Politische Bildung junger Menschen – ein zentraler Auftrag für die Jugendarbeit

Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

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Die aktuellen Wahlergebnisse für rechtspopulistische Parteien nicht nur in Deutschland, die erkennbare verstärkte Radikalisierung bei rechtsextremen und islamistischen Gruppen und Personen sowie eine zunehmende Distanz gegenüber dem demokratischen politischen System und seinen Lösungswegen für politische Probleme stellen unsere Gesellschaft vor große Herausforderungen. Wie kann der drohenden Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts und des demokratischen Konsenses begegnet werden? Eine Antwort auf die Frage ist die im gesellschaftlichen und politischen Raum geforderte verstärkte Anstrengung im Bereich der politischen Bildung.

In der Jugendhilfe – als einem Akteur der politischen Bildung unter vielen – hat die Diskussion über die Verstärkung der politischen Bildung und des politischen Charakters ihres Handelns bereits intensiv begonnen. So fordert der 15. Kinder- und Jugendbericht die Akteurinnen und Akteure der Jugendarbeit dazu auf, das Politische ihrer Arbeit sowie die Notwendigkeit zu politischer Bildung neu zu erkennen und wiederaufleben zu lassen als auch entsprechende Ideen und Angebote der aktiven Beteiligung und des handelnden Engagements zu entwickeln.

Aus Sicht der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ ist politische Bildung unabhängig von aktuellen politischen Entwicklungen für das Aufwachsen junger Menschen von zentraler Bedeutung. Daher begrüßt die AGJ die Wiederbelebung der Debatte um politische Bildung in der Jugendhilfe ausdrücklich. Denn es ist die Aufgabe der Jugendhilfe, junge Menschen bei ihrer Entwicklung zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu unterstützen. Dies beinhaltet auch die Befähigung zur Mitgestaltung gesellschaftlicher und politischer Diskurse und Entscheidungsprozesse, mithin die Befähigung zum politischen Handeln. Damit leistet die Jugendhilfe neben den Familien, der Schule, dem Sozialraum und den weiteren Instanzen politischer Bildung einen wichtigen Beitrag zur Vermittlung demokratischer Haltungen und zur Ausgestaltung einer lebendigen Demokratie in Deutschland.

Mit diesem Positionspapier möchte die AGJ einen Beitrag zur Diskussion über die Weiterentwicklung der politischen Bildung leisten. Ausgangspunkt ist dabei die Überlegung, dass sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer junge Menschen lernen und sich entwickeln, stets verändern und in Folge dessen die Instrumente und Angebote der Jugendhilfe ebenso einem kontinuierlichen Wandel unterliegen müssen. Dieses Positionspapier beschreibt die Bedingungen und Herausforderungen für die Jugendarbeit, um einen pointierten Beitrag zur Diskussion anzubieten. Die dargelegten Überlegungen können jedoch auf das gesamte Leistungsspektrum der Jugendhilfe bezogen werden.

Zum Begriffsverständnis politischer Bildung in der Jugendarbeit

Der Gegenstand politischer Bildung ist „das Politische“, womit aber nicht allein (Partei-) Politik und das Wissen über politische Systeme gemeint ist, sondern vielmehr die Art und Weise, wie Menschen gemeinsam ihre öffentlichen Angelegenheiten regeln. Das heißt, wie sie miteinander verbunden sind, sich austauschen, sich miteinander für Themen stark machen und wie sie betreffende Angelegenheiten öffentlich aushandeln. Bezogen auf die Diskussion politischer Bildung in der Jugendarbeit wird ein breites Verständnis des Begriffs zugrunde gelegt, das sich in einen Kontext von Partizipation, Mitbestimmung, freiwilligem Engagement und politischem Handeln einbettet. Damit ist politische Bildung nicht auf die Vermittlung von Wissen über politische Strukturen, Entscheidungen oder Ereignisse beschränkt. Jugendarbeit will vielmehr an die Interessen, Erfahrungen und Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen anknüpfen und ihnen die Zusammenhänge zwischen der eigenen Lebenssituation und den gesellschaftlichen Bedingungen deutlich machen und sie an deren Gestaltung beteiligen. Sie will erfahrbar machen, welche Möglichkeiten es gibt, sich selbst zu Wort zu melden und sich in das gesellschaftliche und politische Geschehen einzumischen. Grundlegend sind dafür die Erfahrung der eigenen Selbstwirksamkeit sowie die Erkenntnis, dass individuelle Herausforderungen und Interessen auch politisch sein können. Politische Bildung ist in der Jugendarbeit immer auch demokratisches Handeln. Sie umfasst nach diesem Verständnis demokratische Prozesse in der Jugendarbeit, das Lernen über Politik und politische Systeme und das aktive Einmischen in und Teilhaben an gesellschaftspolitischen Fragen. Letztlich kann dieses Verständnis von politischer Bildung von den Begriffen Partizipation, Interessensorientierung und politisches Handeln gerahmt werden.

