Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher vom 09. Juni 2015

AGJ-Stellungnahme

Stellungnahme als PDF


I. Vorbemerkungen

Zentraler Inhalt des vorliegenden Referentenentwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher vom 09. Juni 2015 (RefE) ist die Einführung eines bundesweiten Verteilungsverfahrens nach dem Königsteiner Schlüssel. Zu dieser grundlegenden politischen Entscheidung, die zwischen Bund, Ländern und Kommunen getroffen wurde, positioniert sich die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ im Folgenden nicht. Zwischen ihren Mitglie-dern bestehen unterschiedliche Auffassungen, ob das Verteilungsverfahren die angemessene und fachgerechte Lösung der durch die ungleiche Belastung einzelner Kommunen bei der Bewältigung des Flüchtlingszustroms darstellt. Unbenommen dessen möchte die AGJ aus fachlichen Gründen zu einigen Aspekten der vorgeschlagenen Umsetzung des Verteilungsverfahrens Stellung nehmen.

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ begrüßt und unterstützt  ausdrücklich, dass dem RefE zugrundeliegende Anliegen, an der Primärzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für diese Kinder und Jugendlichen festzuhalten und das Verfahren, an den Bedürfnissen der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu orientieren. Die AGJ ist jedoch besorgt, dass diese Zielsetzung mit der Festlegung, dass Kindeswohlkriterien allein zum Ausschluss der Verteilung führen können (§ 42b Abs. 4 SGB VIII-RefE), nicht erreicht werden kann (dazu insbesondere unter IV. 1.).

Die AGJ begrüßt die über die Änderungen zu § 6 Abs. 2 SGB VIII-RefE beabsichtigte Klarstellung zum territorialen Geltungsbereich des SGB VIII, bittet aber um eine Überprüfung der gewählten Formulierungen (dazu unter II.).

Für richtig hält die AGJ ferner, dass für das Verteilungsverfahren die enge Höchstfrist von einem Monat (§ 42b Abs. 4 Nr. 4 RefE) vorgesehen ist, die während des ersten Jahres auf zwei Monate verlängerbar ist (§ 42d Abs. 3 RefE). Innerhalb des Verteilungsverfahrens stellt eine zügige Entscheidung den Schlüssel für eine Kontinuität der Lebensumstände und der Betreuung dar. Nicht genügend abgesichert erscheint der AGJ jedoch die mit der Einführung von Höchstfristen einhergehende Gefahr, dass notwendige Klärungsprozesse im Einschätzungsverfahren nach § 42a Abs. 2 SGB VIII-RefE abgekürzt werden könnten, um ein dauerhaftes Zuständigwerden zu vermeiden (dazu ebenfalls unter IV. 1.).

Ausdrücklich unterstützt die AGJ schließlich die Heraufsetzung der Altersgrenze für Verfahrenshandlungen im AufenthG und AsylVerfG (Art 2, 3 RefE).

II. Änderungen zum Geltungsbereich (§ 6 Abs. 2 SGB VIII-RefE)

Die AGJ begrüßt, dass durch eine Änderung des § 6 Abs. 2 SGB VIII eine Klarstellung des Geltungsbereichs des SGB VIII erreicht werden soll. Sie unterstützt die Klarstellung in § 6 Abs. 2 S. 1 RefE, dass für unbegleitete ausländische Minderjährige Leistungen ungeachtet ihres Aufenthaltsstatus und der Dauer ihres Aufenthalts im Inland zu gewähren sind. Sie begrüßt ferner die über § 6 Abs. 2 S. 2 RefE erfolgende Anpassung des SGB VIII an das bereits von Deutschland ratifizierte internationale Recht (Brüssel IIa-VO, Haager Kinderschutzübereinkommen).

