Kinder von psychisch erkrankten und suchtkranken Eltern

Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ

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Einleitung

Kinder und Jugendliche, die in Familien mit psychisch erkrankten oder suchtkranken Eltern aufwachsen, sind in vielfältiger Weise durch die elterliche Erkrankung betroffen. Das Aufwachsen mit einem psychisch erkrankten oder suchtkranken Elternteil stellt für die Kinder ein einschneidendes Lebensereignis dar, das mit einer immensen Zunahme an alltäglichen Anforderungen, Konflikten und Spannungen sowohl innerhalb der Familie als auch im sozialen Umfeld verbunden ist. Dies macht sie zu einer Gruppe, die in besonderem Maße gefährdet ist, eine eigene Suchterkrankung oder psychische Erkrankung und Verhaltensauffälligkeiten zu entwickeln. Um dieses Risiko zu mindern, ist es notwendig, dass die unterschiedlichen Hilfesysteme diesen Kindern und Jugendlichen eine besondere Beachtung zukommen lassen. Dabei können alle Institutionen, die mit Kindern psychisch erkrankter und suchtkranker Eltern in Kontakt kommen, einen Beitrag leisten. 

Trotz der empirischen Beweislage für die Entwicklungsrisiken dieser Gruppe von Kindern und Jugendlichen fühlten sich geraume Zeit weder Kinder- und Jugendhilfe, (Erwachsenen- sowie Kinder- und Jugend-)Psychiatrie noch Suchthilfe als Leistungsanbieter für diese Gruppe besonders belasteter Heranwachsender zuständig. Inzwischen ist der Ausschluss dieser Gruppe vom Hilfesystem nicht mehr so ausgeprägt[1]. 

Obwohl die Problematik psychisch erkrankter und suchtkranker Eltern und ihrer Kinder in den vergangenen Jahren von den beteiligten Professionen intensiver diskutiert wurde und ein wachsendes Bewusstsein über die Problematik festgestellt werden kann, besteht dennoch Aufklärungs- und Diskussionsbedarf mit Blick auf das Problem. Zudem gibt es noch weiteren Handlungsbedarf, um flächendeckende und vor allem dauerhafte Angebote und Hilfen für die Versorgung der betroffenen Kinder und ihrer Familien gewährleisten zu können.

Ausgehend von den Ergebnissen des 13. Kinder- und Jugendberichts „Mehr Chancen für gesundes Aufwachsen – Gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe“, der sich auch mit der Situation von Kindern mit psychisch erkrankten und suchtkranken Eltern befasst, möchte die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ den Ausbau und die Qualifizierung von Unterstützungsangeboten für die betroffenen Mädchen und Jungen in den Fokus einer breiten interdisziplinären Fachdebatte stellen.

Das vorliegende Diskussionspapier soll Impulse für (präventive) Hilfen und systemübergreifende Vernetzungen geben und zur verstärkten Zusammenarbeit zwischen den verantwortlichen Hilfesystemen, insbesondere der Suchtkrankenhilfe, der Kinder- und Jugendhilfe, der Erwachsenen-psychiatrie und anderen medizinischen Diensten anregen. Um wirkungsvolle Hilfen zu erreichen, muss arbeitsfeldübergreifend kooperiert werden. Lehrer, Erzieherinnen, Ärzte, Sozialarbeiterinnen, Psychologen und Pädagoginnen, aber auch Familienrichterinnen sowie die Polizei müssen verbindlich zusammenarbeiten und die jeweils anderen Hilfesysteme im Blick haben. Besondere Beachtung sollte aus Sicht der AGJ ferner der Errichtung niedrigschwelliger Angebote, der Öffentlichkeitsarbeit, der Schulung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Hilfesystemen und den Möglichkeiten der Finanzierung der Hilfen zuteil werden.