Partizipation, Interessenorientierung und politisches Handeln in der Jugendarbeit

Partizipation ist eines der Grundprinzipien in der Jugendarbeit und zugleich ihr wesentliches Potenzial für die politische Bildung von Kindern und Jugendlichen. Partizipation und politische Bildung in der Jugendarbeit sind also untrennbar verbunden. Die Praxis ermöglicht ein konkretes Erleben demokratischer Prozesse, das Aushandeln von gemeinsamen Zielen oder Perspektiven sowie das Erleben von Selbstwirksamkeit. Zudem ist die Praxis der Jugendarbeit Partizipation im Sinne von Interessenvertretung und Mitgestaltung.

In der demokratisch organisierten Verfasstheit der Jugendarbeit – insbesondere im Rahmen der Jugendverbandsarbeit und in von Jugendlichen selbstorganisiert betriebenen Einrichtungen der Jugendarbeit – liegt ein zentrales Moment für die Entwicklung politischer Handlungsfähigkeit. Kinder und Jugendliche erlangen in den Angeboten der Jugendarbeit nicht nur Wissen über ihre Rechte auf Beteiligung und die strukturell verankerten Möglichkeiten von Partizipation, sondern können dieses auch in einem geschützten Rahmen und darüber hinaus erleben, ausgestalten und weiterentwickeln.

Es ist das Anliegen der Jugendarbeit, Jugendlichen (Frei-)Räume zu geben, in denen sie sich ausprobieren, Ausdrucksmöglichkeiten finden und sich gemeinsam mit anderen engagieren können. Junge Menschen mit ihren eigenen Interessen, Meinungen und den individuellen Formen ihres Engagements ernst zu nehmen und ihnen zu verdeutlichen, dass vermeintlich individuelle Herausforderungen auch eine politische Dimension haben, ist ein Charakteristikum der Jugendarbeit, das sie für politische Bildungsprozesse bedeutsam macht.

Entsprechend der Interessenlagen von Kindern und Jugendlichen haben viele Aktivitäten in der Jugendarbeit politische Inhalte oder verhandeln Alltags- und Lebensthemen junger Menschen, die im Zusammenhang mit dem politischen Gemeinwesen stehen bzw. in diesen Kontext gestellt werden können. Der spezifisch politisch bildende Charakter entsteht dann, wenn junge Menschen die Erfahrung machen, dass sich individuell-persönliche Interessen in einen politischen Zusammenhang einordnen und öffentlich zum Ausdruck bringen lassen. Dabei sind die Prozesse wichtig, die aus individuellen Wünschen gemeinsame Anliegen herausfiltern, sowie die Erfahrung, dass mit Interessenartikulation politische Reaktionen ausgelöst werden können. Die Jugendarbeit bietet vielseitige Möglichkeiten politische Themen von Jugendlichen aufzugreifen und zum Gegenstand der Angebote zu machen, z.B. Ökologie und Nachhaltigkeit, Mobilität, Kinderarmut, Ausgrenzung, soziale Ungleichheit oder strukturelle Diskriminierungen.

Darüber hinaus bietet die Jugendarbeit Räume, Angebote und Möglichkeiten, politisch handelnd aktiv zu werden. So äußert sich politisches Handeln in der Jugendarbeit unter anderem dadurch, dass Jugendliche erfahren, dass sie einen Einfluss zum Beispiel auf die Ausgestaltung von Angeboten, Regeln und das soziale Miteinander in den Einrichtungen der Jugendarbeit haben. Gemeinsam mit anderen Jugendlichen haben sie im Rahmen der Jugendarbeit die Chance, sich für „ihre“ Themen einzusetzen und diese in die Öffentlichkeit zu tragen. Dadurch werden sie zu politisch handelnden Akteuren und Akteurinnen. Politische Selbstwirksamkeit erleben sie, wenn es ihnen gelingt, ihre Forderungen und Vorstellungen gemeinsam mit politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern zu diskutieren, diese zu überzeugen und im Ergebnis Veränderungen zu erreichen.

