Vermeidung von Stigmatisierungseffekten einher. Sie eröffnet Chancen der Erreichbarkeit potentieller Adressatinnen und Adressaten, ist dafür eine Voraussetzung, nicht aber eine Garantie, wie Erfahrungen im Kontext bspw. der Erziehungsberatung zeigen.
    Anders als im Gesundheitsbereich lässt der Begriff keine Rückschlüsse auf die Fachlichkeit der leistungserbringenden Stelle/Personen zu. Die Qualifikation der Fachkraft muss der Aufgabe entsprechen (vgl. § 72 SGB VIII).
  • präventiv: Zielrichtung einer Leistung darauf, eine bestehende Situation zu verbessern, Schlimmeres zu verhindern, bei der weiteren Entwicklung einer potentiellen Verschlechterung zuvorzukommen.
    Es handelt sich um eine Grundausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe, die sowohl die sogenannten Infrastruktur- und Regelangebote, als auch die Einzelfallhilfen / Hilfen zur Erziehung prägt. Die ganze Kinder- und Jugendhilfe ist in einer Kontinuität gestaltet, die von der Verstärkung und dem Anstoß positiver Entwicklungen bis hin zur Wahrnehmung des Wächteramts im Kinderschutz reicht (– wobei es selbstverständlich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen je nach Handlungs-bereich und Leistung gibt). Eine Engführung der eigenen Ausrichtung auf „Verhinderung von…“ ist abzulehnen, da eine solche Ausrichtung immer mit einem Generalverdacht gegenüber den Adressatinnen und Adressaten einhergeht. Letztlich geht es um die Gestaltung guter Bedingungen des Aufwachsens für alle Minderjährigen.
  • sozialraumorientiert: Konzeptionelle Ausrichtung, die an die Gemeinwesenarbeit anknüpft und auf dem theoretischen Konzept von sozialen Räumen sowie einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit beruht. Es handelt sich um ein Bündel nicht klar umrissener Fachkonzepte, die den Zusammenhang von sozialen Bedingungen, der räumlichen Umwelt und die sich hieraus ergebenden unterschiedlichen Lebenswelten (Lebenssituationen, Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten) aufgreifen und in Bezug zu sozialen Prozessen setzen.
    Das im Arbeitspapier erläuterte Verständnis wird geteilt, wonach ein Sozialraum ein Quartier unterhalb der Stadt- bzw. Kreisebene ist, dass über die Herstellung sozialer Bezüge und Milieus identitätsstiftend wirkt und Fokus für soziales oder politisches Handeln ist. Die deutliche Heraushebung im Arbeitspapier, dass das fachliche Konzept nicht unmittelbar mit Sozialraumbudget als Finanzierungssystem zu verbinden ist, wird begrüßt. Ergänzend sei aber deutlich hervorgehoben, dass auch intensive Einzelfallhilfen ggf. konzeptionell stark mit dem Sozialraum der jeweiligen Adressatinnen und Adressaten verknüpft sein können. Das Fachkonzept der Sozialraumorientierung findet also nicht nur bei Leistungen mit niedrigschwelligem Zugang Berücksichtigung.

Nach dem Verständnis der AGJ ist wichtigstes Kriterium für eine Weiterentwicklung der Hilfen nach dem SGB VIII die Niedrigschwelligkeit. Es bietet sich an, dies bezogen auf lebensweltliche Nahräume zu denken, das ist aber nicht zwingend. Gleichzeitig sollte eine Theoriediskussion vermieden werden, in wie weit diese Hilfen im Wortsinne präventiv sind.

Finanzierung ambulanter Leistungen (auch) über § 77 SGB VIII-Vereinbarungen

Zur Orientierung der unterschiedlichen Finanzierungsarten möchte die AGJ folgenden  Überblick anbieten:

Finanzierung von Leistungen mit direkter Inanspruchnahme

  • Allgemeine Förderung nach § 74 SGB VIII (Verwaltungsakt oder Vertrag)
  • Vereinbarungen zu zweiseitiger Finanzierung (Einzelfall oder pauschal) nach § 77 SGB VIII

Finanzierung im jugendhilferechtlichen Dreieck

  • Entgeltvereinbarungen nach § 77 SGB VIII
  • Entgeltvereinbarungen nach § 78b Abs. 2 SGB VIIII

In den Darstellungen des Arbeitspapiers des BMFSFJ wird die Finanzierung über Vereinbarungen gem. § 77 SGB VIII vernachlässigt, obwohl eben diese gerade für ambulante Leistungen und Angebote von erheblicher Bedeutung ist. Wie aus dem Katalog des §§ 78a Abs. 1 SGB VIII deutlich hervorgeht, finden die §§ 78b-78g SGB VIII nämlich auf ambulante Leistungen üblicherweise gerade keine Anwendung. Bei der Einführung der §§ 78a ff. sind neben der Familienpflege bewusst insbesondere alle ambulanten Leistungen aus dem Anwendungsbereich herausgenommen worden. Die Finanzierung von Kindertageseinrichtungen richtet sich nach Landesrecht (§ 74a SGB VIII). Begründet wurde diese Herausnahmen mit den regional unterschiedlich entwickelten Angebots- und Finanzierungsstrukturen in den Bundesländern. Gleichzeitig wurde klargestellt, dass auch hier die Finanzierung im Bereich des jugendhilferechtlichen Leistungsdreiecks über die Rechtsgrundlage des § 77 SGB VIII Anwendung findet.[2] Es wurde lediglich eine landesrechtliche Öffnungsoption in § 78a Abs. 2 SGB VIII vorgesehen. Diese hat nur in wenigen Bundesländern zu einer Erweiterung des Anwendungsbereichs geführt: Für den Bereich der Kindertagesbetreuung haben bspw. Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt [3] von dem Landesrechtsvorbehalt Gebrauch gemacht. Zur verbindlicheren Steuerung ambulanter Hilfen zur Erziehung sowie ambulanter Eingliederungshilfen wurden Rahmenverträge auf Landesebene allein in Berlin und Hamburg abgeschlossen, nur in Berlin ist das ausdrücklich unter Bezugnahme auf §§ 78a ff. SGB VIII geschehen.[4]

Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass nur für die im Katalog des § 78a Abs. 1 SGB VIII genannten (teil-)stationären Leistungen die Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsentwicklungsvereinbarungen als „die klassische Form der Finanzierung von Sozialleistungen im sog. sozialrechtlichen [bzw. jugendhilferechtlichen] Dreiecksverhältnis“ bezeichnet werden können. Für die ambulanten Leistungen können diese Vorschriften Anwendung finden, das ist jedoch bislang gesetzlich selten vorgegeben. Bei ambulanten Leistungen findet vielmehr die sehr knapp gehaltenen Vorgaben des § 77 SGB VIII Anwendung. Im Wortlaut des § 77 SGB VIII findet sich bislang keine Differenzierung danach, ob die hierüber finanzierten Leistungen im jugendhilferechtlichen Dreiecksverhältnis oder im zweiseitigen Finanzierungsverhältnis erfolgen. In letzterem ist auch gem. § 74 SGB VIII eine Förderung über Zuwendungen möglich. Findet eine unmittelbare Inanspruchnahme rechtsanspruchsgesicherter Leistungen statt, wird die Konstellation auch teils als „unvollständiges/hinkendes Dreieck“ bezeichnet, weil der im Gesetz angelegte Rechtsanspruch von den Leistungsberechtigten nicht gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe geltend gemacht und eben auch nicht über einen Leistungsbescheid/-Verwaltungsakt eingelöst wird. Bei ambulanter Hilfe zur Erziehung kann das gem. § 36a Abs. 2 SGB VIII ermöglicht werden, die Konstellation ist aber auch bei anderen rechtsanspruchsgesicherten Leistungen (etwa in §§ 17, 18 oder 8 Abs. 3 SGB VIII) denkbar.

Wie schon an diesen sehr knappen Ausführungen deutlich wird, ist eine Änderung der Finanzierungsvorgaben im SGB VIII bereits zur Herstellung von Rechtsklarheit empfehlenswert. Die AGJ spricht sich für Änderungen der Finanzierungsvorgaben aus, da die jetzigen Vorgaben eine Vielzahl unterschiedlicher, nicht immer rechtskonformer Umsetzungspraxen befördern. Die im KJSG vorgeschlagene Umstrukturierung (TOP 2 Vorschlag 3) ist hier lediglich ein erster Schritt, unter anderem fehlt in § 77 SGB VIII eine Präzisierung hinsichtlich der enthaltenen zwei Vereinbarungstypen sowie die Klarstellung, dass neben dem Entgelt auch Leistungsinhalte auszuhandeln sind (weitere Hinweise folgen zugeordnet zu dem TOPs des Arbeitspapiers). Gleichzeitig müssen Reformüberlegungen in dem Bewusstsein erfolgen, dass die Finanzierungsregelungen sowohl im empfindlicher Weise das partnerschaftliche Verhältnis von öffentlicher und freier Kinder- und Jugendhilfe berühren, aber auch in die Rechtsstellung der Leistungsberechtigten eingreifen kann. Die im vorbereitenden Arbeitspapier des BMFSFJ angedeutete fachpolitische Kritik an den KJSG-Diskussionsentwürfen vor dem Beginn des Gesetzgebungsprozesses beruhte darauf, dass diese beiden zentralen Wesenselemente der Kinder- und Jugendhilfe als massiv bedroht betrachtet wurden. Insofern werden die deutlichen Hinweise im Arbeitspapier und auch zu Beginn der Bundes-AG-Sitzung durch die Parlamentarische Staatssekretärin, Frau Marks, begrüßt, die signalisieren, dass Rechtsansprüche und Strukturprinzipien des SGB VIII gewahrt bleiben sollen. Wie dies gelingen kann, ist auch nach der Bundes-AG-Sitzung aus Sicht der AGJ unklar. Es ist nicht gelungen, die unspezifisch gehaltenen Handlungsoptionen des vorbereitenden Arbeitspapiers zu konkretisieren, so dass eine Erörterung von Lösungsvor-schlägen als verschoben gelten muss.

Keine Anwendung des Vergaberechts im jugendhilferechtlichen Dreieck

Der AGJ ist es sehr wichtig deutlich zu betonen, dass ihr kein rechtsdogmatischer Streit um die Anwendbarkeit des Vergaberechts im jugendhilferechtlichen Dreiecksverhältnis bekannt ist. In Rechtsprechung und Literatur ist geklärt, dass die Leistungserbringer durch die Leistungsberechtigten selbst ausgewählt werden und es folglich an einem öffentlich-rechtlichen Auftrag sowie einer Beschaffung von Leistungen durch den Sozialleistungsträger fehlt.