Die AGJ wirbt allerdings für eine über den RefE bislang hinausgehende Gleichstellung von begleiteten und unbegleiteten ausländischen Kindern und Jugendlichen innerhalb der Regelung zum Geltungsbereich. Sie ist der Meinung, dass auch begleiteten Kindern und Jugendlichen, unabhängig vom Aufenthaltsstatus ihrer Eltern, notwendiger Schutz und bei Bedarf auch notwendige Hilfe geleistet werden sollte. Dies könnte durch eine Streichung des Wortes „unbegleitet“ in S. 1 sowie eine Streichung des S. 2 erreicht werden.

Zu bedenken gibt die AGJ ferner, dass die vorgeschlagenen Formulierungen in § 6 Abs. 2 S. 1 und S. 2 SGB VIII-RefE nur Leistungen erfasst, deren Rechtsinhaber die ausländischen Kinder und Jugendlichen selbst sind (hier also insbesondere gem. §§ 24, 35a SGB VIII). Auf die Leistung Hilfe zur Erziehung (§ 27 SGB VIII) erstreckt sie sich nicht, denn diese wird den Personensorgeberechtigten gewährt. Dieses Problem wird durch die Formulierung in S. 3 noch einmal verschärft. Anders als intendiert, erfasst diese nämlich nicht nur junge Volljährige i.S.d. § 41 SGB VIII, sondern alle „volljährigen Ausländer“.

III. Notwendige Begriffsklarstellungen

1. „Unbegleitet“

Aus Sicht der AGJ ist eine Legaldefinition des Begriffs „unbegleitet“ notwendig. Es erschließt sich aus dem Gesetzesentwurf sowie dem Entwurf einer Gesetzesbegründung nicht, ob hier auf die in § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII genannten Kriterien abzustellen ist, d.h. dass „ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten“.

Schon nach bisherigem Recht gilt aber teils auch ein Kind/Jugendlicher als „unbegleitet“, der nach der Einreise von Personensorge- oder Erziehungs-berechtigten getrennt wird und bei dem davon auszugehen ist, dass die Trennung andauert und die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten aufgrund der räumlichen Trennung nicht in der Lage sind, sich um das Kind/den Jugendlichen zu kümmern (vgl. z.B. Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter, Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, 2014, S. 7). Der RefE lässt ungeklärt, ob in solchen Fallkonstellationen das Verteilungsverfahren mit vorläufiger Inobhutnahme gem. §§ 42a ff. SGB VIII-RefE oder die Inobhutnahme gem. § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII greifen soll.

Darüber hinaus gilt nach bisherigem Recht ein Kind/Jugendlicher nach der Bestellung eines Vormunds/Ergänzungspflegers nicht mehr als „unbegleitet“, da ab diesem Zeitpunkt ein Personensorgeberechtigter vorhanden ist. Insbesondere § 88a Abs. 3 SGB VIII-RefE deutet auf eine über diesen Zeitpunkt hinausgehende Verwendung des Begriffs hin (vgl. dazu unter V.).

Aus der fehlenden Klarstellung ergeben sich in der Auslegung Schwierigkeiten, die die Praxis vor erhebliche Probleme stellen wird. Diese reichen von der Frage der Rechtmäßigkeit der Verteilungsentscheidung und der „Verlegung“, über die Anrechnung des Falls auf die Aufnahmequote bis hin zur Kostentragung aufgrund strittig gebliebener Zuständigkeit. Eine Legaldefinition würde diese Streitigkeiten verhindern.

2. „erstmals festgestellt“

Die AGJ bittet um eine Klarstellung, ob es aus Sicht des Gesetzes unerheblich sein soll, durch wen der Aufenthalt des unbegleiteten Minderjährigen „erstmals festgestellt“ wird (§ 42a Abs. 1 SGB VIII-RefE). In der Praxis können dies sowohl Hoheitsträger (z.B. Polizei, Ordnungsamt, Jugendamt, Ausländer-behörde), aber auch Private (z.B. Kriseneinrichtung in freier Trägerschaft, Hilfsorganisationen, Bürgerinnen oder Bürger) sein. Eine Klarstellung ist erforderlich, da von dem Umstand des Aufenthalts in einem bestimmten örtlichen Bereich zum Zeitpunkt des sogenannten „Aufgriffs“ (Begr.-RefE, S. 24) erhebliche Rechtsfolgen ausgehen.