Die verschiedenen Felder der Jugendarbeit wie die Offene Jugendarbeit, die kulturelle Jugendbildung oder die Jugendverbandsarbeit nutzen dafür ihre spezifischen Potenziale, Formate und Methoden, Orte und Zugänge. Dabei sind die je konkreten Rahmenbedingungen in den Feldern der Jugendarbeit unterschiedlich ausgeprägt. Sie konzeptionieren jeweils von ihren Handlungsprinzipien ausgehend die konkrete Ausgestaltung und Durchführung sowohl von Beteiligung als auch politischer Bildung. In vielen Angeboten der Jugendarbeit finden sich politisch bildende Elemente und die Jugendarbeit bietet so einen niedrigschwelligen Zugang zum „Politischen“ und zur Möglichkeit politisch handelnd zu wirken.

Neben den bereits benannten Feldern der Jugendarbeit sind Jugendbildungsstätten als zentrale Orte politischer Bildung zu nennen. Aufsetzend auf die alltägliche Jugendarbeit können Jugendbildungsstätten vertiefende Bildungsprozesse gestalten. Mit ihren spezifischen Angeboten, ihrem Auftrag und ihren räumlichen und zeitlichen Bedingungen, bieten sie Jugendlichen die Möglichkeit, sich vertieft mit einem Thema zu beschäftigen und Bildung und Freizeit miteinander zu verbinden. Jugendbildungsstätten sind insbesondere auch für die in der politischen Bildung tätigen Haupt- und Ehrenamtlichen wichtige Orte, um neue und adäquate Methoden und das passende Rüstzeug für die alltägliche Arbeit zu erwerben.

Aktuelle Bedingungen politischer Sozialisation

Bei der Entwicklung von passgenauen Konzepten der politischen Bildung in der Jugendarbeit ist es erforderlich, die je aktuellen Bedingungen politischer Sozialisation zu berücksichtigen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem junge Menschen erstmals berechtigt sind, an politischen Wahlen teilzunehmen, haben sie individuell sehr unterschiedliche Erfahrungen in Hinsicht auf Selbstwirksamkeit und Partizipation gemacht. In welchem Maße sie Zugang zu Informationen über politische Zusammenhänge und Strukturen hatten, ob sie Diskussionen über politische Haltungen und deren Entstehungsprozesse erlebt haben, unterscheidet sich erheblich je nach familiärem Umfeld, Bezugspersonen, Bildungserfahrungen oder Sozialraum. Ihr Zutrauen in die eigenen Kompetenzen und das eigene politische Handeln sind daher sehr unterschiedlich ausgeprägt. Dieser Umstand ist entsprechend bei der Konzeptionierung von Angeboten zu berücksichtigen. Erfahrungen mit Fragen von Gerechtigkeit, sozialen Werten, Macht und Herrschaft haben aber alle Jugendlichen bereits gemacht – auch wenn sie diese zunächst nicht als politisch einordnen würden.

Individualisierung und Ungleichheit

Ein zentraler Aspekt für die politische Bildung ist der auf alle jungen Menschen wirkende Trend zur Individualisierung von Lebenslagen. Die Individualisierung bietet jungen Menschen – zumindest theoretisch – mehr Freiheiten in der Lebensgestaltung. Ob und wie diese genutzt werden können, hängt allerdings von zahlreichen Faktoren ab, nicht zuletzt von wirtschaftlichen. Zugleich ist diese Multioptionalität von dem Druck begleitet, in Eigenverantwortung weitreichende und komplexe Entscheidungen für die eigene Biografie treffen und umsetzen zu müssen. Mit dieser größeren und früher einsetzenden Selbstverantwortung geht eine Tendenz zur kontinuierlichen Selbstoptimierung einher. Jugendliche müssen gesellschaftliche Herausforderungen individuell meistern. Für ein mögliches „Scheitern“ wird die oder der Einzelne in höherem Maße als früher selbst verantwortlich gemacht – sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in der subjektiven Wahrnehmung. Zugleich beeinflussen soziale Ungleichheiten – familiale und regionale Herkunft, sozialer Status, ethnische und nationale Zugehörigkeit, Geschlecht und körperliche Verfasstheit – soziale Teilhabechancen und Bedingungen politischer Bildung.

Institutionalisierung und Pädagogisierung im Kindes- und Jugendalter

Der Alltag Jugendlicher ist weitgehend vom Leben in und Erleben von Bildungsinstitutionen geprägt. Er ist stärker als früher pädagogisiert und institutionalisiert. Junge Menschen verbringen zunehmend mehr Zeit in formalen Bildungssettings und pädagogisch strukturierten Angebotsformen. Schulische und formale Qualifikationen werden – unabhängig vom Qualifikationsniveau – subjektiv bedeutsamer.

