Chancengleichheit für alle Kinder und Jugendliche

Position der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ zur deutschen EU Ratspräsidentschaft in 2007

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Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ fordert die Bundesregierung auf, während der deutschen Ratspräsidentschaft der Europäischen Union, im Rahmen des von der EU-Kommission für 2007 ausgerufenen „Europäischen Jahres der Chancengleichheit für alle“, im ersten Halbjahr 2007 alle Möglichkeiten auszuschöpfen, das Thema Chancengleichheit für alle Kinder und Jugendlichen wirksam voranzubringen. Ziel muss es sein, eine umfassende politische und gesellschaftliche Praxis zu fördern, die kommunale, regionale und nationale Akteure, Wirtschaft, Zivilgesellschaft, europäische Institutionen und Bürgerinnen und Bürger, insbesondere auch junge Menschen zusammenführt, um gemeinsame übergreifende jugendpolitische Strategien voranzubringen, die sich an den Handlungssträngen formale und nicht formale Bildung, soziale Integration und politische Partizipation orientieren und sozialräumliches Handeln, Migration, Geschlechtergerechtigkeit und Sicherung und Vermittlung von Menschenrechten berücksichtigen.

Die AGJ schlägt vor, im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft folgende Aspekte verstärkt in die gemeinsame Debatte einzubringen: 

Chancengleichheit für alle Kinder und Jugendlichen bedeutet die Verbesserung der Lebensbedingungen und Zukunftschancen junger Menschen mit dem Ziel, soziale Ungleichheiten zu überwinden und gesellschaftliche Teilhabe unabhängig von sozialer Herkunft, Geschlecht, Religion, ethnischem Hintergrund und Behinderung zu ermöglichen. Erforderlich ist die Sicherstellung des gleichberechtigten Zugangs aller jungen Menschen zu Angeboten der Bildung, Beschäftigung, Freizeit, des öffentlichen Lebens und angemessenem Wohnraum. Chancengleichheit umfasst die 

Subjektstellung von Kindern und Jugendlichen, ihre Förderung und Unterstützung, die Sicherstellung und Erhaltung positiver Lebensbedingungen, ein gesundheitsförderliches Lebensumfeld und ein sicheres, friedvolles Leben ohne Angst vor Diskriminierung und Gewalt. Chancengleichheit kann nur durch ein subsidiäres und alle politischen Handlungsebenen umfassendes gemeinsames Agieren erreicht werden.   

Kinder- und Jugendpolitik bedarf auch auf europäischer Ebene der Einmischung in andere, die Lebenslagen von jungen Menschen betreffende, Politikbereiche im Sinne der Querschnittspolitik und einer aktiven Mitgestaltung. Hier sind die auf europäischer Ebene verantwortlichen Jugendpolitikerinnen und -politiker gefordert, sich neben der Umsetzung der „eigenen Ressortpolitik“ für die Berücksichtigung der Belange junger Menschen in anderen Politikbereichen einzusetzen. Sie sind gefordert, ihre fachliche Perspektive in die Gestaltung anderer Politikbereiche einzubringen und damit auch dort das Bewusstsein für einen lebenslagenorientierten Ansatz zu fördern. Aktuell bietet der Europäische Pakt für die Jugend die Gelegenheit, konkrete Einmischungs- und Beteiligungsverfahren auf EU-Ebene zu entwickeln.

Europäische Verantwortung für die Lebenslagen von jungen Menschen ist mehr als die Förderung von beruflichen und arbeitsmarktbezogenen Fertigkeiten und bezieht sich nicht alleine auf die Förderung von „wirtschaftlicher Verwertbarkeit“. Chancengleichheit und gesellschaftliche Teilhabe sind allgemeines Politikziel und damit unabhängig von wirtschaftlichen Fragen. Kinder- und Jugendpolitik muss sich auch auf europäischer Ebene für positive Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen einsetzen. Die soziale Integration von Kindern und Jugendlichen kann nicht alleine über die Frage Integration in den Arbeitsmarkt erfolgen, sondern betrifft ebenso Partizipationsmöglichkeiten, Wohnumfeld- und Freizeitgestaltung. 

Um die Belange von Kindern und Jugendlichen in europäischen Politikverfahren sichtbarer zu machen, bedarf es konkreter Verabredungen zwischen den Mitgliedstaaten. Insbesondere in den Verfahren der Offenen Methode der Koordinierung und im gemeinsamen Lissabonprozess sollte die Bundesregierung als Vorbild stärker darauf hinwirken, die Themen soziale Integration und Chancengleichheit von Kindern und Jugendlichen als integrierte, ressortübergreifende Politikziele zu formulieren. Die Nationalen Reformprogramme und jährlichen Fortschrittsberichte sowie die Nationalen Strategieberichte zum Sozialschutz und deren Umsetzung als Instrumente der Politikgestaltung sollten diese Themen ausdrücklich benennen. 