IV. Zur gesetzlichen Gestaltung des Verteilungsverfahrens

1. Zur Einschätzung der Kindeswohlbelange und dem daraus folgenden Ausschluss der Verteilung (§ 42a Abs. 2 RefE i.V.m § 42b Abs. 4, 5 RefE)

Die AGJ begrüßt die Zielsetzung des RefE, eine am Kindeswohl ausgerichtete Entscheidung über die Verteilung sicherstellen zu wollen (Begr.-RefE, S. 24). Sie hält dabei, wie in der EU-Aufnahmerichtlinie betont, auch die Berücksichti-gung des Kindeswillens für wichtig (Begr.-RefE, S. 24).
Vor diesem Hintergrund erscheint jedoch problematisch, dass die Normierung einer Beteiligung der Kinder und Jugendlichen in § 42a Abs. 5 S. 2 SGB VIII-RefE allein zur „Verlegung“ vorgesehen ist. Die AGJ hält eine angemessene Beteiligung der Kinder und Jugendlichen bereits während der Einschätzung nach § 42a Abs. 2 SGB VIII-RefE für einen fachlich einzuhaltenden Standard. Eine rechtliche Absicherung dieses Standards kann entweder durch die Aufnahme der Formulierung des § 42 Abs. 2 S. 1 SGB VIII-RefE, dass die Fragen zusammen mit dem Kind/Jugendlichen zu klären sind, in § 42a Abs. 2 SGB VIII-RefE erfolgen oder indem parallel zu § 8a Abs. 1 bzw. Abs. 4 S. 1 Nr. 3 SGB VIII vorgesehen wird, dass das Jugendamt „unter Einbeziehung des unbegleiteten ausländischen Kindes oder Jugendlichen“ einzuschätzen hat.

Da gem. § 19 SGB X die Amtssprache deutsch ist und keine Pflicht, einen Dolmetscher hinzuzuziehen, besteht, erscheint es aus Sicht der AGJ notwen-dig, die kommunikative Verständigung mit den unbegleiteten ausländischen Kindern/Jugendlichen gesetzlich sicherzustellen.

Aus Sicht der AGJ ist es höchst problematisch, dass die gem. § 42a Abs. 2 SGB VIII-RefE einzuschätzenden Kriterien ausschließlich zu einem Ausschluss der Verteilung nach § 42b Abs. 4 SGB VIII-RefE führen können. Sie ist der Auffassung, dass die Kindeswohlkriterien auch zu einer konkreten Verteilung bzw. Zuweisung an ein Jugendamt führen sollten! Das ist so im RefE nicht vorgesehen: Findet kein Ausschluss der Verteilung nach § 42b Abs. 4 SGB VIII-RefE statt, wird gem. § 42b Abs. 1 S. 2 SGB VIII-RefE nach der Aufnahmequote des § 42c SGB VIII-RefE verteilt.

Dieses System widerspricht aus Sicht der AGJ dem Kindeswohl, wenn z.B. das Vorhandensein verwandter Personen im Inland nur über den Ausschluss einer Verteilung bei einer Familienzusammenführung Berücksichtigung finden sollte (so bislang § 42 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m § 42b Abs. 4 Nr. 3 SGB VIII-RefE). Sofern nicht der Schutz des Kindes/Jugendlichen dagegen spricht, regt die AGJ eine Zuweisung unter Anrechnung zur Verteilungsquote an das Jugendamt an, in dessen Bereich die verwandte Person lebt. Dies ermöglicht auch für Kinder/Jugendliche, die zwar nicht bei ihren Verwandten leben können, eine familiennahe Versorgung. Ferner wird so auch eine Berücksichtigung in der Aufnahmequote von Fällen erfasst, in denen es sich bei den verwandten Personen, die zusammengeführt werden, um unbegleitete minderjährige Geschwister handelt.