Vor diesem Hintergrund gewinnen solche Räume an Bedeutung, die ein freies Verfügen über die eigene Zeit und die Entlastung von Handlungszwängen ermöglichen[1]. Diese Freiräume bietet die Jugendarbeit, in dem sie mit ihren Angeboten jungen Menschen den Raum für das Verfolgen ihrer Interessen eröffnet, die Gestaltung durch Jugendliche zulässt und bei Bedarf pädagogisch begleitend zur Verfügung steht.

Die Institutionalisierung der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen bleibt aber nicht ohne Auswirkungen auf die Jugendarbeit. So besteht die Erwartungshaltung an sowie stellenweise das Erfordernis für die Jugendarbeit, stärker mit Schulen zu kooperieren und unter diesen veränderten Handlungsbedingungen Angebote der politischen Bildung zu entwickeln, die dem Profil der Jugendarbeit weiterhin entsprechen.

Digitalisierung

Mediatisierung und Digitalisierung[2] prägen Alltagswelten, Erfahrungs- und Handlungsräume von Jugendlichen. Sie sind dadurch mit verschiedenen Grenzverschiebungen konfrontiert: zwischen Öffentlichem und Privatem, zwischen Präsenz und Repräsentation, zwischen unterschiedlichen Wertesystemen. Erreichbarkeit, Reichweite, Geschwindigkeit und auch die Form von Informationen sowie politischen Statements haben sich erweitert und verändert. Digitale Kommunikation prägt auf vielfältige Weise das Aufwachsen und damit auch die politische Sozialisation. Digitale Medien insbesondere soziale Netzwerke gewinnen deutlich an Bedeutung in der Kommunikation junger Menschen. Dabei sind junge Menschen nicht auf die Rolle von Rezipientinnen und Rezipienten beschränkt, sondern können selbst politisch relevante Inhalte und Statements produzieren bzw. kommunizieren. Jugendliche nutzen die digitale Infrastruktur insbesondere zur Selbstpositionierung und Vernetzung. Sie positionieren sich zu gesellschaftlichen Diskursen, nutzen Plattformen, um sich mit politischen Themen auseinanderzusetzen und ermutigen andere zu Aktivitäten.

Zugleich sind junge Menschen gefordert, sich weitestgehend eigenständig in der Netzwerkkultur und in kommunikativ stark verdichteten Räumen zu behaupten. Ihre Chancen und Möglichkeiten, digitale Medien für Informationsbeschaffung und politische Beteiligung zu nutzen, hängen auch davon ab, ob die jungen Menschen über die erforderliche Medienkompetenz verfügen, z.B. die Relevanz und Seriosität von Informationen und Informationsquellen zu bewerten sowie zwischen Fakten und Meinungen zu unterscheiden. Diese Befähigungen hängen auch vom Bildungsstand und der sozialen Lage junger Menschen ab. Die Jugendarbeit kann hier durch medienpädagogische Angebote einen Beitrag leisten, Ungleichheiten entgegenzuwirken, Jugendlichen Möglichkeiten zur digitalen Kommunikation, der Nutzung sozialer Netzwerke und des Zugangs zu Informationsquellen zu bieten, aber auch eine Kritikfähigkeit im Umgang mit Medien und Informationen zu erlernen. Darüber hinaus besteht für die Jugendarbeit die Chance, ihre eigenen Beteiligungsprozesse sowie die Förderung der Mitwirkung an politischer Meinungsbildung und an Entscheidungen über digitale Konzepte auszuweiten. Die bereits bestehenden guten Beispiele sollten noch stärker in der Fläche der Angebote der Jugendarbeit Beachtung und Anwendung finden.

Ökonomisch und kulturell global vernetzte Gesellschaft

Jugendliche wachsen heute in ökonomisch und kulturell global vernetzten Gesellschaften auf. Diese sind neben der Komplexität von globalen wirtschaftlichen Verflechtungen von Informationsvielfalt, Wertepluralismus sowie beschleunigten gesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen z.B. durch Migration und Flucht geprägt. Insgesamt liegt die Herausforderung für den Prozess der politischen Bildung junger Menschen darin, diese Komplexität zu erkennen, zu verarbeiten, sich zu orientieren und eine Haltung zu entwickeln. Dabei bedarf es Geduld und Ambiguitätstoleranz, um dem menschlichen Bedürfnis nach einfachen Antworten nicht zu schnell nachzugeben. Dem Gefühl, äußeren Umständen ausgeliefert zu sein und sich ohnmächtig gegenüber der Komplexität globaler Zusammenhänge zu fühlen, setzt die Jugendarbeit etwas entgegen, indem sie in ihren Angeboten die Möglichkeit schafft, sich mit konkreten Themen – wie z. B. Klimawandel – auseinanderzusetzen und gemeinsam politische Forderungen und Aktionen zu entwickeln. Mit dieser Orientierung auf konkretes Handeln gibt die Jugendarbeit den Einzelnen die Möglichkeit, sich gemeinsam mit anderen in ein Verhältnis zu den als unbeeinflussbar und undurchschaubar empfundenen Umständen zu setzen und etwas zu verändern.