1. Zahlen, Daten, Fakten und Schätzungen

Das statistische und geschätzte Zahlenmaterial zu Kindern von psychisch erkrankten und suchtkranken Eltern ist vielfältig. Daten hierzu wurden u. a. vom Bundesgesundheitsministerium, der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen und der Bundespsycho-therapeutenkammer sowie im Rahmen verschiedener Forschungsarbeiten veröffentlicht. Bei der Veröffentlichung konkreter Zahlen zur Gruppe der Kinder von sucht- und psychisch erkrankten Eltern wird stets auf eine vermutlich hohe Dunkelziffer hingewiesen.

a) Kinder in suchtbelasteten Familien:

  • 2.65 Millionen Kinder (bis 18 Jahre) sind im Laufe ihres Lebens dauerhaft oder zeitweise von elterlicher Alkoholabhängigkeit betroffen; das sind 10 - 15 % der Kinder und Jugendlichen[2];
  • Alkoholmissbrauch in der Schwangerschaft führt nach Schätzungen bei etwa 2.200 Neugeborenen in Deutschland zu Schädigungen (fetales Alkoholsyndrom);
  • ca. 40 000 Kinder haben drogenabhängige Eltern (0,1 - 0,5%)[3];
  • die Zahl von Kindern, deren Eltern an anderen Süchten (z.B. Spiel-, Internet- oder Kaufsucht) leiden, ist nicht bekannt;
  • mehr als 30% der Kinder aus suchtbelasteten Familien werden selbst suchtkrank – meist sehr früh im Leben, andere entwickeln körperliche oder psychische Störungen oder Verhaltensauffällig-keiten[4];
  • mehr als 50% der Abhängigen zwischen dem 14. und 21. Lebensjahr stammen aus einer Familie mit (mindestens) einem alkoholabhängigen Elternteil;
  • Kinder aus suchtbelasteten Familien entwickeln zudem verstärkt psychische und Verhaltensauffälligkeiten (z.B. Hyperaktivität), sowie kognitive und soziale Störungen.

b) Kinder psychisch erkrankter Eltern

  • Schätzungen zufolge haben zwei bis drei Millionen Kinder in Deutschland mindestens einen Elternteil, der psychisch erkrankt ist, also etwa an Depressionen, Schizophrenie, Persönlichkeits- oder Zwangsstörungen leidet – gut 500.000 Kinder davon wachsen bei einer Mutter oder bei einem Vater mit schweren psychischen Störungen auf[5].
  • Psychische Erkrankungen eines oder beider Elternteile stellen für die gesunde psychische Entwicklung eines Kindes ein erhebliches Risiko dar. Das Risiko von Kindern depressiver Eltern, eine affektive Störung zu entwickeln, ist um das 1,75fache höher als bei Kindern mit gesunden Eltern. Bei Eltern mit Angststörungen liegt das Risiko sogar um das Siebenfache höher. Ein Drittel aller Mädchen und Jungen, die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt wurden, haben mindestens einen psychisch erkrankten Elternteil.
  • Kinder von psychisch erkrankten Eltern (Schizophrenie, affektive Störungen, dissoziale Persönlichkeitsstörung) haben im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eine zwei bis fünffach erhöhte Wahrscheinlichkeit für Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellen Missbrauch.
  • Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung: von den Probanden, die angeben, ihre Kinder misshandelt zu haben, bejahten rund 60% eine psychiatrische Diagnose. Von den Probanden die angeben, ihre Kinder vernachlässigt zu haben, bejahten rund 70% eine psychiatrische Diagnose.
  • Da psychische und Suchterkrankungen nicht nur durch personale, sondern auch durch belastende Umfeldfaktoren und kritische Lebensereignisse mitbedingt sind, können Migration und Entwurzelung sowie erlittene Traumata die Häufigkeit dieser Erkrankungen und Störungen sowohl in der Eltern- als auch in der Kindergeneration erhöhen.