Auch hält die AGJ für wichtig, den Gesundheitszustand des Kindes nicht nur unter dem Gesichtspunkt möglicher ansteckender Gefahren bei der Verteilung zu berücksichtigen (so bislang Begr.-RefE, S. 25 und 27). Sie regt eine entsprechende Klarstellung in den Begründungserwägungen an, da anderenfalls in der Praxis Unklarheit entstehen könnte, ob auch eine nicht-ansteckende Krankheit des Kindes die Verteilung bereits nach 14 Tagen oder erst nach Erreichen der Höchstfrist ausschließt.

Die Regelung des § 42a Abs. 2 i.V.m § 42b Abs. 4 SGB VIII-RefE birgt zudem die Problematik, dass das für die vorläufige Inobhutnahme zuständige Jugendamt ein eigenes Interesse daran hat, keine Ausschlusskriterien festzustellen. Dieser dem Schutz von Kindern und Jugendlichen zuwider laufende Anreiz, Kindeswohlbelange nicht wahrzunehmen, muss reduziert werden! Die AGJ schlägt bspw. vor, zumindest sicherzustellen, dass auch Fälle des Zuständigwerdens wegen Überschreiten der in § 42b Abs. 4 SGB VIII-RefE vorgesehenen Höchstfrist, auf die Landesquote angerechnet werden. Ferner sollte für Länder, die bereit sind, Kinder/Jugendliche über die Landesaufnahmequote hinaus aufzunehmen, ein finanzieller Anreiz gegeben werden. Die Regelung in § 42c Abs. 1 S. 2 SGB VIII-RefE genügt dem nicht (dazu auch unter IV. 3.).

Ebenfalls als problematisch erscheint der AGJ, dass die Regelungen des RefE bezogen auf die Altersfeststellung zu höchst problematischen Streitigkeiten führen werden. Denn das für die vorläufige Inobhutnahme zuständige Jugendamt könnte ein Interesse haben, den Betroffenen möglichst schnell als minderjährig einzuschätzen. Das Jugendamt, das durch die Verteilungs- und Zuweisungsentscheidung dauerhaft zuständig wird, könnte, wenn es seine Zuständigkeit vermeiden will, das genau gegenteilige Interesse haben. Hinzu kommt, dass den Begründungserwägungen zufolge (Begr.-RefE, S. 26) erst bei letzterem die Altersfeststellung erfolgen soll. Dies führt absehbar zu vermehrten Konflikten wegen unterschiedlicher Altersschätzung. Die AGJ schließt sich dem Vorschlag des DIJuF an, die Altersfeststellung als Teil der Einschätzung in § 42a Abs. 2 SGB VIII vorzusehen und sie entsprechend den Empfehlungen der BAGLJÄ zur Etablierung bundesweiter Standards durchzuführen (Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter, Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, 2014, S. 15). Die getroffene Entscheidung muss zwar durch das Kind/den Jugendlichen bzw. seinen Personensorgeberechtigten/Ergänzungs-pfleger angreifbar sein, darf aber durch das aufnehmende Jugendamt nur geändert werden, soweit neue Erkenntnisse vorliegen.

2. Zur rechtlichen Vertretung durch das vorläufig in Obhut nehmende Jugendamt und zum Antrag auf Bestellung eines Vormunds/Pflegers (§ 42a Abs. 3 RefE)

Die in § 42a Abs. 3 SGB VIII-RefE vorgeschlagene Konstruktion, wonach das Jugendamt in den ersten 7 Werktagen berechtigt und verpflichtet ist, alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Minderjährigen notwendig sind, führt gegenüber der bislang geltenden Regelungen des BGB (§§ 1773 ff. BGB) zur Einführung eines neues Rechtsinstituts.

Die AGJ hält die Sicherstellung einer rechtlichen Vertretung von Anfang an, bspw. durch einen gesetzlichen Amtsvormund oder einen Verfahrensbeistand, vergleichbar dem familiengerichtlichen Verfahren, für unerlässlich.