Herausforderungen – Schlussfolgerungen und Handlungsbedarfe

Partizipation ernstnehmen und umfassend realisieren

Angesichts der zuvor beschriebenen neuen und alten Herausforderungen und Rahmenbe-dingungen, unter denen sich die politische Sozialisation junger Menschen vollzieht, bleibt es Aufgabe der Jugendarbeit, mit ihren spezifischen Ansätzen, Formaten und Methoden, Orientierung zu ermöglichen, Prozesse verstehbar und transparent zu machen, sodass Jugendliche die Chance haben, für sich Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Damit sie in der Praxis der Jugendarbeit verlässlich und nachhaltig demokratische Prozesse und Handlungsoptionen erleben können, sind entsprechende Freiräume erforderlich, die von den verantwortlichen Erwachsenen und gesellschaftlichen Akteuren ermöglicht und unterstützt werden müssen. Das heißt, die Rahmenbedingungen von Jugendarbeit müssen so gestaltet werden, dass insbesondere die erfahrungs- und handlungsbezogenen Ansätze der Jugendarbeit zum Tragen kommen. Besonders wichtig ist dabei die umfassende und ernsthafte Beteiligung junger Menschen an Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen. Das bedeutet auch, Beteiligung nicht als (temporäres) Projekt, sondern als Alltagsgeschäft und strukturelles Selbstverständnis zu begreifen. Fachlich fundierte Jugendarbeit fragt als erstes, was wünschen "meine" Jugendlichen und konzipiert dann auf dieser Grundlage gemeinsam mit den jungen Menschen das konkrete Angebot. Kurz gesagt: sie stellt die subjektive Relevanz für Jugendliche und junge Erwachsene in den Mittelpunkt. Darüber hinaus wirkt Jugendarbeit politisch bildend, wenn sie individuelle Interessen junger Menschen in einen gesellschaftspolitischen Kontext stellt. So leistet die Jugendarbeit einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung junger Menschen als gesellschaftlich handelnde Akteure und Akteurinnen.

Die AGJ ist der Auffassung, dass die Jugendarbeit bereits heute auf die veränderten Anforderungen zu einem großen Teil gut eingestellt ist. Sie sieht aber auch die Notwendigkeit, die Rahmenbedingungen von Jugendarbeit besser und verlässlicher auszugestalten, damit Jugendarbeit ihre beschriebenen Wirkungen optimal entfalten kann. Zudem sieht die AGJ auch das Erfordernis, die Möglichkeiten zur Verstärkung der Mitbestimmung und Partizipation in der Jugendarbeit und ihren Angeboten weiterhin zu überprüfen und weiterzuentwickeln und so das Potenzial zur politischen Bildung in der Jugendarbeit zu erhalten.

Das politische Engagement Jugendlicher anerkennen und stärken

Viele junge Menschen haben Interesse an politischen Themen. Grundsätzlich sollten gesellschaftliche Akteure und Akteurinnen Handlungen, mit denen Jugendliche sich in kritischer, verändernder und gestaltender Absicht auf ein Gemeinwesen beziehen, stärker als politisches Handeln anerkennen und unterstützen. Es sollten verstärkte Anstrengungen unternommen werden, damit möglichst viele junge Menschen die Erfahrung machen können, dass politisches Engagement möglich ist, Spaß bringt, gemeinsam gestaltet werden und erfolgreich sein kann. Das Potenzial diese Angebote zu schaffen, nutzt die Jugendarbeit, denn sie gibt innovativen und kreativen Formen des politischen Handelns Raum und verfügt über die dazu notwendigen Praxiserfahrungen.

Damit die Jugendarbeit dieses Potenzial noch besser entfalten kann, bedarf es einer Verbesserung ihrer Handlungsbedingungen. Aus Sicht der AGJ kann hierzu eine bessere Ausstattung der Jugendarbeit, eine stärkere Berücksichtigung der politisch bildenden Funktion der Jugendarbeit in der Jugendhilfeplanung sowie eine entsprechende Berücksichtigung der Themen Partizipation und politische Bildung in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Fachkräften beitragen.