2. Zur Situation der Kinder und Jugendlichen mit psychisch erkrankten und suchtkranken Eltern

  • Die Zahl der Erwachsenen, die als Kinder von Sucht- und psychischen Erkrankungen ihrer Eltern betroffen waren und damit ein deutlich erhöhtes Risiko für psychische Beeinträchtigungen und/oder Störungen haben, und diese unter Umständen wiederum an ihre Kinder „weitergeben“, ist hoch. Diese Problematik betrifft also nicht allein die Kinder- und Jugendhilfe, sondern weitere gesellschaftliche Bereiche. 
  • Bei Kindern sucht- und psychisch erkrankter Eltern handelt es sich keinesfalls um eine kleine gesellschaftliche Randgruppe, sondern um eine große Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die ein deutlich erhöhtes Entwicklungsrisiko aufweisen, das sowohl genetisch als auch durch die psychosoziale Belastung durch die Erkrankung der Eltern bedingt ist und mit der Zahl der einzelnen Belastungsfaktoren steigt. 
  • Gleichzeitig ist darauf hinzuweisen, dass etwa ein Drittel dieser Kinder auch langfristig keine (gravierenden) Störungen entwickeln. Dafür sind einerseits das Alter der Kinder bei Beginn der elterlichen Krankheit und deren Schwere von Bedeutung, andererseits verfügen diese Mädchen und Jungen offenbar über genügend psychische Widerstandsfähigkeit (Resilienz), d.h. über genügend persönliche, familiale und soziale Schutzfaktoren, mit denen sie die Belastung durch die Erkrankung ausgleichen können[6]. 
  • Auch wenn die Unterschiede zwischen der Lebenssituation von Kindern psychisch erkrankter Eltern und suchtkranker Eltern beachtet werden müssen, so zeigt sich doch eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten. So stellen die frühe Kindheit und das Jugendalter gegenüber der mittleren Kindheit offenbar Phasen erhöhter Störungsanfälligkeit dar: Säuglinge und Kleinkinder sind verstärkt von Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch bedroht, die in dieser Altersstufe zudem besonders gravierende Folgen haben. Zudem kann der für die weitere gesunde Entwicklung des Kindes wichtige frühe Aufbau einer sicheren Eltern/Mutter-Kind-Bindung gefährdet sein. Ältere Kinder und Jugendliche dagegen können ihren Ablösungs- und Autonomiebedürfnissen zu wenig nachgehen, sie leiden unter Loyalitätskonflikten, zudem häufig unter Scham- und Schuldgefühlen, an Einsamkeit und Mangel an guten Kontakten zu Gleichaltrigen und der (krankheitsbedingten) sozialen Isolation der Familie. Denn oft werden diese Erkrankungen seitens der Eltern wie der Kinder aus Scham, aber auch aus Angst vor Unverständnis, Schuldzuweisungen und Stigmatisierung tabuisiert. Die Angst, dass die Kinder bei Bekanntwerden der Krankheit fremdplatziert werden könnten, stellt einen zusätzlichen Belastungsfaktor dar. Weitere Probleme sind die mangelnde Fürsorge, Sicherheit und Verlässlichkeit für die Kinder sowie die Überforderung durch die Übernahme von Verantwortung für die Haushaltsführung und die Versorgung jüngerer Geschwister („Parentifizierung“). Dazu kommt nicht selten die erhöhte Belastung durch von Konflikte und Gewalt in der Familie oder auch die Trennung der Eltern, sowie durch Armut und Arbeitslosigkeit. Als sehr belastend erleben es Kinder und Jugendliche zudem, wenn sie über Art und Verlauf der Erkrankung ihrer Eltern nicht aufgeklärt und in die Planung der Behandlung nicht mit einbezogen werden und wenn sie keinen Ansprechpartner für ihre Ängste, Fragen und Probleme haben und nicht wissen, ob und wo sie Hilfe bekommen[7].
  • Besonders gefährdet sind Mädchen und Jungen zudem, wenn der erkrankte Elternteil allein erziehend ist. Ob sich das Geschlecht der Kinder oder ein Migrationshintergrund der Betroffenen hilfreich oder problemverschärfend auswirkt, ist noch zu wenig geklärt.
  • Während ein Teil der Kinder bei den erkrankten Eltern (bei Einelternfamilien meist den Müttern) verbleibt und manche zumindest zeitweise (z.B. während Klinikaufenthalten der Eltern) nicht ausreichend versorgt scheinen[8], lebt ein anderer Teil zumindest phasenweise bei Verwandten, Pflegeeltern oder in Heimen. Die Fremdplatzierung kann immer dann für die Mädchen und Jungen entlastend sein, wenn sie dem Problem angemessen gestaltet ist und Loyalitätskonflikte der Kinder dadurch nicht verstärkt werden.