In einem AGJ-Expertenworkshop zum Vergaberecht5 wurde ein insofern fehlleitendes Zitat aus der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Wirtschaftsausschusses intensiv diskutiert.[6] Es wurde unmissverständlich festgestellt, dass nach sozialrechtlichem Verständnis – bei Abweichungen in den einzelnen Leistungsgesetzen – das Dreiecksverhältnis grundsätzlich davon geprägt ist, dass mit dem Leistungsberechtigten eine Person zu den Vertragsbeziehungen zwischen Leistungserbringer und öffentlichem Leistungsträger hinzutritt. Die Leistungsberechtigten haben einen eigenen einklagbaren Anspruch auf eine Leistung und damit einhergehend das Recht, sich den Erbringer der Leistung auszusuchen und dürfen also nicht durch den Leistungsträger einem Leistungserbringer zugewiesen werden. Damit sie tatsächlich eine Auswahl treffen können, muss das Sozialrecht Trägerpluralität gewährleisten. Zur Sicherstellung der Trägerpluralität sieht das Kinder- und Jugendhilferecht in § 78b Abs. 2 (wie übrigens auch das SGB XI in § 72 Abs. 3) einen Anspruch der Leistungserbringer auf Abschluss einer Vereinbarung bzw. auf fehlerfreie Ermessensausübung vor, wenn diese gesetzlich festgelegten Bedingungen, insbesondere Qualitätsanforderungen erfüllen und schließt damit eine selektive Auswahl eines einzelnen Anbieters und die für das Vergaberecht typische exklusive Zuschlagserteilung aus. Es handelt sich gerade nicht um ein Zulassungssystem mit selektiver Auswahl durch den öffentlichen Leistungsträger, deshalb ist die Zuordnung rechtsanspruchsgesicherter Leistungen des SGB VIII zum Vergaberecht ausgeschlossen.

Europarechtliche Möglichkeiten für inhaltliche Vorgaben zur Trägerauswahl

Umstritten ist die Anwendbarkeit des Vergabe-/Haushaltsrechts hingegen, soweit es um die Leistungen außerhalb des jugendhilferechtlichen Dreiecks geht. Die Privilegierungen ausgewählter Träger in einem zweiseitigen Finanzierungsverhältnis ruft Fragen nach der Gewährleistung von Trägervielfalt (§ 3 Abs. 1 SGB VIII), des Wunsch- und Wahlrechts (§ 5 SGB VIII) und nach Marktzugang (Art. 12 GG/Berufsausübungsfreiheit) hervor.
Überblicksartig könnte aus Sicht der AGJ der Streitstand bei den Finanzierungs-vereinbarungen nach § 77 SGB VIII im zweiseitigen Verhältnis so zusammengefasst werden, dass hier Regelungen zu Auswahlverfahren erforderlich sind. Bei der Zuwendungsförderung nach § 74 SGB VIII wird hingegen von der herrschenden Meinung abgelehnt, dass ein öffentlicher Auftrag gegeben ist, da der Zuwendung keine spezifische Gegenleistung gegenübersteht und der Zuwendungsnehmer der Gesetzeskonstruktion nach weite Gestaltungsspielraume im Rahmen ihrer gesetzlichen und satzungsgemäßen Bestimmung haben.[7] Aus der Praxis sind aber teils detaillierte Förderbedingungen bekannt, die praktisch eine Nähe zur vergaberechtlichen Auftragsbeschreibung aufweisen. Unabhängig von der rechtsdogmatischen Anwendbarkeit des Vergaberechts ist auch hier bezogen auf zu treffende Auswahlentscheidungen nachvollziehbar, wenn hierfür gesetzliche Vorgaben erwogen werden.
Der AGJ ist es an dieser Stelle wichtig darauf hinzuweisen, dass das Europarecht explizit Bereichsausnahmen für soziale Dienstleistungen zulässt, die in der Umsetzung des GWG bislang nicht ausgeschöpft sind.

Direkte, niedrigschwellige Hilfezugänge für Familien (TOP 1 des Arbeitspapiers)

Die AGJ begrüßt die in der Darstellung des Arbeitspapiers zum Handlungsbedarf und zu den Handlungsoptionen deutlich werdende Intention, insbesondere für Familien mit psychisch belasteten oder kranken Eltern die Zugangsmöglichkeiten zu Unterstützung zu erleichtern. Die AGJ teilt die Einschätzung, dass in einem erleichterten, selbstinitiierten Zugang zu im Sozial-/Lebensraum der Familien präsenten Hilfen Chancen liegen. Um diese Familien zu erreichen, liegt es im gesellschaftlichen Interesse über die unterschiedlichen Politikfelder hinweg gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen. Die im Arbeitspapier angedeuteten Möglichkeiten im SGB VIII greifen nur einen Teilbereich auf – parallel berührt die Lebensrealität dieser Familien auch die Regelungsgebiete des SGB II, III, V, IX, XI und XII.

Die ersten Handlungsvorschläge bleiben leider aber relativ unkonkret, was eine fachliche Bewertung erschwert und zu Rückfragen führt.

So ist nicht klar, wo und wie die im Arbeitspapier des BMFSFJ vorgeschlagenen objektiv-rechtliche Bekenntnisse bzw. Verpflichtungen zum Fachkonzept Sozialraum im SGB VIII erweitert werden sollen (Vorschlag 1.1 und 1.3). Unabhängig hiervon ist zudem zu konstatieren, dass gerade bei angespannter kommunaler Finanzlage solche objektiv-rechtlichen Normen keine oder nur sehr geringe Anstoßkraft entfalten. Ihre Umsetzung gilt in kommunalpolitischen Haushaltsverhandlungen gegebenenfalls als verzichtbar oder „freiwilliges Plus“. Dabei wird übersehen, dass es sich auch hier um Pflichtaufgaben handelt, bei denen das Gesetz der kommunalpolitischen Umsetzung lediglich einen größeren Handlungsspielraum eingeräumt ist.

Aus diesem Grund verspricht eine Implementierung zusätzlicher subjektiver Rechtsansprüche mehr Wirkmacht. Was aber heißt „Subjektive Rechtsansprüche im Hinblick auf die Einbindung in den Sozialraum werden geschärft.“ (Vorschlag 1.2.) konkret? Werden Zielgruppen künftig erreicht, die bislang keinen oder zu spät Zugang zum Hilfesystem gefunden haben, wird eine bestehende Dunkelziffer abgesenkt? Fraktionsübergreifend wird entsprechender politischer Handlungsbedarf gesehen.[8] Erwartungen in Richtung einer damit unmittelbar verknüpften Senkung von Kosten sind hingegen zu dämpfen. Auch wenn gehofft werden kann, dass durch das frühzeitige Aufgreifen von Problemen im Sozialraum perspektivisch weniger Einzelfallhilfen erforderlich werden, ist dieser Effekt nicht prognostizierbar und zumindest kurzfristig auch nicht erwartbar. Infrastrukturelle Leistungen dürfen nicht ausgespielt werden gegen Einzelfallhilfen und die Möglichkeit der Leistungsberechtigten, ihre Ansprüche auf Hilfe bei ungedecktem Bedarf gegenüber dem zuständigen Sozialleistungsträger geltend zu machen. Oder ist die Formulierung im Arbeitspapier des BMFSFJ sogar so zu verstehen, dass damit gar keine „zusätzlichen Aufgaben“ gemeint sind, sondern nur im Rahmen der bisherigen Aufgaben stärker Erreichbarkeit und Sozialraumorientierung als fachliche Standards beachtet werden sollen?

Soweit dies der Fall ist und eigentlich „nur“ ein bundespolitisches Hinwirken auf eine verstärkte fachliche Implementierung sozialraumorientierter Konzepte beabsichtigt ist, sind die im Arbeitspapier folgenden Vorschläge zur Jugendhilfeplanung und Gesamtverantwortung (Vorschläge 1.4 und 1.5 zu §§ 79, 80 SGB VIII, vgl. auch TOP 3) das rechtsdogmatisch richtige und wohl auch ehrlichere Mittel. Realistisch muss aber leider angenommen werden, dass in der Umsetzung die Fachpolitik dabei weiterhin auf die haushaltspolitischen Grenzen zurückgeworfen werden wird.[9]

Die AGJ begrüßt eine Regelung, die zu mehr Rechtsverbindlichkeit in Bezug auf den Ausbau der Infrastruktur für Kinder, Jugendliche und Familien (z. B. kommunale Jugendpflege, Jugendarbeit, Familienbildung, Beratung) führt. Eine inhaltliche Schärfung und die Unterlegung mit Rechtsansprüchen (Vorschlag 2) ist fachlich – wie bereits betont – grundsätzlich zu begrüßen, geht aber mit Kostenfolgen einher. In bestimmten Handlungsfeldern sind individuelle Rechtsansprüche zudem kaum sinnvoll bundesgesetzlich zu gestalten. Deshalb muss z. B. für die Jugendarbeit wohl eher in Richtung einer durchsetzbaren Höhe von Förderung gedacht werden als in Richtung von Individualansprüchen. Auch wenn das Beispiel des § 45 Abs. 2 Satz 4 AG KJHG Berlin zeigt, dass selbst eine gesetzliche Festlegung zur Förderung in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes des Haushaltsbudgets in der Praxis Gefahr läuft missachtet zu werden, ist möglicherweise eher in Richtung einer solchen Absicherung von Förderung zu denken. Zur Verbesserung der Möglichkeit von Zuwendungsfinanzierung regt die AGJ an, die bislang in § 74 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII geforderte Erbringung einer Eigenleistung seitens des jeweiligen Trägers oder zumindest durch eine Umgestaltung in § 74 Abs. 3 SGB VIII ein Absehen hiervon möglich zu machen.

Finanzierungsstrukturen (TOP 2 des Arbeitspapiers)

Über § 36a Abs. 2 SGB VIII (Vorschlag 1) besteht bereits aktuell rechtlich die Möglichkeit niedrigschwellige ambulante Infrastrukturangebote einzurichten, die ohne Bedarfsprüfung im Einzelfall bzw. ohne Hilfeplanverfahren und Bewilligung durch das Jugendamt agieren können.