Der AGJ erscheint nicht sachgerecht, die „vorläufige“ rechtliche Vertretung dem Jugendamt zu überlassen, welches gleichzeitig für die vorläufige Inobhutnahme zuständig ist. Denn diesem ist eine Wahrnehmung des ggf. erforderlichen Rechtschutzes gegen seine eigenen Entscheidungen (z.B. Alterseinschätzung) bereits rechtlich gem. § 181 BGB unmöglich. Darüber hinaus hat es auch kein Interesse, eine die eigene Zuständigkeit beendende Verteilungsentscheidung des Bundesverwaltungsamts bzw. der Landesstelle anzugreifen. Das Kind/der Jugendliche bleibt damit ohne Rechtschutzmöglichkeit, da es selbst keine Rechtsmittel einreichen kann. Zusätzlich stellt sich das Problem, dass mit Zustellung an den „vorläufigen“ rechtlichen Vertreter ergangen Verwaltungsakte wirksam werden und deshalb ein nachträglich durch den dann bestellten Vormund eingereichtes Rechtschutz-mittel zudem bereits verfristet sein kann.

Die AGJ fordert zudem, eine unabhängigen Aufklärung und Beratung der unbegleiteten ausländischen Kinder/Jugendlichen durch Ombudschaften abzusichern. Dies ist bei den entsprechenden Aufwandsentschädigungen zu berücksichtigen.

3. Zu den Aufgaben der Landesstellen

Der RefE sieht vor, dass in jedem Bundesland durch Landesrecht eine zuständige Stelle zu bestimmen ist. Die AGJ regt an, die Auffangregelung des § 42b Abs. 3 S. 3 SGB VIII-RefE bereits nach der ersten Erwähnung der Landesstellen in § 42a Abs. 4 SGB VIII-RefE aufzunehmen.
Die Landesstelle hat einerseits die Aufgabe, die Informationen, welche ihr möglichst innerhalb von 7 Werktagen vom vorläufig in Obhut nehmenden Jugendamt gem. § 42a Abs. 3 SGB VIII-RefE mitgeteilt wurden, an das Bundesverwaltungsamt weiterzugeben. Eine Frist hierfür sieht der RefE nicht vor. Die AGJ bittet um eine Klarstellung, ob die Landesstellen an diesem Punkt im Verteilungsverfahren wirklich nur eine Durchleitungsfunktion haben soll (das ginge „unverzüglich“) oder ob ihnen auch eine Kontrollaufgabe, d.h. auch z.B. eine Befugnis zu Nachfragen bezüglich der mitgeteilten Einschätzungsergebnisse, zukommen soll.

Andererseits obliegt gem. § 42b Abs. 3 SGB VIII-RefE der Landesstelle die Verteilung der dem Land gem. § 42b Abs. 1, 2 SGB VIII-RefE durch das Bundesverwaltungsamt zugewiesenen unbegleiteten ausländischen Kinder/-Jugendlichen innerhalb des eigenen Landesgebiets. Dies soll innerhalb von 4 Werktagen geschehen. Die AGJ begrüßt, dass den Ländern die Möglichkeit eingeräumt wurde, landesrechtlich „Kompetenzkommunen“ vorzusehen (Begr.-RefE S. 26f.), und fordert die Länder auf von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Die AGJ ist jedoch der Auffassung, dass diese Möglichkeit nicht ausreicht. Ihrer Ansicht nach braucht es eine darüber hinausgehende Sicherstellung der angemessenen Versorgung und Betreuung der Kinder/Jugendlichen. Dies ist möglich, indem Kriterien für die Verteilung auf Länderebene bereits innerhalb des SGB VIII vorgesehen werden. In diesen müssten Mindeststandards (z.B. zur Sprachkompetenz, zu den erforderlichen Kenntnissen der Amtsvormünder, zu Behandlungsmöglichkeiten) festgelegt sein, die eine angemessene Aufnahme sicherstellen können. Dies schließt den Aufbau solcher Strukturen bspw. durch den Zusammenschluss mehrerer Kommunen nicht aus.