3. Hilfebedarfe von Kindern und Jugendlichen mit psychisch erkrankten und suchtkranken Eltern 

In den letzten 10 Jahren hat zum einen die Forschung zu Situation und Bedürfnissen von Familien mit psychischen und Suchterkrankungen der Eltern erheblich zugenommen, zum anderen die Zahl von unterschiedlichen unterstützenden Angeboten für die Kinder aus diesen Familien, aber auch für die Eltern sowie für Eltern und Kinder gemeinsam. Auch die wachsende Zahl von Tagungen und der Zusammenschluss von zahlreichen Projekten, Initiativen und Einrichtungen in der Bundesarbeitsgemeinschaft „Kinder psychisch erkrankter Eltern“[9] zeigt, dass inzwischen viel Interesse an diesem Thema und an einem Austausch zwischen Betroffenen, Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheitssystem, Sucht- und Eingliederungshilfen besteht.

Aus den bisher vorliegenden Forschungsergebnissen und Praxiserfahrungen ergibt sich, dass positive Resultate besonders dann zu verzeichnen waren, wenn die Angebote auf die folgenden zentralen Bedarfe der Kinder und Jugendlichen und ihrer Familien nicht nur punktuell, sondern im Sinne eines Gesamtsystems eingehen konnten:

  • Wichtig ist die Stärkung bzw. Schaffung präventiver und Resilienz fördernder Angebote, für Kinder und Jugendliche, wie etwa Gruppen mit Gleichaltrigen in ähnlicher Situation, in denen die Mädchen und Jungen ihre Erfahrungen austauschen und soziale Kontakte knüpfen, aber auch gemeinsam entlastenden Freizeitaktivitäten nachgehen, oder Patenfamilien, in denen die Kinder stabilisierende Bezugspersonen finden können. Diese Angebote  sollen möglichst verhindern, dass die betroffenen Kinder ihrerseits in ihren Entwicklungsmöglichkeiten beeinträchtigt werden und Störungen entwickeln. Damit diese Angebote greifen können, muss den behandelnden Ärzten rechtzeitig bekannt sein, welche Patientinnen und Patienten Kinder haben und ob ein potentieller Hilfe- und Versorgungsbedarf besteht. Diesen Bedarf zu befriedigen, ist auch deshalb wichtig, damit die Eltern nicht aus Sorge um die Betreuung ihrer Kinder notwendige Behandlungen vorzeitig abbrechen und damit längerfristig eine Verschlimmerung ihrer Krankheit riskieren, was sich dann wiederum negativ auf die Situation der Kinder auswirken kann. Ein ähnlicher Bedarf besteht für Kinder von Eltern, die bisher noch keine Hilfen in Anspruch genommen haben. Hier gilt es, die Kontaktpersonen dieser Familien für die Bedürfnisse der Kinder zu sensibilisieren. 
  • Notwendig sind altersgerechte Informations-, Beratungs- und Therapieangebote für Kinder und Jugendliche, die sie mit ihren Problemen, aber auch ihren Ressourcen ernst nehmen, sie entlasten und es ihnen erleichtern, situationsangemessene Bewältigungsstrategien zu entwickeln und ggf. eigene Störungen zu überwinden.
  • Ebenso wichtig  sind – neben den auf die Erkrankung gerichteten Therapien – Informations- und Beratungsangebote für die erkrankten Eltern und ggf. ihre Partner sowie weitere Angehörige, um zum einen Fragen zum Umgang mit der Krankheit in der Partnerschaft und gegenüber den Kindern sowie im weiteren Familiensystem und sozialen Umfeld zu klären. Zum anderen sollten sie die Möglichkeit bieten, auf Ängste der Eltern, etwa in Bezug auf „das Jugendamt“ und eine mögliche Herausnahme der Kinder aus der Familie einzugehen, sie und ihre Angehörigen mit passenden Hilfeangeboten vertraut zu machen und ihre Bereitschaft zur Annahme von Hilfe zu erhöhen.
  • Ausgehend von der Maxime, die Familien so lange und so gut wie möglich zu unterstützen, aber auch rechtzeitig zum Wohl der Kinder zu intervenieren, erscheinen einerseits möglichst niedrigschwellige entlastende und unterstützende präventive Angebote für betroffene Familien unerlässlich. Dies sind insbesondere Frühe Hilfen, Erziehungsberatung und ambulante Erziehungshilfen wie z. B. sozialpädagogische Familienhilfe, aber auch Hilfen gemäß § 20 SGB VIII. Ziel ist es, möglichst frühzeitig eine Begleitung der Eltern und eine Stärkung ihrer Erziehungsfähigkeit zu ermöglichen und möglichst viel „Normalität“ für die Kinder zu schaffen. Diese Hilfen müssen zum einen längerfristig angelegt sein, um eine dauerhafte Stabilisierung des Familiensystems zu ermöglichen. Zum anderen müssen sie sich von Art, Umfang und Zielen her dem jeweiligen Krankheitsbild und seinem Verlauf, der Familiensituation und dem Alter sowie der Belastung der Kinder und dem jeweils aktuellen Hilfebedarf der Eltern wie der Kinder flexibel anpassen. Die Angebote sollten sich je nach Bedarf an Eltern, Kinder oder beide gemeinsam richten und aufeinander abgestimmt sein.
  • Notwendig ist andererseits die Möglichkeit zu raschen, aber gut vorbereiteten Interventionen. Dazu gehört die Erarbeitung von Krisenplänen mit allen Beteiligten, die Bereitstellung von Anlaufstellen für Eltern in akuten Krisen und von Hilfenetzen, z. B. Patenfamilien, die sich in diesem Fall um die Kinder kümmern. 
  • Primäres Ziel auf kommunaler Ebene sollte eine koordinierte Behandlungs- und Hilfeplanung und deren Umsetzung sein, die alle beteiligten Institutionen und Personen einbezieht. Erwachsenenpsychiatrie und Suchthilfe haben in den letzten Jahren zunehmend die Angehörigen von Menschen mit psychischen und Suchterkrankungen in die Behandlungs- und Hilfeplanung mit einbezogen, den Töchtern und Söhnen der Kranken aber wird noch zu wenig Aufmerksamkeit zuteil. Dabei sollte allgemein gelten: „Auch Kinder sind Angehörige“.