Neben Beratung gem. §§ 17, 18 SGB VIII findet so insbesondere Erziehungsberatung (§ 28 SGB VIII) statt. Praxisberichte machen deutlich, dass bislang die Möglichkeit des § 36 Abs. 2 SGB VIII fast nur für die dort explizit genannten Beratungsleistungen genutzt wird. Es könnte sich als zusätzlicher gesetzlicher Anstoß auswirken, wenn auch andere ambulante Hilfeformen ausdrücklich erwähnt werden. Allerdings ist abzuwägen, welche Folgen sich daraus auf Finanzierung und Steuerung ergeben. Das Beispiel der Beratungsleistungen zeigt, dass Leistungen durchaus gemeinsam erbracht werden, denen im aktuellen Recht unterschiedliche Anspruchsnormen sowohl aus dem Bereich Hilfe zur Erziehung sowie Förderung der Erziehung in der Familie zugrunde liegen. Das erstaunt nicht, da sich die Beratungsleistungen im Kern sehr ähnlich sind. Dabei erfolgt die Finanzierung über § 74 oder § 77 SGB VIII im sog. unvollständigen/hinkenden Dreiecksverhältnis. Wenn dann bei besonders umfangreichen Beratungsprozessen ins Hilfeplanverfahren beim Jugendamt übergeleitet wird (also erst Beratung bei direktem Zugang, dann Beratung nach Bewilligung erfolgt), ist dies leicht lösbar.

Problematischer ist es hingegen, wenn dieselben Leistungen mal niedrigschwellig-selbstinitiiert und mal nach förmlicher Entscheidung des Jugendamtes begonnen werden (Mischformen). In der Praxis werden insbesondere niedrigschwellige Leistungen erprobt, die aus einer Kombination von niedrigschwelligen Beratungsleistungen (teils auch eingebettet in das Regelangebot von Kindertagesbetreuung oder angegliedert an offene Angebote der Jugendarbeit) und aufsuchenden ambulanten Leistungen bestehen, welche angelehnt sind an das Aufgabenfeld der Sozialpädagogischen Familienhilfe. In manchen Fällen werden hieraus sogar Angebote von Kurzzeit-Unterbringungen gemacht, um Entlastung und Deeskalation zu ermöglichen. Auch nach aktuellem Recht sind solche Modelle unter Trennung der anzuwendenden Finanzierungsformen für die jeweiligen parallel erbrachten Leistungen rechtskonform realisierbar.

Das vorbereitende Arbeitspapier des BMFSFJ greift den teils in der Praxis vorhandenen Wunsch nach einer gemeinsamen Pauschalfinanzierung auf (Vorschlag 2), der wiederum von anderen Teilen der Fachöffentlichkeit unter Verweis auf die Pflicht und die Möglichkeit der Trennung der Finanzierungsformen strikt abgelehnt wird. Der Diskussion hierzu würde es sicher helfen, wenn zum einen die Konstellationen solcher Mischformen von Leistung und Finanzierung differenziert aufgearbeitet werden und klarer herausgearbeitet wird, wo ein Nebeneinander der Finanzierungsformen in der Praxis an Grenzen stößt. Das ist auch in der Bundes-AG-Sitzung nicht erfolgt. Es bleibt weiter unklar: Geht es im Kern um aufsuchende Hilfen für sonst schwer erreichbare Zielgruppen, bei denen die Leistung inhaltlich mit sozialpädagogischer Familienhilfe kongruent ist, aber die mal nach direkter Inanspruchnahme über § 16 SGB VIII und mal nach Hilfeplanung über §§ 27, 31 SGB VIII finanziert wird?

Zum zweiten wäre es für die weitere Diskussion vermutlich günstig, nicht allein mit der Frage um Pauschalfinanzierungen die Diskussion um Trägervielfalt / Möglichkeiten der Trägeraus-wahl zu verbinden (vgl. dazu oben zu den europarechtlichen Möglichkeiten für inhaltliche Vorgaben zur Trägerauswahl). In der Bundes-AG-Sitzung wurde von Teilnehmenden deutlich eingebracht, dass eine rechtliche Steuerung bezogen auf alle zweiseitigen Finanzierungs-verhältnisse erörtert werden kann, aber nicht das jugendhilferechtliche Dreieck betreffen darf. Es bliebt offen, ob das BMFSFJ diese Rechtsansicht teilt.

Die AGJ unterstreicht die im vorbereitenden Arbeitspapier und ganz besonders durch die einführenden Worte von Frau Parlamentarische Staatssekretärin Marks während der Bundes-AG-Sitzung deutlich gewordene Prämisse, dass Rechtsansprüche der Leistungsberechtigten nicht beschnitten werden sollen. Leider ist es auch auf der Bundes-AG-Sitzung nicht gelungen, deutlicher herauszuarbeiten, wie Pauschalfinanzierungen diversifizierte niedrigschwellige Infrastrukturleistungen anders und besser ermöglichen als das jetzige Finanzierungsrecht und wie trotz des Vorhandenseins solch pauschalfinanzierter Angebote auch bei knapper Haushaltslage Mechanismen und Bestrebungen vorgebeugt werden kann, die eine Inanspruchnahme jenseits dieses Angebots von individuellen Leistungen im Dreieck verhindern. Kriterien müssen aus Sicht der AGJ die Bedarfsgerechtigkeit/Passgenauigkeit der Leistung im Einzelfall sowie die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme sein.

Qualitätssicherung von Sozialangeboten zur Schaffung niedrigschwelliger Hilfezu-gänge für Familien (TOP 3 des Arbeitspapiers)

Wie bereits zu den Vorschlägen 1.4 und 1.5 des TOP 1 ausgeführt wurde, erkennt die AGJ die im Arbeitspapier vorgestellten Vorschläge zur Jugendhilfeplanung und Qualitäts-entwicklung (Vorschlag 1 zu § 80 und Vorschlag 2 zu § 79a SGB VIII) an und schätzt diese so ein, dass sie auf der fachlichen Ebene nochmals Impulse zur Befassung mit dem Fachkonzept Sozialraumorientierung und erleichterten Zugängen zu Unterstützungsangeboten setzen können. Niedrigschwellige Angebote im Sozialraum bieten nicht nur Potentiale gegenüber schwer zu erreichenden Zielgruppen (wie z. B. Familien mit psychisch erkrankten Eltern), sondern bergen auch besondere Chancen für eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit den unterschiedlichsten Lebenseinflussfaktoren. Es handelt sich gleichsam um einen Umweltfaktor, über den individuelle Beeinträchtigungen bestenfalls aufgefangen werden können (vgl. dazu näher unter 2. Diskussion zu „Mehr Inklusion / Wirksames Hilfesystem / Weniger Schnittstellen“ unter TOP 2 II./III.).

Zur Erinnerung sei an dieser Stelle zudem nochmals auf die im Rahmen der Bundes-AG-Sitzung zum Thema Fremdunterbringung eingebrachte AGJ-Forderung der stärkeren Absicherung einer Beteiligung der Adressatinnen und Adressaten an den Planungsprozessen verwiesen. Partizipative Jugendhilfeplanung ist als fallübergreifendes, konzeptionelles Planungs- und Steuerungsinstrument endlich zu aktivieren.[10]

Jugendhilfeplanung ist ein wichtiger Baustein, um ein bedarfsgerechtes Portfolio der Unterstützung vorhalten zu können, das sich einerseits aus niedrigschwelligen Infrastrukturangeboten und andererseits konkreten individuellen Hilfen und Leistungen zusammensetzt, die zur Bewältigung individueller Schwierigkeiten passgenau ausgewählt werden können. Beide müssen von der Lebenswelt der Familien ausgehen, was für ihre Verankerung im Sozialraum spricht.

Wie im vorbereitenden Arbeitspapier zur Sitzung „Prävention im Sozialraum stärken“ dargestellt ist, bildet die Jugendhilfeplanung das Instrument fallübergreifender Steuerung, während im Hilfeplanverfahren (mit Bedarfsprüfung und Bewilligungsentscheidung) eine fallbezogene Steuerung erfolgt. Anders als im genannten Arbeitspapier dargestellt, erkennt die AGJ aber weder im Dreiecks-, noch im zweiseitigen Finanzierungsverhältnis bei der inhaltlichen Steuerung der Angebote eine primäre Stellung der leistungserbringenden freien Träger. Die Leistungsvereinbarungen (§§ 77, 78a ff SGB VIII) sind öffentlich-rechtliche Normenverträge und wirken, indem sie die gesetzlich beschriebenen Leistungen und deren Erbringung konkretisieren. Sie werden zwischen den Trägern der öffentlichen und freien Jugendhilfe ausgehandelt. Der örtliche Träger bestimmt u. a. über die Jugendhilfeplanung stark mit, welche Angebote vor Ort entstehen – gerade im ambulanten Bereich. Mehr Flexibilität in der Ausgestaltung ermöglicht die Zuwendungsförderung (§ 74 SGB VIII), deren Entscheidungen aber auch nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen sind und die sich in der Regel auf die Entscheidungen der Jugendhilfeplanung gründen. Aus der Praxis wird jedoch auch hier eine zunehmende Tendenz von teils sehr detaillierten Vorgaben in den Förderbedingungen berichtet, die die Handlungsoptionen der Leistungserbringer stark einschränken.

Angeregt werden soll an dieser Stelle auch den Blick nochmals über den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe hinweg zu weiten. Besonders in den sozial benachteiligten Quartieren manifestieren sich Veränderungen von Lebensumständen, die massive Konsequenzen für das Aufwachsen junger Menschen und ihrer Familien haben. Schlechte und beengte Wohnverhältnisse, Verkehr, hohe Umweltbelastungen, Armut etc. führen zu Problemen, deren Folgen in die Kinder- und Jugendhilfe hineinwirken, ohne dass sie hierfür verantwortlich ist oder adäquate Verbesserungskonzepte anbieten kann. Die Kinder- und Jugendhilfe kann sich hier allein in seismographischer Funktion in Planungs- und Entscheidungsprozesse anderer Politikfelder einbringen. Für die Entwicklung einer bedarfsgerechten Infrastruktur im Lebensraum von Familien braucht es letztlich eine integrierte (bereichs- und ressortübergreifende) Planung.[11] Für eine wirksame und nachhaltige Ausgestaltung der Angebote im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe bedarf es zudem einer verbesserten Zusammenarbeit der Rechtskreise SGB II, SGB III und SGB VIII durch eine ausdrückliche gesetzliche Verpflichtung zur Zusammenarbeit entsprechend § 81 SGB VIII (z. B. durch Änderung der §§ 18 SGB II, 9 Abs. 3 SGB III).[12]

An Lebensorte von Familien für Prävention anschließen (TOP 4 des Arbeitspapiers)

Die AGJ bittet die unglückliche Formulierung der Überschrift von TOP 4 („Lebensorte von Familien für Prävention nutzen“) nicht zu wiederholen. Auch der Kinder- und Jugendhilfe steht es nicht zu, Lebensorte „zu nutzen“ oder zu instrumentalisieren, das gebietet bereits die Achtung des Subjekts. Gemeint kann nur sein, Unterstützungsangebote lebensweltlich anschlussfähig zu gestalten.

