Jugend stärken –
auch und gerade unter Corona-Bedingungen unerlässlich!

Zwischenruf der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Zwischenruf als PDF

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie forderten und fordern jede*n Einzelne*n zum Verzicht. Die Kontaktbeschränkungen seit März 2020 führten und führen zu massiven Einschnitten ins soziale, aber auch wirtschaftliche Leben. Nachdem zunächst der Schwerpunkt politischen Handelns auf dem notwendigen Infektionsschutz lag, finden in der aktuellen Phase der Öffnung auch wieder stärker andere Belange Berücksichtigung. Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ fordert Politik und Gesellschaft auf, die Interessen und Bedarfe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen umfänglich ernst zu nehmen und diese keinesfalls als überzogene Befindlichkeiten abzutun bzw. auf Teilhabebedingungen am formalen Bildungssystem zu beschränken. In der Gestaltung der sie berührenden Angelegenheiten sind junge Menschen einzubeziehen. Diese Krise zeigt einmal mehr, dass Jugendpolitik alle Ressorts berührt und Beteiligung unerlässlich bleibt.
Die öffentliche und mediale Debatte über die gravierenden Auswirkungen der Corona-Maßnahmen für Kinder und Familien als Ganzes bezieht bislang nur punktuell den Beitrag der Jugend [1] zur Bewältigung der Krise ein. Doch Jugendliche und junge Erwachsene übernehmen auch in diesen schweren Zeiten Verantwortung und entsprechen gerade nicht dem pauschalen Bild der Corona-Partygänger*innen oder Randalierer*innen[2]. Die AGJ möchte daher ihren Dank gegenüber den vielen jungen Menschen wiederholen, die sich seit Monaten besonders für Betroffene und durch das Virus Gefährdete engagieren, durch ihr Tun die negativen Folgen der Pandemie in den alltäglichen Lebenswelten vieler Menschen auffangen, Nachbar-schaftshilfe im Netz und Sozialraum leisten, Zuversicht und Optimismus vermitteln[3].

1. Jugend muss möglich bleiben

Die Corona-Krise trifft Jugendliche und junge Erwachsene in einer Entwicklungsphase, die durch die Kernherausforderungen Qualifizierung, Verselbstständigung und Selbstpositio-nierung geprägt ist[4]. Die Einhaltung der Gesundheitsvorgaben war und ist mit massiven Einschränkungen in allen drei Bereichen verbunden: Beschulungseinschnitte, (drohender) Ausbildungsplatzverlust, wegfallende Jobs, eine sich in vielen Familien verschärfende wirtschaftliche Notlage, der plötzliche Abbruch von Freiwilligendiensten im In- und Ausland, die fehlende Möglichkeit, sich mit Freund*innen treffen zu können aber auch der geforderte Rückzug in die Kleinfamilie und daraus resultierend die eingeschränkten Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung und Persönlichkeitsentfaltung, sowie die verbreitete Alternativlosigkeit und Einteilung in Vernünftige und Unvernünftige in der Krisenbewältigung haben Rückwirkungen auf die Identitätsfindung der 12- bis 27-Jährigen. Anders als viele Erwachsene zu glauben scheinen, sind junge Menschen durch die Corona-Pandemie verunsichert und belastet[5]. Unklar ist auch noch, ob und inwieweit junge Menschen während der Phase der starken Einschränkungen verstärkt Opfer oder Zeuginnen und Zeugen häuslicher Gewalt geworden sind, da bislang viele der Vertrauenspersonen nur sehr eingeschränkt erreichbar sind.

Corona führt zum Wegfall jugendspezifischer Lebensstile und strukturierender Geschehnisse, die in der Jugendphase eigentlich selbstverständlich sind. Noch weitestgehend unerforscht sind die psychischen Folgen in der Entwicklungsphase Jugend[6]. Aus vergangenen Krisen wie bspw. der Finanzkrise 2009 ist bekannt, dass junge Menschen beim Eintritt in das Erwerbsleben besonders gefährdet sind und ein Scheitern dieses Übergangs negative Auswirkungen auf ihre gesamte Erwerbsbiographie, ihre Gesundheit und ihre private Zukunftsplanung haben kann[7]. Junge Menschen mahnen außerdem zurecht an, nicht auf ihre Rolle als Schüler*innen und Studierende reduziert werden zu wollen[8]. Der Austausch mit Peers sowie außerfamiliären erwachsenden Bezugspersonen, der Aufbau und die Erfahrung von Vertrauen durch Kontakte und erlebte Nähe stabilisieren den Weg zur Selbstfindung. Diese Kontakte lassen sich weder durch digitale Alternativangebote auffangen, noch lassen sie sich nachholen.