Mitbestimmungsprozesse systematisch verankern

Auch wenn Jugendarbeit heute schon zur politischen Bildung junger Menschen in erheblichem Umfang beiträgt, ist es doch notwendig, mit Blick auf die veränderten Herausforderungen des Aufwachsens zu prüfen, ob und wenn ja wie die Angebote noch besser zur politischen Bildung junger Menschen beitragen können und was hierfür ggf. an Veränderung, Methodik und Rahmenbedingungen erforderlich ist.

Notwendig ist ein Selbstverständnis der Träger und der Fachkräfte der Jugendarbeit, auch Akteurinnen und Akteure politischer Bildung zu sein und diesen immanenten jugendpolitischen Auftrag wahrzunehmen. In der Praxis bedeutet dies, Jugendlichen zuzutrauen, Entscheidungen selbst zu treffen, und als Erwachsene oder Erwachsener die eigene Machtposition kritisch zu reflektieren, Machtverhältnisse transparent zu machen und auch: Macht abzugeben. Grundlegend sollte die Frage gestellt werden, wie junge Menschen in den jeweiligen Angeboten beteiligt werden können bzw. wie ihnen Mitbestimmung über das Angebot ermöglicht werden kann.

Die Frage der Mitbestimmung geht aber über die Gestaltung konkreter Angebote hinaus. Ob im Jugendhilfeausschuss oder in anderen politischen Kontexten: Der Einbezug der jungen Menschen unmittelbar oder durch ihre demokratischen Interessenvertretungen ist von zentraler Bedeutung und gesetzlicher Auftrag. Oftmals werden Bestrebungen der Fachkräfte, die Angebote mit den Jugendlichen gemeinsam zu planen, gestalten und auf die Bedürfnisse und Wünsche der Jugendlichen einzugehen, durch strukturelle Rahmenbedingungen erschwert. Mittelbewilligungen erfordern beispielsweise oftmals detaillierte Beschreibung der geplanten Angebote und erschweren so die Mitbestimmung der Jugendlichen. Hier besteht für die Fachkräfte ein Dilemma. Unterstützende Wirkung kann in diesem Prozess unter anderem die Haltung des Trägers zu Partizipation, die fachliche Begleitung durch den Träger und die Ermöglichung von Weiterbildungen der Fachkräfte haben. Es bedarf hier zusätzlich auch der Weiterentwicklung der grundlegenden Förderpolitiken, damit die beantragten Projekte in der Konzeption hinreichend offen für die Beteiligung junger Menschen an Planung und Durchführung sein können.

Die Kinder- und Jugendarbeit hat wie die gesamte Kinder- und Jugendhilfe den Auftrag, die Belange von Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Kontexten anwaltschaftlich zu vertreten. Hier braucht es in allen Handlungsfeldern einen Diskurs zu der Frage, was dies in Bezug auf das Thema politische Bildung für Strategien der politischen Lobbyarbeit und Kommunikation der Akteure konkret bedeutet und erfordert. Es lässt sich festhalten, dass aus Sicht der AGJ anwaltschaftliche Vertretung nicht ohne Beteiligung der Betroffenen erfolgen kann. Ziel muss es sein, Interessenvertretung zum Gegenstand erlebbarer Selbstpositionierung und Selbstwirksamkeit zu machen und so junge Menschen selbst zum politischen Faktor werden zu lassen.

Diversität wahrnehmen, anerkennen und Inklusion stärken

Gegenwärtig profitieren mehrheitlich Jugendliche, die etablierte Beteiligungsformen für sich nutzen können, von den partizipativen Arbeits- und Engagementformen der Jugendarbeit, die für die politische Bildung bedeutsam sind. Hinzu kommt, dass Peer-Kontexte zunehmend sozial und kulturell homogener werden. Benachteiligte Jugendliche sind in den Engagementformen der Jugendarbeit häufig unterrepräsentiert. Dies hat seine Ursache nicht in mangelndem Interesse der betroffenen Jugendlichen, sondern häufig in fehlenden Zugängen, also in strukturellen Barrieren und nicht passgenauen Angeboten. Hieraus ergibt sich ein Handlungsbedarf in allen Feldern der Jugendarbeit. Neben strukturellen Hindernissen zur Partizipation Jugendlicher müssen Barrieren abgebaut werden, die aufgrund sozialer oder anderer Merkmale und Zuschreibungen entstehen. Aus Sicht der AGJ bestehen gute Möglichkeiten mehr junge Menschen zu beteiligen, wenn die von Trägern der Jugendarbeit erprobten und bewährten Methoden und Ansätze noch stärker auf die Vielfalt der Zielgruppe orientiert würden und in der Breite der Angebote Berücksichtigung fänden. Dies schließt mit ein, Selbstorganisationen bislang nicht hinreichend berücksichtigter Gruppen junger Menschen stärker einzubeziehen.  