Der Vorschlag des Arbeitspapiers der strukturellen Netzwerke zur Zusammenarbeit und Vernetzung im Bereich der Prävention je nach altersgruppenspezifischem Kontext wird begrüßt. Eine Anlehnung an § 3 Abs. 1 bis 3 KKG ist denkbar, sollte aber durch Kooperationsverpflichtungen in den jeweils entsprechenden Gesetzen parallel zu § 81 SGB VIII flankiert werden (dazu bereits Ausführungen unter TOP 03).

Wichtiger Erfolgsfaktor der Netzwerke Frühe Hilfe ist ihre solide Ausstattung. Auch im Bereich der Null- bis Dreijährigen ist eine Aufstockung des Fonds Frühe Hilfen mittlerweile notwendig.[13] Trotz des finanziellen und personellen Einsatzes ist die Weiterführung der Idee über das dritte Lebensalter im Prinzip aber zu begrüßen. Sie wird nur unter Aufbietung von Ressourcen und nicht für alle Themenfelder parallel gelingen, daher sollten kommunale Schwerpunktsetzungen zugelassen werden.

2. Diskussion zu „Mehr Inklusion / Wirksames Hilfesystem / Weniger Schnittstellen“

Spätestens während der letzten Bundes-AG-Sitzung wurde deutlich, dass das Ziel einer inklusiveren Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe für eine Vielzahl der AG-Teilnehmenden treibende Motivation für ihr Engagement im Dialogprozess war. Die dort wahrgenommene Aufbruchsstimmung enthält aus Sicht der AGJ einen Auftrag an die Politik, sich intensiv mit den offenen Fragen der Finanzierung und zum Prozess der Strukturveränderung zu befassen. Von der Ministerin und der Koalition braucht es ein deutliches Signal, dass die Umgestaltung angegangen wird und eine Gesamtzuständigkeit unter dem Dach des SGB VIII in absehbarer Zeit in Kraft treten soll.

Noch offen gefasste Ausführungen im Arbeitspapier machen zwar auch bei dieser Thematik eine weitergehende, vertiefte Diskussion erforderlich, aber diese braucht zunächst das klare politische Zeichen. Die AGJ erwartet, dass der begonnene Dialogprozess fortgesetzt wird und möglichst schon vor dem formellen Beteiligungsprozess während des Gesetzgebungs-verfahrens die angeschnittenen, teils kleinteiligen Fragen zur „inklusiven Lösung“ gemeinsam erörtert werden können.

Inklusive Ausgestaltung des SGB VIII: Auftrag, Leistungen und andere Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe inklusiv gestalten (TOP 1 des Arbeitspapiers)

I. Stärkung der grundsätzlichen inklusiven Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe

Die AGJ unterstützt das im BMFSFJ-Arbeitspapier vorangetriebene Ziel einer inklusiven Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe seit langem. Ihr war es dabei stets wichtig, dass sowohl Faktoren berücksichtigt werden, die bislang zu einer Exklusion von jungen Menschen mit Behinderung führen, als auch solche, die an anderen (bestehenden oder zugeschriebenen) individuellen Besonderheiten anknüpfen und zu Stereotypisierung und Ausgrenzung führen.[14] Für alle jungen Menschen in ihrer Vielfalt trägt Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wesentlich dazu bei, dass sie zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit heranwachsen können.

Vor diesem Hintergrund hält die AGJ die Vorschläge 1 bis 4 allerdings noch für nicht pointiert genug. Sie schlägt stattdessen die Verankerung einer Zielbestimmung in § 1 Abs. 3 SGB VIII vor, durch welche programmatisch verdeutlicht wird, dass die Kinder- und Jugendhilfe zur Verwirklichung des Rechts nach § 1 Abs. 1 ferner „insbesondere eine volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft von allen jungen Menschen fördern [soll]“. Durch eine solche Formulierung fände eine Anlehnung an die Begrifflichkeit des § 1 SGB IX und der UN-BRK statt, gleichzeitig würde aber deutlich, dass Inklusion eine Gesellschaft beschreibt, in der jeder Mensch gleichermaßen akzeptiert und Vielfalt geschätzt wird, ohne wiederum eine Teilgruppe herauszugreifen.

Diese von dem „weiten“ Inklusionsverständnis getragene Zielbestimmung sollte nach Ansicht der AGJ unterlegt werden, indem in der Vorschrift über die Grundrichtung der Erziehung und der Förderung von Gleichberechtigung (§ 9 SGB VIII) betont wird, dass bei der Ausgestaltung von Leistungen und der Erfüllung von Aufgaben die Kinder- und Jugendhilfe bei der Förderung von Teilhabe Zugänge schaffen und diese so gestalten soll, dass eine Wahrnehmbarkeit unabhängig von Diversitätskriterien entsteht. Insbesondere sind als solche Diversitätskriterien Geschlecht, Gender, Alter, Herkunft, Migrationshintergrund, Religionszugehörigkeit, sexuelle Orientierung, Bildung, soziale Lebenslage, körperliche, geistige und seelische Behinderungen konkret zu benennen.

Ferner erscheint sinnvoll, wenn auch im Allgemeinen Teil des SGB VIII entsprechend der Legaldefinition des § 2 SGB IX festgehalten ist, dass Behinderung keine Eigenschaft ist, die einer Person aufgrund ihrer Beeinträchtigungen innewohnt, sondern sich in der Teilhabebeeinträchtigung zeigt, die erst aus der Wechselwirkung ihrer körperlichen, geistigen, seelischen oder Sinnesbeeinträchtigung mit einstellungs- oder umweltbedingten Barrieren entsteht (bio-psycho-soziales Modell). Da es sich um eine Begriffsbestimmung handelt, wäre ein möglicher Ort hierfür § 7 SGB VIII. Werden innerhalb der Anspruchsnorm(en) zur Eingliederungshilfe (derzeit: § 35a SGB VIII) die Tatbestandselemente wiederholt, sollte die derzeit bestehende sprachliche Differenz zur Legaldefinition des § 2 SGB IX, die dem Behinderungsbegriff der UN-BRK folgt, dringend behoben bzw. bei einer Neuformulierung vermieden werden (zu TOP 2 Option 1 e Vorschlag 1 bzw. Option 2 a).

II. Stärkung der inklusiven Ausrichtung einzelner Aufgaben des öffentlichen Trägers der Jugendhilfe, insbesondere des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung

III. Stärkung der inklusiven Ausrichtung der Angebote der freien Träger

Die AGJ begrüßt das Anliegen, die inklusive Ausrichtung der Aufgabenwahrnehmung der Träger der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe zu stärken. In Anbetracht der in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe bisher marginalisierten Wahrnehmung der Interessen und Bedarfe junger Menschen mit Behinderung und ihrer Familien könnten entsprechende gesetzgeberische Akzentuierungen eine wichtige Weiterentwicklung anschieben. Für besonders geeignet hält die AGJ eine Regelung zur Qualitätsentwicklung (§ 79a SGB VIII / Vorschlag II.1), zur Jugendhilfeplanung (§ 80 SGB VIII / Vorschlag II.3) und im Leistungsvereinbarungsrecht (§§ 74, 77, 78a ff. SGB VIII / Vorschlag III.1).

Über die Aufnahme von Menschen mit besonderer Expertise in Bezug auf die Belange von jungen Menschen mit Behinderung in den Jugendhilfeausschuss (§ 71 SGB VIII / Vorschlag II.2) könnte eine Berücksichtigung dieser Belange in allen Erörterungen des Jugendhilfeausschusses strukturell sinnvoll abgesichert werden.[15]

Bei einer expliziten Benennung von jungen Menschen mit Behinderung auch im Zusammenhang mit den Regelungen des Kinderschutzes (Vorschläge II.4 und II.5) fürchtet die AGJ hingegen ungewollte Nebeneffekte. Es ist allgemein anerkannt, dass die Vorschriften des Kinderschutzes für alle Kinder mit und ohne Behinderung das gleiche Schutzniveau vorgeben. Das gilt bereits jetzt und daran soll auch nichts geändert werden.

Es besteht ein breiter fachlicher Konsens: Kinderschutz muss für alle Minderjährigen gleichermaßen gelten.    
Die vorgeschlagene Hervorhebung einer Adressatengruppe könnte nicht nur den (ungewollten) Effekt der Marginalisierung anderer gefährdeter Gruppen zur Folge haben, sondern zudem als (versteckt diskriminierende) Botschaft verstanden werden, bei Minderjährigen mit Behinderung und ihren Familien müsse „besonders hingeguckt“ werden. Beides gilt es zu vermeiden.    Gleichzeitig ist Regelungsbedarf deutlich geworden, da in der Praxis gerade bezogen auf den Umgang mit schweren Formen von Behinderung noch große Unsicherheit und damit Qualifizierungsbedarf besteht. Die gesetzliche Vorgabe der Beratung durch „insoweit erfahrene Fachkräfte“ (§§ 8b, 8a Abs. 2 SGB VIII, 4 KKG) impliziert zwar, dass die beratenden Fachkräfte gerade nicht nur allgemein im Kinderschutz, sondern entsprechend der konkreten Gefährdungslage erfahren sein sollen. Ein solches Angebot wird jedoch bislang nicht flächendeckend realisiert. Werden also die oben genannten Änderungen (insbesondere des § 79a SGB VIII) nicht als ausreichend bewertet, den notwendigen Qualifizierungsimpuls zu setzen, sollte eine deutlichere Normierung der erforderlichen Qualifikation der insoweit erfahrenden Fachkraft erfolgen.