Voneinander Lernen ist ein europäisches Prinzip, das auch im Bereich Kinder- und Jugend(hilfe)politik weiter gefördert und ausgebaut werden muss. Ein intensiver Austausch über die jeweiligen nationalen und regionalen Politik- und Umsetzungsstrategien ist für ein nationales und europäisches Gelingen der Bekämpfung von Diskriminierung und Förderung von Chancengleichheit für alle Kinder und Jugendlichen erforderlich. Sinnvoll erscheint es hier, Formen der europäischen Zusammenarbeit weiterzuentwickeln, die den Austausch über nationale Abstimmungs- und Koordinierungsverfahren, Finanzierungs-strategien und gute Praxis-Beispiele fördern. 

Die Mitwirkung von jungen Menschen selbst, sowie von Organisationen und Strukturen, die im Bereich der Kinder- und Jugend(hilfe)politik aktiv sind, sollte auf allen Ebenen den Anforderungen einer sinnvollen und nachhaltigen Partizipation genügen. Es gilt vor dem Hintergrund vielfältigen Erfahrungswissens, die bisherigen Beteiligungsverfahren kritisch zu prüfen, neue Formen und Konzepte der Partizipation zu erproben und erfolgreiche Verfahren weiterzuentwickeln.

Eine Deutsche EU-Ratspräsidentschaft ist mehr als der Regierungsvorsitz in Brüssel. Sie bietet die Chance, europäische Ziele, Politiken und Beteiligungsverfahren auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene sichtbar und transparent zu machen und gleichzeitig nationale Prioritäten nach Europa zu transportieren. Die Bundesregierung, die Multiplikatorinnen und Multiplikatoren der Kinder- und Jugendhilfe sowie alle weiteren gesellschaftlichen Akteure sind gefordert, durch Aktivitäten und Informationen die deutsche Ratspräsidentschaft zu nutzen, um insbesondere jungen Menschen die europäische Idee sowie Chancen und Relevanz einer nationale Grenzen überschreitenden europäischen Politik näher zu bringen. Die Vertreterinnen und Vertreter der deutschen Bundesregierung und der Zivilgesellschaft in Deutschland sind ausdrücklich aufgefordert, in Brüssel nationale Diskussionsergebnisse und reflektierte fachliche Erfahrungen in den gemeinsamen europäischen Diskurs einzubringen.  

 

Der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Bielefeld, 21. Juni 2006

 

Zum Hintergrund der formulierten AGJ-Position im Folgenden ein Überblick über aktuelle europäische Entwicklungen: 

  • 2007 – Europäisches Jahr der Chancengleichheit für alle

Die Europäische Kommission hat 2007 zum „Europäischen Jahr der Chancengleichheit für alle“ erklärt. Damit soll der Förderung von Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung in der EU eine noch stärkere Aufmerksamkeit beigemessen werden. Das Europäische Jahr ist Herzstück einer Rahmenstrategie, mit der Diskriminierung wirksam bekämpft, die Vielfalt als positiver Wert vermittelt und Chancengleichheit für alle gefördert werden soll. Eine Realisierung der mit dem Jahrestitel verbundenen Zielsetzungen obliegt nicht zuletzt den beiden EU-Ratspräsidenten, Deutschland im ersten und Portugal im zweiten Halbjahr 2007. 

  • Deutsche EU-Ratspräsidentschaft

Am 01.01.2007 tritt Deutschland für sechs Monate turnusgemäß die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union an. Damit übernimmt die Bundesregierung die Federführung bei allen Treffen des Europäischen Rates, des Ministerrates, sowie der ihm zuarbeitenden Ausschüsse und Arbeitsgruppen. Sie vertritt den Rat gegenüber anderen EU-Organen und repräsentiert die Europäische Union im internationalen Kontext. Unter deutscher Federführung wird der Frühjahrsgipfel 2007 tagen und die Fortschritte zur Umsetzung der erneuerten Lissabonstrategie, die Europa zum stärksten und einem sozial ausgeglichenen Wirtschaftsraum der Welt machen soll, zusammentragen. Möglicherweise ergeben sich neue gemeinsame Zielsetzungen in den Bereichen Sozialschutz, Bildung, Beschäftigung und Pakt für die Jugend. Unter deutschem Vorsitz werden die europäischen Jugendministerinnen und Jugendminister tagen, ebenso wie alle anderen Ministerräte ( z. B. Bildung, Beschäftigung). Seitens des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend sind in Kooperation mit europäischen Institutionen und Organisationen europäische Veranstaltungen und Konferenzen geplant, die in Berlin, Köln und Leipzig stattfinden sollen. 