Digitalisierung nutzen

Digitalisierung und damit einhergehende Prozesse der Veränderung der Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen, der Kommunikationsstrukturen und -schnelligkeit ist in der Jugendarbeit - wie in der Jugendhilfe insgesamt - ein noch zu wenig beachtetes Thema. Gerade die veränderten Vergemeinschaftungsformen, Kommunikationswege und -inhalte bei jungen Menschen und damit einhergehend auch die Inhalte und Formen sowohl von politischer Bildung als auch von Partizipation und Mitbestimmung sind stärker zu beachten und in die Weiterentwicklung der alltäglichen Arbeit einzubeziehen. Es ist daher aus Sicht der AGJ eine gewichtige Herausforderung für die Jugendarbeit, sich mit der Digitalisierung und ihren Folgen zu befassen. Diese Herausforderung zu bewältigen wird dazu beitragen, auch die politische Bildung durch die Jugendarbeit weiterzuentwickeln, die Beteiligung junger Menschen zu verbessern und die Netzpolitik zu befördern.

Politik stellt junge Menschen in den Fokus

Ein wichtiges Feld der politischen Bildung ist die unmittelbare Beteiligung junger Menschen an der politischen Gestaltung der Gesellschaft. Dieser Ansatz findet sich in der Entwicklung einer Eigenständigen Jugendpolitik. Deren Ziel ist es, gerechtes, politisches und gesellschaftliches Handeln nicht aus der Perspektive von Zuständigkeiten, sondern ausgehend von den Lebenslagen junger Menschen, ihren Interessen und der gemeinsamen Verantwortung für eine jugendgerechte Gesellschaft zu denken. Sie setzt dabei ganz wesentlich auf die unmittelbare Mitwirkung junger Menschen und schafft hierfür Gelegenheiten. Die zur Umsetzung der Eigenständigen Jugendpolitik initiierte Jugendstrategie „Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft“ und ihre einzelnen Maßnahmen und Vorhaben wie der Jugend-Check sind wichtige Instrumente, um auf Bundesebene jugendgerechte Politik und einen ressortübergreifenden Blick auf die Interessen Jugendlicher zu befördern. Die Eigenständige Jugendpolitik in den Ländern und in den Kommunen hilft dabei, auch die Landes- und Kommunalpolitik verstärkt unter dem Blickwinkel der Interessen junger Menschen zu betrachten und junge Menschen konkret in Politikausgestaltung einzubinden, damit sie auf politische Entwicklungen gezielt Einfluss nehmen können. Diese Bestrebungen zur Weiterentwicklung einer eigenständigen Jugendpolitik müssen nach Auffassung der AGJ flächendeckend und auf allen Ebenen weitergeführt und unterstützt werden. Sie bieten erfolgversprechende Ansätze für eine Intensivierung auch der politischen Bildung junger Menschen.

Strukturelle und institutionelle Entwicklungen und Rahmenbedingungen der politischen Bildung

Im politischen und gesellschaftlichen Diskurs wird vermehrt die Weiterentwicklung und der Ausbau politischer Bildung gefordert. Mit Blick auf die Praxis ist festzuhalten, dass positive Weiterentwicklungen von Formaten, Zielgruppenbezügen und Themen der politischen Bildung erkennbar sind. Auf Ebene des Bundes, der Länder und der Kommunen gibt es positive Beispiele dafür, diese Entwicklung zu unterstützen und zu fördern. Hier gilt es weiterhin an Strategien zu arbeiten und sich zu vernetzen. Die AGJ sieht in diesen positiven Beispielen gute Ansatzpunkte und zugleich auch das Erfordernis, entsprechende Konzeptentwicklungen für einen Ausbau politischer Bildung in der Jugendarbeit mehr in den Fokus zu rücken und zu fördern. Damit wäre es möglich, die politische Bildung junger Menschen durch Jugendarbeit in der Fläche auszubauen. Nach Einschätzung der AGJ besteht darüber hinaus auch der Bedarf nach weiteren konzeptionellen Impulsen, die durch Wissenschaft und Praxis sowie in deren Zusammenwirken entwickelt und umgesetzt werden sollen. Die öffentlichen Träger der Jugendhilfe, die Länder und der Bund haben in diesem Zusammenhang die Aufgabe, entsprechend neue Ansätze in der Praxis zu ermöglichen, sie zu fördern sowie Weiterentwicklungen anzuregen und zu unterstützen.