Der AGJ ist es wichtig, an dieser Stelle auch nochmal auf das hohe Potential für Inklusion von niedrigschwelligen infrastrukturellen Angeboten hinzuweisen, die thematisch in vorangegangenen Bundes-AG-Sitzung diskutiert wurden. Ein entsprechendes Angebot eröffnet Chancen des Erreichens von Adressatinnen und Adressaten unter Vermeidung bürokratischer Hürden und unter Vermeidung von Stigmatisierungseffekten. Die AGJ weist darauf hin, dass die inklusive Ausgestaltung von quartiersbezogener sozialer Infrastruktur ein Gebot ist, das sich aus Art. 19 UN-BRK („gemeindenahe Dienstleistungen und Unterstützungsdiensten“) ergibt. Eine höhere Rechtsverbindlichkeit in Bezug auf den Ausbau der Infrastruktur für junge Menschen und ihre Familien (z. B. kommunale Jugendpflege, Jugendarbeit, Familienbildung, Beratung) würde fachlich begrüßt, obgleich die rechtstechnische Umsetzung auch nach den bisherigen Beratungen noch unklar geblieben ist (vgl. dazu unter 1. Diskussion zu „Prävention im Sozialraum stärken“). Veränderungen der Finanzierungsstrukturen dürfen nicht zu Lasten der Absicherung einer bedarfsgerechten/-passgenauen Hilfe über den Rechtsanspruch auf individuelle Hilfe gehen, die den Fokus des folgenden TOP II bildet.

IV. Inklusive Ausgestaltung der Kindertagesbetreuung und Kindertagespflege

Die AGJ [16] hat die im KJSG zu § 22a Abs. 4 SGB VIII vorgeschlagene Streichung des relativierenden Zusatzes zum Ziel der gemeinsamen Betreuung von Kindern mit und ohne Behinderung sowie die Aufnahme eines ausdrücklichen Auftrages zur Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von Kindern mit (drohender) Behinderung (Vorschläge IV.1 und IV.2). in die Norm begrüßt. Hieran wird festgehalten. Auch die für § 22 Abs. 2 SGB VIII vorgesehene ausdrückliche Betonung der Pflicht zur Zusammenarbeit (Vorschlag IV. 4) wird weiterhin als sinnvoll erachtet.    
Da die Vorgaben des § 22a SGB VIII nur Tageseinrichtungen betreffen, sollte erwogen werden, den Grundsatz der gemeinsamen Förderung von Kindern mit und ohne Behinderung in § 22 SGB VIII zu verschieben, um (wie nach der Überschrift im BMFSFJ-Arbeitspapier offenbar intendiert) einen stärkeren rechtlichen Anstoß auch für inklusive Kindertagespflege zu geben.

Schnittstelle für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen zwischen der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) und der Sozial-/bzw. Eingliederungshilfe (SGB XII/SGB VIII) (TOP 2 des Arbeitspapiers)

Kinder sind (mit und ohne Behinderung) nicht teilbar, ihre Erziehung und die Ermöglichung von ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft stehen zueinander in engem Bezug. Die erzieherischen Bedarfe sowie die Bedarfe wegen körperlicher oder geistiger Behinderung und wegen seelischer Behinderung sollten daher nicht isoliert betrachtet werden. Die aktuell bestehende Aufteilung auf verschiedene Leistungsträger verursacht Probleme, für die eine sogenannte alleinige Bereinigung der Schnittstellen keineswegs ausreicht (Ablehnung Option 1). Dass diese Sichtweise während der Bundes-AG-Sitzung so einhellig von den AG-Teilnehmenden geteilt wurde, war auch aus Sicht der AGJ überraschend. Selbst wenn Einzelaspekte begrüßt wurden, war ganz klar, dass die eigentliche Erwartung sich auf die „inklusive Lösung“ (Option 2) richtet.    
Geteilt wurde auch, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung in erster Linie als Kinder zu betrachten sind – und nicht in erster Linie als Menschen mit Behinderung. Die Regelung zur Zuständigkeit muss dem folgen. Nur die Kinder- und Jugendhilfe gewährleistet als Sozialleistungsträger, dass eine ganzheitliche-systemische Betrachtung der Bedarfslage des jeweiligen Minderjährigen und seiner Familie erfolgt, die hier so dringend nötig ist (Ablehnung Option 3 und 5).    
Aus Sicht der AGJ, offenbar aber auch vieler anderer Bundes-AG-Teilnehmenden ist eine entsprechende Reform zur Herstellung der Gesamtzuständigkeit unter dem Dach des AGB VIII überfällig. In einem nochmaligen Zwischenschritt der Einführung von Modellkommunen erkennt die AGJ keine sinnvolle, erkenntnisversprechende Erprobung, sondern allein den Verlust wertvoller Zeit (Ablehnung Option 4).

Die AGJ spricht sich folglich klar für die im BMFSFJ-Arbeitspapier als Option 2 benannte „Inklusive Lösung“ aus. Gemeinsam mit einem breiten fachpolitischen Bündnis hält sie die Herbeiführung einer Gesamtzuständigkeit unter dem Dach des SGB VIII für alternativlos [17] und überfällig. Das bedeutet nicht, dass es ähnlich wie beim BTHG nicht einen gestaffelten Zeitplan für das Inkrafttreten der „Inklusiven Lösung“ geben kann und vergleichbar mit dem Bundeskinderschutzgesetz der Prozess des Inkrafttretens nicht evaluiert werden sollte (näher unter n).

Die AGJ kommentiert im Folgenden deshalb nur die Vorschläge zu Option 2.

Aus Sicht der AGJ zeigen diese Vorschläge die Grundpfeiler einer „Inklusiven Lösung“ auf. In Anbetracht der Komplexität der Reform und ihrer hohen Bedeutung müssen die Details eingehend diskutiert werden, sobald ein entsprechendes politisches Zeichen für die Reform vorhanden und mit Finanzierungszusagen unterlegt ist. Die AGJ hatte teils darauf gehofft, dass schon in der Bundes-AG „SGB VIII: Mitreden – Mitgestalten“ etwa zu den Unterpunkten Anspruchsgrundlagen, Rechtsfolgen/Leistungskatalog und Hilfeplanung (a, c, d, f bis h) ungefähre Formulierungshinweise erörtert werden könnten. Die AGJ fordert die Verantwortlichen aus, während des Prozesses der Ausarbeitung der bislang beschriebenen Grundpfeiler Gelegenheit und Zeit für eine kritische Reflexion mit der beteiligten Fachwelt einzuräumen. Das Ende des aktuellen Dialogprozesses Mitreden – Mitgestalten sollte auf keinen Fall zur Folge haben, dass es zur Verkürzung von Fristen zur Stellungnahme in dem anschließenden formalen Gesetzgebungsprozess kommt.

a) Ausgestaltung der Anspruchsgrundlage im SGB VIII

Die AGJ spricht sich für die Formulierung einer gemeinsamen Anspruchsnorm aus, in der die bestehenden Anspruchsnormen Hilfe zur Erziehung (§ 27 SGB VIII) und Eingliederungshilfe (§§ 35a SGB VIII, 53f SGB XII bzw. SGB IX-2.Teil) zusammengeführt werden (Ablehnung Vorschlag 1). Sie hält dabei jedoch eine Konstruktion abweichend von den Vorschlägen 2 und 3 für zielführend.

Die Begriffe „Leistungen“ und „Hilfen“ sind in den Systemen Eingliederungshilfe sowie Kinder- und Jugendhilfe mit einem unterschiedlichen fachlichen Verständnis unterlegt, was die Ausrichtung der Unterstützung sowie das implizite Verhältnis der Leistungsberechtigten zum öffentlichen Leistungsträger betrifft. Beide haben jeweils für sich ihre Berechtigung. Da die systemische Ausrichtung, die besondere Position von Minderjährigen im Gefüge ihrer Familie und ein Bewusstsein für das asymmetrische Verhältnis während der Leistungserbringung sowie die besonderen Verständigungsprozesse sich in der Kinder- und Jugendhilfe auch im Begriff Hilfe bzw. Hilfeplanung widerspiegeln, spricht sich die AGJ für eine Beibehaltung des Begriffs „Hilfe“ im SGB VIII aus.

Die AGJ spricht sich gegen die Konstruktion mehrerer Anspruchsnormen, sondern für eine Anspruchsnorm aus, die sich aus zwei Tatbestandsalternativen zusammensetzt (erzieherischer Bedarf – behinderungsbedingter Teilhabebedarf). Beide Tatbestands-alternativen sollen zur gleichen Rechtsfolge führen: einem offenen Leistungskatalog, aus dem bedarfsentsprechend eine oder mehrere Leistungsarten ausgewählt werden können. Dabei ist sicherzustellen, dass den jungen Menschen mit einem behinderungsbedingten Teilhabebedarf neben dem Zugang zu den bisherigen Hilfen zur Erziehung jedenfalls auch der Zugang zu den Leistungen des SGB IX-Teil 1 eröffnet ist. Nach dem Verständnis der AGJ spiegelt sich der Name dieses Leistungskatalogs in der Überschrift der gemeinsamen Anspruchsnorm wider und bildet so (in den Worten des BMFSFJ-Arbeitspapiers) das zusammenführende „Dach“.

Da der Leistungskatalog sowohl den Zugang zu den Hilfen zur Erziehung sowie den Teilhabeleistungen eröffnen soll, sollte seine Benennung jedenfalls „zur Erziehung“ und „zur Teilhabe“ umfassen. Beides ist gezielt förder-/unterstützbar. Entwicklung hingegen hat einen nicht-steuerbaren Charakter. Im Fall der Aufnahme des Begriffs „zur Entwicklung“ sollte das bedacht werden. Für eine solche Aufnahme spricht aus Sicht der AGJ jedoch, dass Entwicklungsverläufe hin zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit eben die zentrale Zielbestimmung (§ 1 SGB VIII) darstellen. Für alle jungen Menschen in ihrer Vielfalt trägt sowohl Erziehung wie auch Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wesentlich dazu bei, dass sie zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit heranwachsen können. Das macht einen Dreiklang aus „Entwicklung, Teilhabe und Erziehung“ oder (eher) „Entwicklung, Erziehung und Teilhabe“ schlüssig.