4. Handlungsbedarfe auf Seiten der Kinder- und Jugendhilfe und ihrer Kooperationspartner

Mithilfe eines gut koordinierten, sich flexibel an verändernde Bedarfe anpassenden Hilfe- und Betreuungsangebots könnten mehr Familien mit psychischen und Suchterkrankungen ihren Kindern gesicherte Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Die Entwicklung von Konzepten für die Betreuung solcher Familien mit dem Ziel, möglichst lange den Zusammenhalt der Familie zu ermöglichen und gleichzeitig für das Wohl der Kinder zu sorgen, wäre eine der großen Heraus-forderungen. 

Aus den bisher vorliegenden Forschungsergebnissen und Praxiserfahrungen lassen sich einige Leitlinien dafür ableiten, wie den genannten zentralen Hilfebedarfen besser als bisher entsprochen werden kann.


a) Hilfen für Kinder psychisch erkrankter und suchtkranker Eltern als Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe

Die Kinder- und Jugendhilfe ist aufgefordert, sich verstärkt der Zielgruppe von Kindern und Jugendlichen anzunehmen, die in suchtbelasteten Familien oder bei psychisch erkrankten Eltern(teilen) aufwachsen. Zwar gibt es inzwischen vielerorts einzelne – aber meist zeitlich eng begrenzte – Projekte und Initiativen für die Verbesserung der Situation von Kindern aus psychisch und vor allem aus suchtbelasteten Familien, die jeweils einzelne Bedarfe abdecken. Und obwohl es festgelegte Finanzierungszuständigkeiten gibt, erfolgt insbesondere die Finanzierung der Angebote für Kinder psychisch erkrankter Eltern häufig nur über Spenden oder Mittel von Stiftungen oder karitativen Förderern, nur vereinzelt fließen bisher Kinder- und Jugendhilfemittel mit ein. Anzustreben ist aber eine kontinuierliche, zwischen den Systemen abgestimmte umfassende und flächendeckende Regelversorgung, für die es bisher nur vereinzelte Beispiele gibt[10]. 


b) Verbesserung der Kooperationsstrukturen

Für Kinder und Jugendliche mit sucht- oder psychisch erkrankten Eltern sind unterschiedliche Leistungsbereiche (Jugendhilfe, Gesundheits- und Suchthilfe und Eingliederungshilfe) und damit auch Kostenträger zuständig. Die Förderung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit einem suchtkranken oder psychisch erkrankten Elternteil ist daher immer eine Schnittstellenaufgabe, die in der Planung und Konzeptionierung zu berücksichtigen ist. So könnte eine integrierte Gesundheits- und Jugendhilfeplanung auf kommunaler Ebene sinnvoll sein, um z.B. zu einer besseren Bedarfseinschätzung zu kommen. Hier kann die Kinder- und Jugendhilfe eine Anregungs- und Koordinierungsfunktion übernehmen.

