Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz IV)

Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe

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Die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ), der Zusammenschluss von über 90 Organisationen, Institutionen, Verbänden und Trägern der freien und öffentlichen Jugendhilfe, hat sich in der Vergangenheit intensiv mit den Überlegungen und Empfehlungen der Hartz-Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ auseinandergesetzt und darin eine Reihe von positiven Vorschlägen und Chancen zur dringend erforderlichen Neuorientierung und Weiterentwicklung sozialstaatlicher Leistungen gesehen (vergl. „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt – das Hartz- Konzept und seine gesetzliche Umsetzung“ in FORUM Jugendhilfe, Nr. 1/2003 sowie www.agj.de/ Aktuelles).

Trotz positiver Ansätze im Einzelnen ist der nun vorliegende Regierungsentwurf zum vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz IV) insgesamt enttäuschend und in seinen Auswirkungen und Konsequenzen nicht ausreichend durchdacht. Aus

  • jugend- und sozialpolitischer Sicht ist er an vielen Stellen fragwürdig,
  • demokratie-theoretisch in manchen Passagen problematisch,
  • rechtssystematisch bedenklich und
  • er verkompliziert das Verwaltungshandeln und führt damit zu mehr Intransparenz und Bürokratie.

Mit dem Entwurf eines vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitmarkt wird die Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe für Erwerbsfähige zusammengeführt. Als Resultat entsteht ein neuer Typus von Sozialgesetzgebung, der tiefgreifende Auswirkungen auf die Entwicklungschancen junger Menschen und ihrer Familien sowie auf die Arbeitsbedingungen der Jugendhilfe haben wird. Im Regierungsentwurf zu Hartz IV sind der Eröffnung von Chancen für junge Menschen nur vage Formulierungen gewidmet, andererseits wird ein Sanktionskatalog detailliert ausgearbeitet. Während die Zuständigkeit der Bundesanstalt für Arbeit genau definiert wird, sind die örtlichen und regionalen Kooperationsstrukturen und die Rolle der Kommunen nur vage angedeutet.

Mit der Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe sollte ein einheitliches, bedarfsorientiertes Sozialgesetz geschaffen und das Sozialrecht insgesamt vereinfacht werden. Dies ist mit dem vorliegenden Entwurf nicht gelungen. Stattdessen ist zu befürchten, dass die vielfältigen Beziehungen zwischen den Leistungsgesetzen und unterschiedlichen Zuständigkeiten im konkreten Verwaltungsvollzug komplizierter und aufwendiger werden.

Die durch diesen Regierungsentwurf implizierten grundlegenden Auswirkungen auf weitere Sozialgesetze und Konsequenzen für die sozialstaatliche Ordnung bedürften einer grundlegenden Beratung. Stattdessen wird das Gesetzgebungsvorhaben in den nächsten Wochen, ohne ausreichende Zeit für intensive Beratungen, durch das Gesetzgebungsverfahren gepeitscht. Angesichts der Schnelligkeit des Verfahrens ist eine konstruktive Debatte des Gesamtkonzeptes kaum möglich.

Auch wenn offensichtlich die Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen nicht erwünscht scheint, bezieht die AGJ im Interesse junger Menschen und im Interesse der Jugendhilfe Stellung. Ziel der Stellungnahme der AGJ ist es, Fehlentwicklungen zu verhindern und eine klare Ausrichtung des Gesetzentwurfs auf eine Verbesserung der Lebenslage von Kindern und Jugendlichen zu erreichen. Dabei beschränkt die AGJ sich auf drei Kernpunkte, die für die jungen Menschen und für die Jugendhilfe von besonderer Bedeutung sind.


1. Das sozio-ökonomische Existenzminimum für alle Kinder und ihre Familien sichern! Kinderzuschlag nur ein erster und unvollständiger Schritt.