Zum Schluss

Zusammenfassend stellt die AGJ fest, dass die Wiederbelebung der Debatte zur politischen Bildung vordergründig neuen politischen Verwerfungen geschuldet ist, diese Debatte aber Anlass bietet, mit Blick auf das Politische der Jugendarbeit die Praxis der Jugendarbeit noch einmal genauer zu beleuchten.

Dabei kommt die AGJ zu der Einschätzung, dass sich der Impuls zur stärkeren Betrachtung des Politischen und zur Entwicklung von politischer Bildung in der Jugendarbeit bereits auswirkt. Auf allen staatlichen Ebenen finden sich hierfür Initiativen und Anstöße. In der Praxis der Jugendarbeit und ihrer Träger gibt es ein entsprechendes Bewusstsein für die Herausforderungen und vielfältige Initiativen.

Es muss aber auch festgehalten werden, dass diese positiven Impulse und Praxen noch keine flächendeckende Wirkung entfaltet haben. Hier bedarf es aus Sicht der AGJ noch einmal einer gründlichen Reflexion der Förderstrategien, der Planungsprozesse und der Praxisentwicklung im Hinblick auf die Frage, ob die Zielstellung, die Potenziale der Jugendarbeit für die politische Bildung junger Menschen stärker zu realisieren, schon ausreichend expliziert und mit den notwendigen Gelingensbedingungen hinterlegt ist. Nachfolgende Prüffragen können helfen, auf den unterschiedlichen Ebenen zu erörtern, ob dies der Fall ist oder wo ggf. Nachsteuerungsbedarfe bestehen:

Stehen ausreichende Fördermittel für die gezielte Weiterentwicklung derjenigen Aspekte der Jugendarbeit, die zur politischen Bildung Jugendlicher beitragen, bereit? Gibt es auf der Ebene der staatlichen Akteure und Akteurinnen Konzepte zur Weiterentwicklung von politischer Bildung in der Jugendarbeit? Findet die Aufgabe, politische Bildungsprozesse Jugendlicher im Rahmen der Jugendarbeit zu stärken, im notwendigen Umfang Berücksichtigung in Fortbildungskonzepten? Werden die Prinzipien der Beteiligung und Mitbestimmung junger Menschen umfassend und wirkungsvoll in den Angeboten der Jugendarbeit angewandt? Ist die Methodik der Partizipation von Anfang bis Ende (von der Planung bis zur Durchführung von Angeboten) gewährleistet? Wird in diesen Prozessen von Trägern und Fachkräften Macht abgegeben und mit den Jugendlichen geteilt? Stehen tatsächlich die Interessen und Bedarfe junger Menschen im Fokus oder dominieren übergeordnete Interessen an Bildungsförderung und Herstellung gesellschaftlicher Passfähigkeit? Tragen die Akteure und Akteurinnen auf allen Ebenen (bei staatlichen Stellen und freien Trägern) ausreichend dazu bei, jungen Menschen Handlungsoptionen zu eröffnen, und begleiten sie diese achtsam in der Umsetzung? Zielen die Formate und Angebote der politischen Bildung auf die Herstellung von Selbstermächtigung?

Die AGJ erhofft sich von der Diskussion dieser Fragen neue Impulse für die Etablierung von mehr Mitbestimmung, Partizipation und politischer Jugendbildung. Sie geht auch davon aus, dass die dauerhafte Ausgestaltung unserer Demokratie in einer von Vielfalt geprägten Gesellschaft vor allem junge Demokratinnen und Demokraten braucht und die Jugendarbeit dabei einen wichtigen Beitrag leisten kann.

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 07./08. Dezember 2017

 

[1] In diesem Zusammenhang kann das AGJ-Diskussionspapier „Freiräume für Jugend schaffen!“ (01./02. Dezember 2016) erwähnt werden.
[2] Zum Thema Mediatisierung und Digitalisierung kann auf zwei AGJ-Papiere hingewiesen werden: „Mit Medien leben und lernen – Medienbildung ist Gegenstand der Kinder- und Jugendhilfe!“ (04./05. Dezember 2014) und „Digitale Lebenswelten. Kinder kompetent begleiten!“ (29. September 2016)