Die  Kooperation der Systeme ist aus Sicht der AGJ noch weiter auszugestalten. Ähnlich der Regelung in § 81 SGB VIII sollte eine Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit anderen Institutionen auch im SGB V verankert werden. Bislang sind die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe in den anderen Systemen oft noch zu wenig bekannt und die Eltern werden noch zu selten dorthin vermittelt[11]. Oder die Kinder und Jugendlichen werden – auch aus Kostengründen – zwischen den Systemen hin- und hergeschoben. Hilfen kommen deshalb nicht selten zu spät oder gar nicht, zumal auch die Eltern die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe oft nicht kennen oder bewusst nicht nutzen wollen, sei es aus mangelnder Einsicht in ihre Krankheit und die Gefährdung ihrer Kinder, sei es aus Angst, ihre Kinder könnten ihnen weggenommen werden. Dies kann dann zum einen dazu führen, dass die Kinder unterversorgt sind, zum anderen aber auch dazu, dass Eltern in vermeintlicher Rücksicht auf ihre Kinder auf dringend notwendige stationäre Behandlungen verzichten – was die Probleme für Eltern und Kinder noch verschärfen kann.

Der Aufbau örtlicher Kooperationen sollte der Jugendhilfe daher ein besonderes fachliches Anliegen sein, um systemübergreifend bessere Hilfe- und Schutzangebote für Familien mit Kindern entwickeln zu können. Dazu braucht es – im Einzelfall sowie einzelfallübergreifend – strukturierte, verlässliche und auf Dauer angelegte Kooperationsformen des Trägers der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe mit den Trägern der freien Kinder- und Jugendhilfe, den Diensten des Gesundheitswesens, der Sucht- und der Eingliederungshilfe. Auch für gelingende Kooperationswege und -strukturen gibt es bereits einzelne erprobte Praxisbeispiele, die andernorts in modifizierter Form übernommen werden können, die allerdings auch die Bereitstellung entsprechender Ressourcen erfordern[12]. Die Klärung von Finanzierungsfragen und die Entwicklung bzw. Verbreitung von handhabbaren Modellen der Mischfinanzierung ist dabei eine weitere dringend anstehende Aufgabe und Herausforderung für alle beteiligten Systeme.

Um den Hilfebedarf der Kinder und Jugendlichen – sowohl bezogen auf ihr Gefährdungsrisiko als auch auf Betreuung und Erziehung – erkennen und ihm angemessen entsprechen zu können, gilt es zunächst, geeignete Formen für den Informationsaustausch zwischen den Systemen zu entwickeln, um die Kinder und ihre Familien möglichst früh mit präventiven sowie mit geeigneten Unterstützungs- und Hilfeangeboten aus den unterschiedlichen Systemen erreichen zu können. Für die Kinder- und Jugendhilfe könnte es dabei hilfreich sein, wenn in den Behandlungseinrichtungen  und ambulanten Angeboten für die Eltern standardisierte Fragebogen zur Erfassung der Familiensituation sowie Verfahren zur Einschätzung des Hilfe- und Betreuungsbedarfs ihrer Kinder flächendeckend eingeführt würden, auf deren Basis dann mit Einverständnis der Eltern ggf. die Kinder- und Jugendhilfe hinzugezogen werden könnte. Die Kinder- und Jugendhilfe sollte jedoch auch ihrerseits aktiv auf Fachpersonal und Eltern in diesen Einrichtungen zugehen, um ihre Angebote dort intensiver als bisher bekannt zu machen und für ihre Nutzung zu werben. Des Weiteren könnten Kontakte zur Kinder- und Jugendhilfe über die (vereinzelt) an Kliniken oder in der Suchthilfe bestehenden Gruppenangebote für Kinder und Jugendliche hergestellt werden.
   