Bereits bisher konnte die Sozialhilfe keine angemessene Teilhabe im Sinne eines am sozio- ökonomischen Existenzminimum orientierten Bedarfs sichern. Die Neuregelungen für das „Arbeitslosengeld II“ bzw. Sozialgeld verbunden mit der Herabsetzung auf das Sozialhilfeniveau sowie die Absenkung des Regelsatzes für Kinder im Alter von 15 und 18 Jahren verschärfen diese Fehlentwicklung. Gerade Kinder und Jugendliche, deren Familien bisher über die Arbeitslosenhilfe abgesichert waren, werden künftig finanziell schlechter gestellt. Diese Verschlechterung der Einkommen von Familien ist kein Signal für eine kinder- und familienfreundliche Politik. Sie verbaut vielmehr massiv die Startchancen junger Menschen. Verschärft wird diese Situation noch dadurch, dass mit der Reduzierung monetärer Transferleistungen eben keine verbindlichen Verbesserungen von Infrastrukturleistungen erfolgen, weder zur beruflichen Integration junger Menschen noch – aufgrund der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen - beim Ausbau der Tageseinrichtungen für Kinder unter drei Jahre und für Schulkinder.

Auch das neu eingeführte Instrument des „Kinderzuschlages“ erfasst nur ein sehr enges Familiensegment im unteren Einkommenssektor - und dieser ist, völlig willkürlich - auch nur auf max. 3 Jahre befristet. Es soll so vermieden werden, dass Eltern mit Niedrigeinkommen nur deshalb anspruchsberechtigt auf Leistungen nach dem SGB II werden, weil der Haushaltsbedarf durch die Zahl der Kinder steigt. Sie sollen die zusätzlichen Leistungen für ihre Kinder dann von der Familienkasse beziehen.

Mit dem Kinderzuschlag soll also der Bedarf des Kindes im Sinne des neuen “Arbeitslosengeldes II” bzw. des Sozialgeldes gedeckt werden. Hiermit wird jedoch der armutspolitischen Komponente nur unzureichend Rechnung getragen. Der Kinderzuschlag wird außerdem nur befristet gewährt und ist in der Höhe gekappt. Der Höchstbetrag des Kinderzuschlags (140 EUR) zusammen mit dem Kindergeld (+154 EUR) reicht nicht in jedem Einzelfall aus. Im Ergebnis werden viele Familien weniger Geldleistungen haben als ihnen heute über den Sozialhilfebezug zur Verfügung stehen.

Die AGJ begrüßt den Kindergeldzuschlag als einen ersten “vorsichtigen” und in seiner Wirkung begrenzten Schritt auf dem Weg zu einer wirkungsvollen Bekämpfung von Kinderarmut. Allerdings ersetzt dieser erste Schritt nicht die Notwendigkeit, einen weiteren Ausbau der sozialen Absicherung von Kindern und Jugendlichen durch eine „Kindergrundsicherung“ energisch weiter zu verfolgen und auf die politische Agenda zu setzen.

2. Recht auf Ausbildung für Jugendliche

§ 3 Abs. 2 SGB II-E verpflichtet zwar die Agenturen für Arbeit, “erwerbsfähigen Hilfebedürftigen” unter 25 Jahren “eine Arbeit, eine Ausbildung oder eine Arbeitsgelegenheit” zu vermitteln unter der Maßgabe, dass, wenn nicht in eine Ausbildung vermittelt werden kann, die vermittelte Arbeit oder Arbeitsgelegenheit “auch zur Verbesserung ihrer beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten” beitra- gen soll. Die Rechtsqualität dieser Regelung ist aus der Perspektive der jungen Menschen mehr als mangelhaft. Sie räumt ihnen keinerlei einklagbare Rechte auf eine ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechende Ausbildung ein. Die Agenturen für Arbeit werden weder quantitativ auf die Schaffung und Bereitstellung von Angeboten festgelegt, noch werden Aussagen zur Qualität und zu Standards dieser Angebote gemacht. Auch werden keinerlei Aussagen getroffen, in welcher Form und in welchem Umfang finanzielle Ressourcen bereit gestellt werden müssen. Faktisch kann dies dazu führen, dass sich auf der Angebotsseite nichts verbessert und die jungen Menschen lediglich zu irgendwelchen sinnlosen Arbeiten gezwungen werden.

§ 31 Abs. 4 SGB II-E sieht gleichzeitig verschärfte Sanktionen gegen junge Menschen zwischen 16 und 25 Jahren vor. Wenn sie sich weigern eine angebotene Eingliederungsvereinbarung abzuschließen, die darin enthaltenen Verpflichtungen nicht erfüllen, nicht hinreichende Eigenbemühungen nachweisen oder sich weigern, eine Arbeit fortzusetzen oder eine zugewiesene Arbeit aufzunehmen, erhalten sie jeweils für drei Monate kein Arbeitslosengeld II. Ein kompensierender Bezug von Leis- tungen nach dem SGB XII (Sozialhilfe) wird ausdrücklich ausgeschlossen.