Die Auswirkungen der Corona-Krise auf junge Menschen verdienen folglich mehr Aufmerksamkeit in den politischen und gesellschaftlichen Debatten. Dabei geht es nicht darum, eine Polarität zu den Erfordernissen des Gesundheitsschutzes aufzubauen. Insbesondere mit Blick auf mögliche weitere Pandemiewellen braucht es aus Sicht der AGJ jedoch einen respektvollen Diskurs darüber, wie Lebenswelten jenseits von Arbeit, Qualifikation und Kernfamilie erreichbar bleiben. Bezogen auf die Jugend sind die Entwicklungsherausforderungen Verselbstständigung und Selbstpositionierung anders nicht erfolgreich zu bewältigen. Es geht darum eine positive Entwicklung der individuellen Lebenswege junger Menschen zu ermöglichen, letztlich aber auch um die Prägung einer Generation. Kindern und Jugendlichen darf zum einen nicht der Eindruck vermittelt werden, dass sie ausschließlich in der Kernfamilie im Sinne des Infektionsschutzes gut aufgehoben sind und zum anderen Bildungs- und Betreuungsangebote vor allem deshalb geöffnet werden, damit ihre Eltern arbeiten können.

2. Mit Wumms aus der Krise verlangt das Gestalten einer lebenswerten Zukunft

Mit der Corona-Krise wird auch die Hoffnung verbunden, die hier gemachten Erfahrungen könnten langfristige gesellschaftliche Veränderung anstoßen – etwa zugunsten sozialer Rücksichtnahme, im Nutzen der Potentiale von Digitalisierung oder einer nachhaltigen Klimapolitik. Die AGJ teilt diesen Wunsch und spricht sich auch im Namen der jungen Menschen für die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft aus [9]. Entsprechende Investitionsprogramme müssen durch die „Jugendbrille“ betrachtet, bewertet und gegebenenfalls ergänzt werden.

Unterstützung für junge Menschen

Aus Sicht der AGJ ist der Fokus hier zum einen auf ein Abfangen der sich durch Corona nochmals verschärfenden sozialen Ungleichheit zu legen. Gleichzeitig zu den sich stets auf die ganze Familie auswirkenden ökonomischen Folgen, die sich aus den veränderten Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit[10] ergeben, ist die Bedeutung individueller Ressourcen (Unterstützung bei Lernprozessen zuhause, Verfügbarkeit digitaler Endgeräte als Zugang zur Teilhabe an Bildung und sozialem Kontakt, Rückzugsräume trotz beengter Wohnverhältnisse) nochmal gestiegen, da entsprechende Infrastruktur im öffentlichen Raum wegfiel bzw. weniger zugänglich wurde.