   Auch andere Kooperationsbeziehungen sollten ausgebaut werden: 

  • Sinnvoll und zum Teil schon erprobt ist die Zusammen-arbeit der Jugendhilfe mit dem Gesundheitswesen im Rahmen der Frühen Hilfen (und entsprechender ambulanter Anschlusshilfen wie z.B. der Sozialpädago-gischen Familienhilfe), durch die die Versorgung und Betreuung von Kleinkindern mit psychisch erkrankten und suchtkranken Eltern gesichert und der Bindungsaufbau zwischen Eltern und Kindern unterstützt werden kann. 
  • Angesichts der Tatsache, dass Kinder und Jugendliche in jugendpsychiatrischer Behandlung nicht selten psychisch erkrankte oder suchtkranke Eltern haben, scheint es sinnvoll, nicht nur die Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie weiter auszubauen, sondern auch verstärkt die Systeme einzubeziehen, in denen die Eltern behandelt werden, um die Hilfen besser aufeinander abzustimmen, die Bewältigungsressourcen für den Umgang mit der Erkrankung zu stärken und dabei den Bedarf des ganzen Familiensystems zu berücksichtigen.
  • Sinnvoll ist darüber hinaus die Kooperation von Gesundheits- und Suchthilfe mit Jugendhilfe und Schule: Für Kindertagesstätten und Schulen (z. B. Offene Ganztagsschulen) sollte es sowohl für die Fachkräfte als auch für das Lehrpersonal als auch für die Kinder und Jugendlichen auf die jeweilige Zielgruppe abgestimmte Informationen über psychische und Suchterkrankungen sowie über die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe geben. Fachpersonal ebenso wie Kinder und Jugendliche sollten ermutigt werden, sich im Einzelfall ggf. von sich aus an die Kinder- und Jugendhilfe zu wenden. 

c) (Interdisziplinäre) Aus- und Fortbildung der Fachkräfte

Fachkräfte der ambulanten Erziehungshilfen und insbesondere der Sozialpädagogischen Familienhilfe und des Allgemeinen Sozialdienstes müssen qualifiziert werden, die Leistungsfähigkeit von Eltern mit psychischen Erkrankungen und Suchtstörungen in Bezug auf ihre Kinder richtig einzuschätzen bzw. die dafür geeigneten Fachleute hinzuzuziehen. So könnten unter Umständen manche Unterbringungen der Kinder außerhalb ihrer Herkunftsfamilien vermieden werden.

Um dem oben aufgezeigten Bedarf an Informations- und Beratungsangeboten für Kinder, Eltern und weitere Angehörige sowie an koordinierten, flexiblen Hilfe- und Betreuungsangeboten besser gerecht zu werden und unnötige Trennungen von Eltern und Kindern zu vermeiden, müssen – im Sinne eines lebensweltorientierten, gemeindepsychiatrischen Angebots – auch Fachkräfte außerhalb der Psychiatrie und der Suchthilfe Grundkenntnisse über Ursachen und Verlauf von psychischen und Suchterkrankungen und Grundkompe-tenzen im Umgang mit psychisch oder an einer Sucht erkrankten Menschen und Wissen über Kooperationsmöglichkeiten haben. Dies gilt in besonderem Maße für die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, da die Eltern in die Hilfen für ihre Kinder so weit wie möglich einbezogen werden sollten, um deren Wirksamkeit zu erhöhen. Notwendig scheint deshalb intensive Fortbildung, besonders für die Fachkräfte aus den allgemeinen Sozialdiensten, die für die Hilfeplanung verantwortlich sind, aber auch für die Leistungserbringer, z. B. Fachkräfte, die sozialpädagogische Familienhilfe leisten. 

Andererseits sollten auch die Fachkräfte aus Gesundheitssystem, Suchthilfe und Schule in Grundzügen die Angebote und Arbeitsweisen der Kinder- und Jugendhilfe kennenlernen, damit sich auch von ihrer Seite aus die Kooperation mit der Kinder- und Jugendhilfe verbessern kann. Besonders geeignet erscheinen hier interdisziplinäre Fortbildungen und Fallkonferenzen. Das Wissen über die Entstehung von psychischen und Suchterkrankungen sowie die Auswirkungen auf Kinder und Familien sollte verpflichtend in die Ausbildung der pädagogischen, psychologischen und medizinischen Berufs-gruppen aufgenommen werden, um das Bewusstsein der Problematik in den jeweiligen Fachdisziplinen frühzeitig zu fördern. 