Die AGJ fordert, einen individuellen Rechtsanspruch junger Menschen auf eine ihren Neigungen, Möglichkeiten und Fähigkeiten entsprechende Ausbildung und qualifizierende Arbeit gesetzlich zu verankern. Gleichzeitig muss der spezifisch gegen junge Menschen gerichtete Sanktionskatalog gestrichen bzw. unter pädagogischen Gesichtspunkten differenziert werden. Insgesamt müssen die allgemeinen Sanktionen des § 31 SGB II-E einer grundlegenden verfassungsrechtlichen Prüfung unterzogen werden. Ein Leben in Würde muss für alle Men- schen in dieser Gesellschaft sichergestellt werden.


3. Mitwirkungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten der kommunalen Ebene verbessern und stärken

Die Ausgestaltung der Jugend- und Sozialpolitik vor Ort ist bisher eine zentrale Aufgabe der örtlichen Gemeinschaft. Das Gelingen sozialer Integration und die Sicherung des sozialen Friedens ist eines der zentralen und auch wahlentscheidenden kommunalen Politikfelder. Vor Ort, in den konkreten Lebenswelten, werden die Lebensbedingungen, Interessen und Erwartungen der Menschen faktisch sichtbar. Deshalb haben sich die Kommunen in den vergangenen drei Jahrzehnten mit den ihnen zur Verfügung stehenden sozialpolitischen Möglichkeiten und in Kooperation mit der Bundesanstalt für Arbeit engagiert und erfolgreich Strategien zur beruflichen und sozialen Integration entwickelt. Mit dem vorliegenden Regierungsentwurf werden die Kommunen nun dieser Möglichkeit kommunaler Beschäftigungspolitik (z.B. durch die §§ 18ff, 30 BSHG) und damit der Möglich- keit zur Regelung dieser bedeutsamen Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft beraubt, weil ihnen zukünftig keinerlei Instrumente mehr zur Verfügung stehen. Das kommunale Selbstverwaltungsrecht wird ausgehöhlt und damit ist eine demokratische Legitimation durch die Gemeindebür- ger nicht mehr möglich. Ebenso wird diesem sozialpolitischen Handlungsfeld das für die Ausgestaltung sozialstaatlichen Handelns in der Bundesrepublik konstitutive Prinzip der partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit „freien Trägern“ entzogen. Stattdessen entscheidet eine zentralistisch und nicht an den politischen und Verwaltungsgrenzen orientierte Bundesagentur über individuelle Chancenzuteilung und örtliche Angebote und Maßnahmen ausschließlich auf dem Verwaltungsweg; eine demokratietheoretisch bedenkliche Entwicklung.

Die verbindliche Einrichtung von speziellen Jobcentern für junge Menschen muss gesetzlich festgeschrieben werden. Diese sollen von den örtlichen Agenturen für Arbeit und den jeweils zuständigen kommunalen Gebietskörperschaften unter Einbeziehung der Jugendämter gemeinsam getragen werden. Nur so kann gewährleistet werden, dass Arbeitsweise, Angebote und Maßnahmen dazu beitra- gen, den Rechtsanspruch des jungen Menschen auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu sichern und junge Menschen nicht zum Objekt jedweder demokratischer Kontrolle entzogenem Verwaltungshandeln werden.

Die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe fordert den Gesetzgeber auf, die Formen der Zusammenarbeit zwischen den Kommunen, den Trägern der freien Jugendhilfe und den örtli- chen Agenturen für Arbeit im örtlichen Jobcenter verbindlicher zu regeln und für die kom- munale Ebene eine Mitwirkungs- und Mitbestimmungsmöglichkeit bei der Ausgestaltung der Arbeitweise und der Entscheidung über Angebote und Maßnahmen des Jobcenters rechtlich zu verankern. Mit Blick auf Lebenssituationen von jungen Menschen ist die entsprechende Mitwirkungsmöglichkeit und Mitverantwortung der örtlichen Jugendhilfe zu gewährleisten.


Geschäftsführender Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe Berlin, 06. Oktober 2003