Aus Sicht der AGJ ist daneben aber auch ein Fokus auf die Unterstützung junger Menschen in sogenannten Übergangssituationen zu legen. Neben qualifikationsbezogener Unterstützung (Digitalpakt für Bildung unter Berücksichtigung der Schulen sowie der Einrichtungen der Jugendberufshilfe und der Jugendsozialarbeit, Alliance für Aus-/Weiterbildung wegen des drohenden Wegfalls entsprechender Plätze in Privatwirtschaft und als Ersatz von Einsatzstellen in Freiwilligendiensten und ähnlichem), sind zwingend auch andere Bedarfe junger Menschen zu berücksichtigen. Dazu gehört es, Ferien als Freiraum für Freizeit und selbstgewählte Aktivitäten zur Persönlichkeitsentfaltung erleben zu können. Die AGJ bestärkt die Akteur*innen in den Ländern und Kommunen hier nicht auf zusätzliche Beschulungsmaßnahmen zu setzen, sondern auch wohnortnahe Freizeiten sowie Ferienlager zuzulassen. Entsprechende Hygienekonzepte werden von den Trägern der Jugendarbeit trotz der heterogenen Regelungslage erarbeitet[11]. Deutlich wird auch, dass die jungen Menschen stark verunsichert sind und mehr Unterstützung denn je beim Übergang in die Selbstständigkeit brauchen (zum Beispiel Beratung bei notwendigen Behördenkontakten, bei der Wohnungssuche oder Wohnortwechsel, bei in Frage gestellten Lebensentwürfen). Junge Menschen in prekären Lebenslagen – ohne familiäre Unterstützung, in den Hilfen zur Erziehung, Wohnungslose, Care Leaver, junge Menschen mit Behinderungen und junge Geflüchtete sind am härtesten betroffen. Sie brauchen praktischen Beistand, der sie aufsucht und Kontakt hält, die kurzfristigen Regelungsänderungen immer wieder neu erklärt und notwendige Hilfezugänge eröffnet.

Unterstützung der Strukturen für junge Menschen

Bereits an anderer Stelle hat die AGJ zudem betont, wie wichtig es ist, dass auch die Kümmer*innen Hilfe erhalten, damit die Infrastruktur von Angeboten und Unterstützung junger Menschen nicht wegbricht[12]. Mit bemerkenswertem Engagement und Einfallsreichtum haben sich Träger, Fachkräfte und engagierte junge Menschen Wege des Umgangs mit den Kontaktbeschränkungen überlegt und Möglichkeiten gefunden, durch Jugend(sozial)arbeit auch unter Corona-Bedingungen weiter wirksam sein zu können[13]. Bund, Länder, aber auch Kommunen haben Maßnahmen zur Sicherung dieser Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe auf den Weg gebracht[14], was die AGJ ausdrücklich begrüßt. Aus den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe gehen jedoch die Hinweise ein, dass bei der Umsetzung vom SodEG auf Kurzarbeit, von Kurzarbeit auf die Möglichkeit der Neuverhandlung der geltenden Entgelte (§ 78d Abs. 3 SGB VIII, 127 Abs. 3 SGB IX) und von dort auf das SodEG verwiesen werde. Gemeinnützige Organisationen könnten durch die zur Verfügung gestellten Darlehen ihre Einnahme- und Eigenmittelverluste nicht auffangen, da sie diese absehbar nicht zurückzahlen können; das Aufbrauchen der ohnehin geringen Rücklagen gemeinnütziger Organisationen erschwert die Planungen für die kommenden Jahre. Die aktuelle Deckelung der Zuschüsse mache nur eine Überbrückung kurzfristiger Liquiditätsengpässe möglich. Mittelfristige Strukturerhaltung scheint erst durch die sogenannten Billigkeitsleistungen in einigen Ländern und die versprochene Strukturstärkung durch das Sonderprogramm des Bundes möglich. Hier wird es entscheidend darauf ankommen, wie der Bund das Programm bis September konkret ausgestaltet und die zusätzlichen 100 Millionen Euro zur Verfügung stellt. Die AGJ warnt zudem bereits jetzt vor einem Wiedererstarken der Legende der „freiwilligen“ Leistungen aufgrund von kommunalem Haushaltsdruck. Auch die (analogen) Strukturen der Jugendarbeit, der Familienbildung und -freizeit werden (nicht nur) für die Zeit „nach Corona“ weiter gebraucht!