d) Evaluation und Transfer 

Wie dargestellt, sind, allerdings nur punktuell und meist zeitlich und inhaltlich begrenzt, Angebote vorhanden, die verschiedene der aufgeführten Bedarfe aufgreifen. Zudem haben sich mancherorts bereits belastbare Kooperations-strukturen, gemeinsame bzw. wechselseitige Fortbildungsangebote und anonymisierte Fallkonferenzen sowie praktikable Finanzierungsmodelle entwickelt. Auch Erfahrungen bezüglich der für die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Angeboten und Kooperationsstrukturen notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen dürften schon vorliegen. Es gilt also, dieses Wissen systematisch zu nutzen und aus positiven wie negativen Erfahrungen zu lernen. Erfolgversprechende Angebote sowie die ihnen zugrunde liegenden Kooperations- und Finanzierungsformen sollten – nach entsprechender Evaluation und unter Berücksichtigung der jeweiligen strukturellen Gegebenheiten in einer Region – in flächendeckende Regelangebote umgewandelt werden. Dieser Prozess sollte einhergehen mit einer breiten Öffentlichkeitsarbeit, die das Ziel verfolgt, über psychische und Suchterkrankungen aufzuklären, den Umgang damit zu enttabuisieren und die Betroffenen und ihre Kinder zu entstigmatisieren. 

 

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Hamburg 27. April 2010

 

[1] 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, Deutscher Bundestag Drs. 16/12860, Berlin 2009, S. 235.
[2] Arenz-Greiving, I. / Kober, M. 2007: Metastudie "Arbeit mit Kindern und deren suchtkranken Eltern" i.A. des Bundesministeriums für Gesundheit, Münster; Klein, M. 2004: Abhängigkeitsgefährdete und -kranke Kinder und Jugendliche: Daten, Fakten, Ergebnisse. In: LANDSCHAFTSVERBAND RHEINLAND (Hrsg.): Sucht im Jugendalter. Ein Thema - drei Hilfesysteme - Zur Zusammenarbeit von: Suchtkrankenhilfe, Jugendhilfe, Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dokumentation der Fachtagung am 30. April 2002; Klein, M. 2005. Kinder und Jugendliche aus alkoholbelasteten Familien. Stand der Forschung, Situations- und Merkmalsanalyse, Konsequenzen. Regensburg: Roderer.
[3] Klein, M. a.a.o..
[4] Lenz, A. 2009: Riskante Lebensbedingungen von Kindern psychisch und suchtkranker Eltern – Stärkung ihrer Resilienzressourcen durch Angebote der Jugendhilfe. Expertise zum 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung.
[5] Bisher liegen nur Schätzungen und Hochrechnungen vor, da die Kinder psychisch erkrankter Eltern statistisch nicht erfasst werden. Hochrechnungen über Prävalenzraten psychischer Erkrankungen, Anzahl von Haushalten mit Kindern, durchschnittliche Kinderzahl: Mattejat, F. (Hrsg.) 2006. Lehrbuch der Psychotherapie für die Ausbildung zur/zum Kinder- und Jugendlichentherapeutinnen - therapeuten und für die ärztliche Weiterbildung, Bd. 4, . München: CIP-Medien; Hochrechnungen über Krankenhausstatistik,  Anzahl von Patientinnen bzw. Patienten mit minderjährigen Kindern in der stationären Psychiatrie und durchschnittliche Kinderzahl: Schone, R. / Wagenblass, S.  (Hrsg.) 2006: Kinder psychisch kranker Eltern zwischen Jugendhilfe und Erwachsenenpsychiatrie. Juventa Verlag (Weinheim).

[6] Lenz, A. a.a.O.; 13. Kinder- und Jugendbericht a.a.O..
[7] Lenz, A. a. a.O.; Lägel, I. 2008: Präventive Arbeit mit Kindern psychisch kranker Eltern – ein multidimensionaler Ansatz zur Förderung der protektiven Faktoren. In Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, H. 57, S. 789-801. 
[8] Kölch, M., Versorgung von Kindern aus Sicht ihrer psychisch kranken Eltern. Expertise zum 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, a.a.O..
[9] Weitere Informationen siehe: Bundesarbeitsgemeinschaft „Kinder psychisch erkrankter Eltern“ www.bag-kipe.de.
[10] 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, S. 235 ff. a.a.O..
[11] Kölch, M., Versorgung von Kindern aus Sicht ihrer psychisch kranken Eltern. Expertise zum 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, a.a.O.. 
[12] 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung a.a.O.; Lenz a.a.O..