Die genaue Formulierung der Anspruchsnorm wird weiteren Erörterungsbedarf nach sich ziehen. Bereits jetzt lässt sich hervorheben, dass beide Tatbestandsalternativen sowohl kumulativ als auch alternativ zu einer Auslösung der Rechtsfolge führen sollten.

b) Wesentlichkeit als Anspruchsvoraussetzung

Die AGJ hat sich gegen die Aufnahme des sogenannten Wesentlichkeitskritieriums ausgesprochen (Vorschlag 1). Dieses widerspricht zum einen dem Präventionsparadigma, das früh und auch bei drohender Behinderung ein Recht auf Hilfe fordert, zum anderen passt es nicht zu den dynamischen Entwicklungsverläufen Minderjähriger.

c) Anspruchsinhaber

Die AGJ spricht sich entschieden für eine Anspruchsinhaberschaft der Kinder und Jugendlichen sowie spiegelbildlich der Personensorgeberechtigten aus (c Vorschlag 3). Nur so wird zum einen die eigenständige Rechtsposition / Berechtigung auf Grund von Bedarfslagen der jungen Menschen sichtbar gemacht und kann zum anderen auch die Rechtsposition der Eltern und ihren Unterstützungsbedarfen Rechnung getragen werden. So kann zudem wiederum ein deutliches gesetzgeberisches Zeichen für die systemische Ausrichtung gesetzt werden.

Auch diesbezüglich wird die genaue Formulierung der Anspruchsnorm weiteren Erörterungsbedarf nach sich ziehen (Zusammenhang mit a).

d) Leistungskatalog

Auf die Ausführungen zum Leistungskatalog unter a) wird verwiesen. Entsprechend dem Vorschlag 3 spricht sich die AGJ also für einen einheitlichen, offenen Leistungskatalog aus, aus dem bedarfsentsprechend eine oder mehrere Leistungsarten ausgewählt werden können. Inhaltlich soll der Leistungskatalog sowohl den Zugang zu den Hilfen zur Erziehung als auch zu den Teilhabeleistungen eröffnen. Es ist sicherzustellen, dass den jungen Menschen mit einem behinderungsbedingten Teilhabebedarf neben dem Zugang zu den bisherigen Hilfen zur Erziehung jedenfalls auch der Zugang zu den Leistungen des SGB IX-Teil 1 eröffnet ist.

Die AGJ spricht sich entschieden dafür aus, systematisch zu berücksichtigen, dass das SGB IX-2. Teil ein Leistungsgesetz ist. Es sollte nicht vom Leistungsgesetz SGB VIII ins Leistungsgesetz SGB IX-2. Teil verwiesen werden, hingegen ist zu gewährleisten, dass der Zugang zu den Teilhabeleistungen der Kapitel 9, 10, 12 und 13 des SGB IX-1. Teil eröffnet wird. Für junge Menschen mit Behinderung dürfen durch die Herstellung der Gesamtzuständigkeit keine Leistungen verloren gehen.

Um Praxisentwicklung aufzugreifen und anzuregen, spricht sich die AGJ ferner für eine konkrete Benennung von Leistungsarten zur Unterstützung von Minderjährigen mit Behinderung und ihren Familien aus.    
Dabei könnte eine Durchsicht der Kapitel 3 bis 6 SGB IX-2. Teil anregend für die Verfassung des Katalogs im SGB VIII sein, wie dort wäre dann auf das SGB IX-1. Teil zu verweisen.
Eine Aufnahme von Schulbegleitung in den Katalog ist je nach dessen Ausgestaltung zu erwägen und dabei auch der Zugriff auf diese Teilhabeleistung bei erzieherischem Bedarf zu diskutieren (vgl. auch Top 3 II Vorschlag 2 und 4). Aus Sicht der AGJ spricht viel dafür, auch Teilhabeleistungen für Kinder und Jugendliche ohne Behinderung zu diskutieren, obgleich für sie nicht die Vorgaben des SGB IX gelten.    

Sie hält zudem eine ausdrückliche Benennung im Katalog von Leistungen mit sogenanntem Drittbezug für sinnvoll, also z. B. Familienunterstützende Dienste zur Entlastung der Eltern oder Angebote für Geschwister.
Die konkrete Ausformung des Leistungskatalogs ist weiter zu diskutieren, dabei wird es nicht nur um die zu benennenden Leistungsarten gehen, sondern auch um das Verhältnis der Leistungsarten zueinander bzw. die Verschränkbarkeit mehrerer Leistungsarten bei entsprechendem Bedarf / sogenannte „Doppelhilfen“ (Zusammenhang mit f).

e) Persönliches Budget

Die AGJ spricht sich dafür aus, die Möglichkeit des persönlichen Budgets ausdrücklich im SGB VIII für Kinder und Jugendliche mit Behinderung zu verankern (Anknüpfung an Vorschlag 1). Dieses legislative Zeichen wäre gerade vor dem Hintergrund uneinheitlicher Rechtsprechung wichtig, die teils pauschal die Anwendung des persönlichen Budgets für die Kinder- und Jugendhilfe ablehnt.

Als sehr interessant wurde von der AGJ die Diskussion während der Bundes-AG-Sitzung wahrgenommen, ob in der Möglichkeit des Persönlichen Budgets auch Potentiale für eine Stärkung der Selbstbestimmung der Adressatinnen und Adressaten von Hilfen zur Erziehung stecken. Die Leistung in Form von Geldzahlungen könnten sogar aktivierend wirken. Allerdings wäre die mit dem Persönlichen Budget erreichte weitgehende Unabhängigkeit vom Leistungsträger gerade in Fällen mit Kinderschutzkontext kontraindiziert. Hier braucht es dringend die enge Anbindung an die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, damit deren Kontrollauftrag im Rahmen des Wächteramts greifen kann. Ein Rechtsanspruch auf Persönliches Budget scheidet hier folglich aus.

f) Hilfeplanung

Die AGJ spricht sich für eine Weiterentwicklung der Vorgaben zur Hilfeplanung aus (Vorschlag 2). Die Ausführungen im Arbeitspapier erlauben hier allerdings noch keine vertiefte Einschätzung. Die künftigen Vorgaben zur Hilfeplanung bilden neben der Anspruchsnorm das Herzstück der Reform, sie verdienen aufgrund ihrer Bedeutung besondere Aufmerksamkeit und Abwägung.

Die Hilfeplanung dient einerseits der Klärung von Bedarfen und daraus resultierender Rechtsansprüche, sie ist damit grundlegend für den Rechtswirkung entfaltenden Erlass von Bewilligungsbescheiden. Die Hilfeplanung ist aber andererseits auch selbst sozialpäda-gogisches Geschehen, ein Prozess, in dem ein gemeinsames Verständnis über die Problemlage und den jeweiligen Bedarf generiert und die Basis für eine Zusammenarbeit entwickelt wird. Beide Ebenen sind zu berücksichtigen.

Die für das Hilfeplanverfahren (§§ 36 bis 40 SGB VIII) prägenden Prinzipien der Fachlichkeit, Beteiligung, Transparenz, Prozesshaftigkeit, wertschätzende Ressourcenorientierung mit dem Ziel einer bedarfsgerechten Gewährung von Hilfen sollen fortgelten. Sie prägen auch das reformierte Teilhabeplanverfahren (§§ 19 bis 24 SGB IX-1. Teil) sowie das Gesamtplanverfahren (§ 142 SGB XII bzw. § 118 SGB IX-2. Teil). Die im Vorschlag 2 aufgeworfenen Zielperspektiven werden von der AGJ geteilt, gleichzeitig warnt diese jedoch vor einer Überregulierung und Formalisierung des Hilfeplanverfahrens.    
Der Hilfeplan dokumentiert das Ergebnis des Verständigungsprozesses und ist in seiner Form als nicht-zusammenfassendes, sondern stetig fortzuschreibendes Dokument zu erhalten. Rechtsdogmatisch besteht hier ein Unterschied auch zum Gesamtplan, der aber auch weitergeführt werden sollte. Würde der Hilfeplan zur Nebenbestimmung des Leistungsbescheids erklärt, würde dies seine Funktion ändern und die Beteiligungs- sowie Verständigungsprozesse in der Hilfeplanung belasten.

Das Anliegen über Verfahrensregeln auf die Einhaltung der o. g. Prinzipien und eine Absicherung der Rechte der betroffenen jungen Menschen und ihrer Familien hinzuwirken, spricht für die Aufnahme konkreter Vorgaben (z. B. einer § 106 SGB IX entsprechenden Regelung). Es besteht jedoch ein Spannungsverhältnis zur Achtung des spezifischen sozialpädagogischen Verständigungsprozesses, dem starre Vorgaben zuwiderlaufen, die in ein schematisches Abarbeiten münden können. Hier gilt es die richtige Balance zu finden. Genauere Bewertungen lassen sich erst an konkreten Regelungsvorschlägen diskutieren. Hier wird insbesondere auch zu hinterfragen sein, ob über die Festlegung eines Auswahlermessens in das Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen reguliert wird.

Die AGJ hat sich im Verlauf des Bundes-Dialogprozesses „Mitreden – Mitgestalten“ bereits im Zusammenhang mit dem Anliegen der Stärkung der Beteiligungsrechte beim Thema „Fremdunterbringung“ dafür ausgesprochen, auf eine Vorschrift mit Ausstrahlungswirkung hinzuarbeiten, die darauf verzichtet, zu kleinteilig zu sein und vermeintlich chronologisch Beteiligungsaspekte als Verfahrensnorm durchzuregulieren.[18] Eine Konkretisierung des § 36 SGB VIII sollte eine Verdeutlichung der methodischen und fachlichen Aufgaben im Hilfeplanverfahren gegenüber der Praxis anstreben, etwa durch eine pointierte Aussage, dass die Adressatinnen und Adressaten in den Prozess jeder Entscheidungsfindung fortlaufend einzubeziehen sind. Es muss deutlicher als bisher werden, dass neben der kooperativen Ausgestaltung der Hilfen auch auf fachliche Verfahren und Standards zur Beteiligung bei der Ermittlung des Hilfebedarfs hinzuwirken ist – sowohl zu Beginn als auch bei der Fortentwicklung im Hilfeverlauf.    
Wichtig ist der AGJ, dass die Hilfeplanung ihren Charakter als Instrument der Beteiligung und Stärkung der Selbstbestimmung beim Leistungsbezug beibehält.

g) Instrumente zur Unterstützung des Aushandlungsprozesses zur Erstellung des Hilfeplans

Die AGJ schließt sich dem Vorschlag 1 an. Sie hat hohen Respekt für die im Gesetz-gebungsverfahren des BTHG errungenen Verfahrensvorgaben, die darauf abzielen auch die Bedarfsermittlung für die Betroffenen rechtssicherer zu gestalten. Sie spricht sich daher für eine Anwendung von in Orientierung an der ICF-CY entwickelten Instrumenten zur Bedarfsermittlung für junge Menschen mit Behinderung aus.