3. Beteiligung junger Menschen braucht Krisenfestigkeit

Die AGJ fordert eine fortwährende, wirksame und ernstgemeinte Jugendbeteiligung auf allen staatlichen Ebenen, um eine auf die Bedürfnisse und Interessen von Jugendlichen ausgerichtete Politik etablieren zu können[15]. Die Corona-Krise hat die Brüchigkeit dieses Anspruches aufgedeckt. Aufgrund des hohen Zeitdrucks der zu treffenden Entscheidungen wurden Beteiligungsverfahren vom Parlament, über die Jugendhilfeausschüsse bis in die Jugendbeteiligungsgremien von Kommunen und Einrichtungen ausgesetzt. Diese Tendenz muss nun wieder umgekehrt, die Perspektiven Jugendlicher und junger Erwachsener gehört und in politische Konzepte einbezogen werden. Es braucht einen Generationendialog, der die in der Öffentlichkeit verbreiteten Zuspitzungen „Jung gegen Alt“ kritisch aufgreift, für realistische Bilder einer vielfältigen Jugendgeneration eintritt und in dem gemeinsam diskutiert wird, wie Alltag in der Krise gestaltet werden kann. Das gilt auf allen staatlichen Ebenen, in den unterschiedlichsten Politikfeldern und selbstverständlich auch innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe selbst. Die Eigenständige Jugendpolitik bietet auch in Krisenzeiten ausreichend Anknüpfungspunkte für jugendgerechtes Handeln, dies muss von den verantwortlichen Akteur*innen jedoch auch gewollt und umgesetzt werden.

Geschäftsführender Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 14. Juli 2020

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Fußnoten

* Ansprechperson für diesen Zwischenruf in der AGJ ist die stellvertretende Geschäftsführerin: Angela Smessaert (angela.smessaert@agj.de).
[1] Im Folgenden werden die Begriffe Jugendliche, junge Erwachsene, junge Menschen und Jugend für die Beschreibung der Lebensphase zwischen 12 und 27 Jahren genutzt.
[2] Salihi, 04/2020, Jugendbilder in Zeiten von Corona: Engagement, Verantwortung und Solidarität – jenseits von Corona-Partys, zum Artikel hier klicken (HTML)
[3] AGJ, 03/2020: Zwischenruf „Wenn Kümmerer*innen selbst Hilfe brauchen… Die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Kinder- und Jugendhilfe“, S. 2, zum Zwischenruf hier klicken (HTML)
[4] 15. Kinder- und Jugendbericht (PDF), 08/2016: „Zwischen Freiräumen, Familie, Ganztagsschule und virtuellen Welten – Persönlichkeitsentwicklung und Bildungsanspruch im Jugendalter“, BT-Drs. 18/11050.
[5] Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, 06/2020: Zwischenergebnis aus Studie C19.CHILD Hamburg (HTML).
[6] Erste Einschätzungen liefert der Forschungsverbund Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit, 05/2020: „JuCo-Studie“, hildok.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/docId/1078
[7] Vergleiche Bundesjugendkuratoriums, 03/2020: Zwischenruf „Unterstützung von jungen Menschen in Zeiten von Corona gestalten!“ (PDF).
[8] JuCo-Studie, 03/2020, S. 12.
[9] AGJ, 07/2020: Positionspapier „Jugend braucht mehr! – Eigenständige Jugendpolitik voranbringen und weiterdenken“, S. 10, www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2020/Jugend_braucht_mehr.pdf.
[10] Vergleiche etwa Forschungsverbund der Mannheimer Corona-Studie, 04/2020: Schwerpunktbericht zur Erwerbstätigkeit in Deutschland (PDF).
[11] Beispielsweise Bayerischer Jugendring, 07/2020: 2. Version von Empfehlungen für die Erstellung eines Gesundheitsschutz- und Hygienekonzepts (HTML).
[12] AGJ, 03/2020: Zwischenruf „Wenn Kümmerer*innen selbst Hilfe brauchen… Die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Kinder- und Jugendhilfe“.
13Forum Transfer, Sammlung von Praxisbeispielen für Kinder- und Jugendarbeit in Corona-Zeiten (HTML); Voigts, 06/2020, Gestalten in Krisenzeiten: „Der Lockdown ist kein Knock-Down!“ – Erste Ergebnisse einer empirischen Befragung von Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Hamburg in geschlossenen Zeiten (PDF).
[14] Vergleiche zum Beispiel Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 07/2020, Fact Sheet (PDF) und Schaubild (PDF) zur Unterstützung für gemeinnützige Organisationen im Bereich des BMFSFJ in der Coronavirus-Pandemie.
[15] AGJ, 07/2020: Positionspapier „Jugend braucht mehr! – Eigenständige Jugendpolitik voranbringen und weiterdenken“, S. 14.