  • Der Europäische Pakt für die Jugend  

Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben im Rahmen des Frühjahrsgipfels 2006 den Pakt für die Jugend und dessen Ziel, die soziale Integration junger Menschen durch integrierte und ressortübergreifende Politiken wirksam zu verbessern, betont. In den Schlussfolgerungen des Vorsitzes werden quantifizierte Zielsetzungen, wie die Senkung des Anteils von Schulabbrüchen und die Erhöhung der Ausbildungen im Sekundarbereich II formuliert. Vereinbart wurde daneben, arbeitslosen jungen Menschen innerhalb kurzer, festgelegter Fristen Beschäftigungs- oder Qualifizierungsmaßnahmen anzubieten. Hinsichtlich der Umsetzung des Pakts für die Jugend empfiehlt der Europäische Rat den Mitgliedstaaten, wirksame, sektorenübergreifende Strategien für junge Menschen zu entwickeln. Dabei wird auf erforderliche Querverbindungen zwischen Maßnahmen zur allgemeinen und beruflichen Bildung und Maßnahmen zur Förderung von Beschäftigung, sozialer Eingliederung und Mobilität hingewiesen. Die Einbeziehung junger Menschen sowie jugendrelevanter Organisationen in die Umsetzung des Europäischen Pakts für die Jugend findet ausdrückliche Erwähnung. Des weiteren, so die europäischen Staats- und Regierungschefs, müssen Politiken unterstützt werden, die die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familienleben fördern.

 

  • Bekämpfung von Armutund Ausgrenzung von Kindern

Der europäische Gipfel hat sich im März 2006 darüber hinaus darauf verständigt, die gemeinsame Politik der sozialen Integration auf in Armut lebende Kinder zu konzentrieren. Die Mitgliedstaaten werden ersucht, Maßnahmen zu ergreifen, um Kinderarmut rasch in erheblichem Maße zu verringern und allen Kindern, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, die gleichen Chancen zu bieten. 

  • Europäischer Sozialschutz 

Die Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung wird mit Hilfe der Offenen Methode europäisch koordiniert. Ab 2006 werden im sogenannten „Streamlining-Verfahren“ verschiedene Bereiche des Sozialschutzes zusammengefasst und nationale Strategieberichte erarbeitet. Die Strategieberichte für die Jahre 2006 bis 2008 sollen neben den Themen Rente, Gesundheit und Pflege die Frage der Sozialen Integration (ehem. NAP social inclusion) im Schwerpunkt behandeln. Die Bundesregierung hat im Mai d. J. den Entwurf eines Nationalen Strategieberichtes Sozialschutz und Soziale Eingliederung vorgelegt, der bis September d. J. unter anderem in Bundestag und Bundesrat diskutiert werden soll. Der deutsche Entwurf befasst sich explizit mit der Beseitigung von Kinderarmut, beschreibt aber weniger eine integrierte und ressortübergreifende kinder- und jugendpolitische Strategie. 
Die nationalen Sozialschutzstrategieberichte dienen als Grundlage für die Befassung der europäischen Staats- und Regierungschefs im Rahmen des Frühjahrsgipfels 2007.

  •  Nationale Reformprogramme und Fortschrittsberichte 

Zur Umsetzung der erneuerten Lissabonstrategie erarbeiten die EU-Mitgliedstaaten nationale Reformprogramme, deren Umsetzung in jährlichen Fortschrittsberichten dokumentiert wird. Auf dieser Grundlage legen die Staats- und Regierungschefs gemeinsame Schwerpunkte und Ziele fest. Das Nationale Reformprogramm (NRP) Deutschland „Innovation forcieren – Sicherheit im Wandel fördern – Deutsche Einheit vollenden“ wurde von der Regierungskoalition im Dezember 2005 für die Jahre bis 2008 vorgelegt. Die Bundesregierung setzt darin sechs Prioritäten, deren Mittelpunkt der Ausbau der Wissensgesellschaft als zentrale Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit moderner Gesellschaften für Teilhabe und soziale Gerechtigkeit bildet. Hinzu kommen Prioritäten zur wettbewerbsfähigen Gestaltung der Märkte und einer wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstruktur. Der Pakt für die Jugend taucht im deutschen NRP explizit lediglich im Kontext der Unterstützung außerschulischer Jugendarbeit auf. Ein erster nationaler Fortschrittsbericht muss bis zum Herbst d. J. erarbeitet werden und wird bis zum Frühjahrsgipfel 2007 gemeinsam mit den anderen Fortschrittsberichten ausgewertet.