Die AGJ warnt jedoch davor, stets eine „umfassende Klärung der Lebens-, Entwicklungs- und Erziehungssituation“ vorzugeben.    
Zum einen kann der Eindeutigkeitserwartung einer „umfassenden Klärung“ per se nicht gerecht gekommen werden: Bei der Betrachtung einer sozialen Bedarfslage besteht stets die Herausforderung, dass soziale Tatsachen und Entwicklungen sich abhängig von der Perspektive des oder der Betrachtenden, vom Kontext und von der aktuellen Situation, sehr unterschiedlich ausnehmen. Akteure in der Kinder- und Jugendhilfe sind nicht nur mit der unausweichlichen Begrenztheit ihrer Kenntnis aller jener Umstände konfrontiert, die auf die Lebenswirklichkeit des betreffenden jungen Menschen und seiner Bezugspersonen einwirken. Dazu kommt, dass ihre Entscheidungen häufig auf Hypothesen und Prognosen beruhen. Die Unsicherheit von Prognosen, die auf begrenzten und oft nicht gesicherten Wahrnehmungen gründen, vervielfältigt das Problem. Die Antizipation zukünftiger sozialer Situationen ist von Unwägbarkeiten geprägt. Fachkräften ist präsent, dass ihre Bilder von der Lebenswirklichkeit der Adressatinnen und Adressaten und ihre prognostischen Überlegungen fluide, prozesshaft sind und auf Interpretation und Verstehensleistung angewiesen bleiben. Die hohe Bedeutung des Verständigungsprozesses mit den Betroffenen erklärt sich auch aus diesem Bewusstsein heraus.[19] 
Zum anderen muss für die Leistungsberechtigten die Möglichkeit bestehen, selbstbestimmt ihren Antrag auf Unterstützung einzuschränken. Haben sie nur ein bestimmtes, begrenztes Begehren, muss auch die Bedarfsermittlung keineswegs umfassend erfolgen. Unterhalb der Grenze der Kindeswohlgefährdung besteht für die Leistungsberechtigten die Option, Unterstützungsmöglichkeiten trotz bestehenden Anspruchs abzulehnen. Der Auftrag des öffentlichen Leistungsträgers begrenzt sich bei bestehenden Anhaltspunkten für einen weiterreichenden Hilfebedarf darauf, sie über entsprechend weiterreichenden Unterstützungsmöglichkeiten aufzuklären und ihnen diese aus dem Präventionsparadigma heraus anzubieten. Das Selbstbestimmungsrecht der Berechtigten führt aber dazu, dass ihre Entscheidung zu akzeptieren ist. Dann sollte das Recht auch keine umfassende Bedarfsermittlung vorgeben.    
Beispiel: Eine Familie begehrt für ihr Kind mit Behinderung Assistenzleistungen für Schule und Freizeitbereich. Wenn im Hilfeplangespräch deutlich wird, dass zwischen den Eltern zudem ein Paarkonflikt schwelt, ist zwar auf entsprechende Unterstützungsangebote der Kinder- und Jugendhilfe hinzuweisen. Äußern sich die Eltern jedoch dahingehend, dass sie den Konflikt alleine klären wollen, ist das zu akzeptieren und eine beschränkte Bedarfsermittlung (bezogen auf die begehrte Teilhabeleistung) durchzuführen. Wenn sich Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung ergeben, ist ins Kinderschutzverfahren überzugehen.

h) Wunsch- und Wahlrecht

Die AGJ spricht sich für einen Bestand der Vorgaben des § 5 SGB VIII aus. Sie hat hohen Respekt für die im Gesetzgebungsverfahren des BTHG errungenen Verfahrensvorgaben, zu denen auch die besondere Würdigung der gewünschten Wohnform in § 104 SGB IX-2020 gehört. Da diese zwar selten, aber doch auch im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe Bedeutung entfalten kann, begrüßt die AGJ Vorschlag 2.

i) Früherkennung und Frühförderung

Die Regelungen zur Früherkennung und Frühförderung sind ein sorgfältig abgewogenes und mühsam zwischen den beteiligten Sozialleistungssystemen erstrittenes Sonderregime, das in seiner Form bewahrt bleiben soll. Als Folge der Option 2 / „Inklusiven Lösung“ soll die Kinder- und Jugendhilfe lediglich an die Stelle der Eingliederungshilfe als zuständiger Träger auch für Kinder mit körperlicher und geistiger Behinderung treten. Das wird aus Sicht der AGJ am sichersten gewährleistet, indem die Vorgaben des SGB IX so bewahrt bleiben und auf sie verwiesen wird (Vorschlag 2).

j) Übergang in die Eingliederungshilfe

Die AGJ hat sich verschiedentlich für eine verbindliche Altersgrenze von 21 Jahren für junge Menschen mit Behinderung hinsichtlich des regulären Übergangs in das Erwachsenen-system der Eingliederungshilfe ausgesprochen.    
Daneben sollte es aus Sicht der AGJ für junge Menschen mit Behinderung aber auch die Zugangsmöglichkeit zur Hilfe für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII) geben, wenn sie einen Verselbständigungsbedarf haben und prognostiziert wird, dass sie nicht dauerhaft auf Hilfen der Eingliederungshilfe angewiesen sein werden.    
Bezogen auf die Hilfe für junge Volljährige hat die AGJ bereits in den Dialogprozess eingebracht, dass der Regelrechtsanspruch des § 41 SGB VIII für die Altersgruppe von 18 bis 23 in einen zwingenden individuellen Rechtsanspruch bei entsprechendem Bedarf der jungen Volljährigen umgestaltet wird. Die Fortsetzungsoption in begründeten Einzelfällen des § 41 Abs. 1 S. 2 Halbs. 2 SGB VIII ist zu bewahren und durch eine Coming back-Option für Care Leaver zu ergänzen.    
Diese Vorstellungen gehen am ehesten in Richtung von Vorschlag 3 des Arbeitspapiers, sind aber nicht deckungsgleich.

Im Hinblick auf die Übergangsplanung, zu der sich im Arbeitspapier unter Option 1 d Vorschlag 2 konkretere Ausführungen finden, verweist die AGJ auf die bereits zum KJSG ausgesprochene Kritik. Das Ziel einer Übergangsplanung (keineswegs: -management) ist an sich begrüßenswert. Es birgt jedoch die Gefahr, bestehende Vollzugsdefizite zu § 41 SGB VIII und einen verfrühten Rückzug aus der Verantwortung der Kinder- und Jugendhilfe zu verstärken. Eine „federführende Rolle“ im Sinne einer Entscheidungshoheit lässt sich im gegliederten Sozialleistungssystem mit eigenen Prüfhoheiten der Träger nicht einrichten, insofern kommt nur ein allseits verpflichtender kooperativer Verwaltungsprozess in Betracht. Da das Teilhabeplanverfahren (§§ 19-23 SGB IX_1. Teil) vom Gesetzgeber über das BTHG mit dem Ziel der Koordination mehrerer Reha-Träger nochmals verbindlicher gestaltet wurde, erscheint eine Anlehnung an dessen Regelungen sinnvoll. Die Regelungen selbst greifen zwischen mehreren gleichzeitig leistungspflichtigen Reha-Trägern, während es hier um eine zeitlich aufeinander folgende Leistungspflicht geht. Folglich besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf.    
Auf die von der AGJ bereits in den Bundes-Dialogprozess „Mitreden – Mitgestalten“ eingebrachten Ausführungen zur Übergangsgestaltung, zum Unterstützungsbedarf im Erwachsenenalter und zu Leaving-Care-Anspruch wird verwiesen.[20] Sie sind auch für jungen Menschen mit Behinderung von Relevanz.

Ebenfalls erneut einbringen möchte die AGJ an dieser Stelle die hohe Bedeutung, die das Leistungsvereinbarungsrecht für eine kontinuierliche Bedarfsdeckung über Systemwechsel hinaus entfalten kann. Die teilweise dramatisch niedrigeren Leistungsentgelte in der Eingliederungshilfe lassen eine qualitativ-gleichrangige Fortführung bislang bestehender Leistungsinhalte kaum zu und führen zu gravierenden Standardabsenkungen bei der Leistungserbringung. Eine Weitergeltung von in Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe abgeschlossenen (Qualitäts-, Leistungs- und Entgelt-)Vereinbarungen würde dem entgegenwirken.[21]

k) Schnittstelle zur Pflege

Die AGJ stimmt der Annahme zu, dass die Zusammenarbeit mit den Pflegekassen zu regeln ist. Dabei geht es einerseits um die Einbeziehung i. S. d. § 13 Abs. 4a SGB XI. Zu beachten ist zudem, dass der öffentliche Träger der Eingliederungshilfe nach Vereinbarung mit der Pflegekasse Leistungen übernehmen kann, die Hilfe zur Pflege umfassen. Im BTHG-Verfahren errungene Standards zur Regulierung der Schnittstelle von Pflege und Eingliederungshilfe sind auf die (noch wenig beachtete) Schnittstelle zur Kinder- und Jugendhilfe zu übertragen. Die Schnittstelle zur Pflege ist bislang in AGJ-Kontexten aber kaum diskutiert worden, so dass weitere Hinweis an dieser Stelle nicht erfolgen können.

l) Kostenheranziehung

Die AGJ begrüßt den Vorschlag 1. Sie hält es für richtig, eine einheitliche Kostenheran-ziehung vorzusehen, ambulante Leistungen kostenfrei zu gestalten und bei teil-/stationären Leistungen darauf zu achten, dass es zu keiner Verschlechterung zur bisherigen Kostenheranziehung für die Familien kommt.
In Erinnerung soll an dieser Stelle gebracht werden, dass sich die AGJ in dem Bundes-Dialogprozess „Mitreden – Mitgestalten“ im Hinblick auf die Kostenheranziehung junger Menschen bereits für eine vollständige Kostenbefreiung ausgesprochen hat. Die im sogenannten BTHG-Korrekturgesetz aktuell zudem vorgeschlagene Änderung, wonach bei der Berechnung statt des entsprechenden Monats im Vorjahr der aktuelle Monat herangezogen werden soll, ginge aus Sicht der AGJ zum Nachteil der jungen Menschen und zöge wiederum eine Erhöhung des Verwaltungsaufwandes mit sich.[22]

m) Gerichtsbarkeit

Die AGJ sieht sich weiterhin nicht in der Lage eine Empfehlung zur Gerichtsbarkeit abzugeben. Pro- und Contra-Argumente für ein Belassen der Zuständigkeit bei den Verwaltungsgerichten oder eine Verschiebung zu den Sozialgerichten sind noch zusammenzutragen und abzuwägen.

n) Umsetzung

Die AGJ spricht sich für eine Übergangszeit von 5 Jahren aus (Vorschlag 1). Ein längerer Übergang verspricht keinen Gewinn bei der verwaltungsorganisatorischen Umsetzung, sondern lässt ein verzögertes Angehen der zu bewältigenden Herausforderungen befürchten. Es sollten unbedingt schrittweise Umsetzungsschritte vorgegeben werden bzw. Anreize und bundesseitige Unterstützung für ein planvolles, gestuftes Vorgehen gesetzt werden. Nur an dieser Stelle – nicht aber als politische Vertagung der Inklusiven Lösung – kann über Modellkommunen nachgedacht werden (anders Option 4). Eine Evaluation ist vorzusehen.

Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII an der Schnittstelle zur Schule (TOP 3 des Arbeitspapiers)

I. Leistungen bei Teilleistungsstörungen

Die AGJ begrüßt das deutliche Aufgreifen der Schnittstelle zur Schule im Dialogprozess. Die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch Eingliederungshilfe erlebt sich an dieser als Ausfallbürge einer nicht hinreichenden Umsetzung des Auftrags einer inklusiven Beschulung durch die Schulen. Ein Aspekt, der dabei zu Spannungen führt, ist der Umgang mit Teilleistungsstörungen ohne Teilhabebeeinträchtigung. Diese sind zwar diagnostizierbar, aber führen zu keinem Leistungsanspruch z. B. auf Schulbegleitung (Fehlen der Voraussetzung nach § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII). Weder aus den Ausführungen im Arbeitspapier noch in der Bundes-AG-Sitzung ist jedoch deutlich geworden, welche Ansatzpunkte das BMFSFJ in der Beratung der betroffenen Minderjährigen und ihrer Eltern sieht, um dieser Problematik Abhilfe zu verschaffen. Denn die zuvor im Arbeitspapier erfolgte Darstellung der Rechtsprechung und Literatur ist aus Sicht der AGJ richtig und lässt kaum Handlungsraum: Wozu sollen sie beraten werden? Auch die AGJ vertritt die Position, dass insbesondere auf die Handlungspflicht des Systems Schule zu verweisen ist. Das System Jugendhilfe kann (und muss zudem aber auch) wiederum im Sinne des präventiven Ansatzes Schulbegleitung o. ä. bei Teilleistungsstörungen bewilligen, soweit eine seelische Behinderung droht, auch wenn die Teilhabebeeinträchtigung (noch) nicht vorliegt.

II. Schulbegleitung

Die AGJ hat sich bereits früher dahingehend in die Debatte um Schulbegleitung eingebracht, indem sie betonte, dass Schulbegleitung kein Ersatz für ein inklusives Schulsystem sein kann.[23]

Eine zusätzliche Regelung in § 36 SGB VIII über die Zusammenarbeit mit der Schule in der Hilfeplanung hält sie nicht für zwingend erforderlich (vgl. auch § 22 SGB IX), aber möglich (Vorschlag 1).    
Auch ist eine Aufnahme von Schulbegleitung in den offenen Leistungskatalog zu erwägen und eine Öffnung als Rechtsfolge bei erzieherischem Bedarf zu diskutieren (Vorschlag 2 und 4, vgl. auch TOP 2 Option 2 d). Zu vermeiden ist eine Engführung der Assistenzleistungen auf den Bereich der Schule („Schul“Begleitung / Leistungen zur Teilhabe an Bildung). Es muss vielmehr deutlich werden, dass auch Unterstützung am Nachmittag bzw. in den Ferien („Freizeit“Begleitung / Leistungen zur sozialen Teilhabe) vom Katalog erfasst werden.    
Die Möglichkeit der gemeinsamen Erbringung von Leistungen zur Schulbegleitung („Pooling“) hält die AGJ für sinnvoll (Vorschlag 3). Dabei geht es ihr jedoch weniger um die in § 112 Abs. 4 SGB IX-2. Teil explizit ermöglichte Leistungsgewährung einer Schulbegleitung als Individualhilfe an mehrere Leistungsberechtigte zusammen, sondern vor allem um strukturelle Lösungen der Gestaltung von Inklusion an Schule. Bereits jetzt wird in Kommunen rechtkonform als Infrastrukturangebot der Einsatz eines freien Trägers der Kinder- und Jugendhilfe an Schule ermöglicht, der gemeinsam mit der Schule den Lebensort dort inklusiv gestaltet.
Die Erarbeitung von gemeinsamen Empfehlungen (Vorschläge 4, 5, 8) erscheint ebenfalls sinnvoll. Die Umsetzung der „Inklusiven Lösung“ (Vorschlag 7, TOP 2 Option 2) ist für die AGJ alternativlos.

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 12./13. Dezember 2019


Fußnoten

[1] Online abrufbar unter:    
https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2019/Kinderschutz_Fremdunterbringung.pdf
[2] BT-Drs. 13/ 10330, 17.
[3] § 16 KiFöG MV, § 11a KiFöG SA.
[4] § 49 Abs. 3 AG KJHG Berlin i. V. m. 2.2 BRV Jug.
[5] AGJ-Expertenworkshop „Vergaberecht in der Kinder- und Jugendhilfe?!“ am 18.4.2016, Ergebnisse online abrufbar unter: https://www.agj.de/sonstige-seiten/sgb-viii/artikel/na/detail/News/agj-expertenworkshop-vergaberecht-in-der-kinder-und-jugendhilfe-am-18-april-2016.html
[6] „Auch im sogenannten ‚sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis‘ kann je nach Fallkonstellation eine reine Zulassung von Dienstleistungen ohne Beschaffungscharakter vorliegen, die nicht dem Vergaberecht unterfallen, oder ein öffentlicher Auftrag, der eine Anwendung des Vergaberechts notwendig macht. Eine pauschale Ausnahme für Leistungen im ‚sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis‘ vom Vergaberecht ist europarechtlich weder möglich noch in der Sache gerechtfertigt.“ (BT-Drs. 18/7086, S. 13).
[7] Unter anderem OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.7.2018 – VII-Verg 1/18.
[8] BT-Beschluss „Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern“ v. 22.6.2017, BT-Drs. 18/12780.
[9] AGJ-Positionspapier „Die Förderung von Infrastrukturleistungen in der Kinder- und Jugendhilfe stärken“ v. 28./29.11.2013, online abrufbar: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2012/Foerderung_Infrastrukturleistungen__2_.pdf
[10] AGJ-Diskussionspapier „Jugendhilfeplanung aktivieren!“ v. 26./27.2.2012, online abrufbar unter: https://agj.de/fileadmin/files/positionen/2012/Jugendhilfeplanung.pdf
[11] AGJ-Diskussionspapier „Familienunterstützung in der Lebenswelt von jungen Menschen und ihren Familien – Hilfen zur Erziehung als Bestandteil einer ganzheitlichen Infrastruktur“ v. 6./7.12.2018, online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2018/Familienunterst%C3%BCtzung_in_der_Lebenswelt.pdf
[12] AGJ-Positionspapier „Jugendliche und junge Erwachsene brauchen ganzheitliche Förderung und Unterstützung auf dem Weg in den Beruf –Anforderungen an wirksame und nachhaltige Jugendberufsagenturen“ vom 25./26.6.2015, online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2015/Jugendberufsagenturen.pdf
[13] JFMK-Beschluss „TOP 5.5 Fonds Frühe Hilfen – Anpassung der Finanzmittel“ vom 3./4.5.2018, online abrufbar unter: https://jfmk.de/wp-content/uploads/2018/12/a-JFMK-03._04.-Mai-2018_Protokoll-mit-Anlagen.pdf
[14] Vor diesem Hintergrund sollen insbesondere folgende AGJ-Papiere genannt werden:

  • 2011: Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen;
  • 2012: Auf dem Weg zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe;
  • 2013: Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen;
  • 2016: Vielfalt gestalten, Rechte für alle Kinder und Jugendlichen stärken!;
  • 2018: Teilhabe: ein zentraler Begriff für die Kinder- und Jugendhilfe und für eine offene und freie Gesellschaft;
  • 2019: Inklusion in der Jugendarbeit. 10 Jahre UN-BRK – ein Blick auf die Entwicklungen in der und Erwartungen an die Jugendarbeit.

[15] So auch erste zusammenführende AGJ-Stellungnahme 2019 zur Bundes-AG „SGB VIII: Mitreden – Mitgestalten“ mit den Themen Kinderschutz und Fremdunterbringungen, S. 9.
[16] AGJ-Stellungnahme 2017 „Der erste Entwurf – ein Minimalkonsens?“, S. 4 – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2016/AGJ-StN-RefE-KJSG_NEU.pdf
[17] Appell 2019 „Exklusion beenden: Kinder? und Jugendhilfe für alle jungen Menschen und ihre Familien!“ – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/pressemeldungen/Appell_Jugendhilfe_f%C3%BCr_alle_August_2019_final.pdf
[18] Unter anderem erste zusammenführende AGJ-Stellungnahme 2019 zur Bundes-AG, S. 13.
[19] Ausführlicher: AGJ-Positionspapier 2018 „Recht wird Wirklichkeit – von den Wechselwirkungen zwischen Sozialer Arbeit und Recht“ – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2018/Recht_wird_Wirklichkeit.pdf
[20] Unter anderem erste zusammenführende AGJ-Stellungnahme 2019 zur Bundes-AG, S. 17 – 20.
[21] Vergleiche bereits Ausführung zu Pflegefamilien von Kindern mit Behinderung in erster zusammenführende AGJ-Stellungnahme 2019, S. 17.
[22] Unter anderem erste zusammenführende AGJ-Stellungnahme 2019 zur Bundes-AG, S. 18.
[23] AGJ-Diskussionspapier 2013 „Schulbegleitung allein kann kein inklusives Schulsystem gewährleisten“ – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2012/Schulbegleitung.pdf