Wie unter IV. 1 bereits angesprochen, sieht § 42c Abs. 1 S. 2 SGB VIII-RefE zwar vor, dass ein Land seine Bereitschaft, eine seine Aufnahmepflicht übersteigende Aufnahmequote wahrzunehmen, dem Bundesverwaltungsamt mitzuteilen hat. Mit einer solchen Übererfüllung ist jedoch bislang kein finanzieller Ausgleich verbunden. Der RefE sieht eine vollständige Aufhebung des § 89d Abs. 3 SGB VIII vor. Für die zusätzlich aufgenommenen Kinder/Jugendlichen müssten die Kosten daher ebenfalls durch das Land getragen werden. Die AGJ hält es für sinnvoll, Ländern aber Anreize zu bieten, eine gute Versorgung und Unterbringung auch über die eigene Quote hinaus anzubieten.

4. Zur Verteilungsentscheidung des Bundesverwaltungsamts

Das Bundesverwaltungsamt muss gem. § 42b Abs. 1 SGB VIII-RefE innerhalb von drei Werktagen eine Verteilungsentscheidung bezüglich des zur Aufnahme verpflichteten Bundeslandes treffen. Sofern die Verteilung nach § 42b Abs. 4 SGB VIII-RefE nicht ausgeschlossen ist, ergeht diese Entscheidung anhand der Aufnahmequote (§ 42c SGB VIII / Königsteiner-Schlüssel) und dem Prinzip einer räumlich möglichst nahen Zuweisung (§ 42b Abs. 2 SGB VIII-RefE).

Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Ausführungen unter IV. 1 verwiesen, die im Zusammenspiel von Einschätzung nach § 42a Abs. 2 SGB VIII-RefE und Ausschluss der Verteilung nach § 42b Abs. 4 SGB VIII-RefE zu betrachten sind.

Die AGJ hält es nicht für sinnvoll, dass bislang bei der Verteilung keine Berücksichtigung finden kann, wenn ein Bundesland zwar durch in seinem Gebiet einreisende Kinder/Jugendliche prognostisch innerhalb des Jahres die eigene Quote erfüllen kann, aber durch Zuweisungen aus einem stärker angelaufenen, nah gelegenen Bundesland bereits sehr viel früher „dicht“ wäre. Dieses „Windhundprinzip“ geht zu Lasten der auf das Kalenderjahr gesehen spät als unbegleitet festgestellten ausländischen Kinder/Jugendlichen.

5. Zum Rechtsschutz gegen die Verteilungsentscheidung

Gem. § 42b Abs. 7 SGB VIII-RefE findet gegen „Entscheidungen nach dieser Vorschrift“ kein Widerspruch statt, eine Klage bleibt ohne aufschiebende Wirkung. Eine Entscheidung „nach dieser Vorschrift“ ist jedenfalls die Verteilungsentscheidung des Bundesverwaltungsamts. Es kann jedoch bezweifelt werden, ob dieser Verwaltungsakt überhaupt unmittelbare Rechtswirkung gegenüber dem Kind/Jugendlichen entfaltet oder nur gegenüber dem Land, in das zugewiesen wird. Ob auch die Verteilungsentscheidung der Landesstelle von der Rechtsschutzmöglichkeit erfasst ist, sollte in § 42b Abs. 7 SGB  VIII-RefE stärker klargestellt werden, da diese Entscheidung zwar nach § 42b Abs. 3 SGB VIII-RefE, insbesondere aber nach den landesrecht-lichen Ausformungsnormen getroffen wird.

Zwar ist der § 42b Abs. 7 SGB VIII-RefE als gesetzliche Regelung i.S.d. § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO vor dem Hintergrund des Ziels der Beschleunigung der Verteilung nur konsequent. Die Frage, gegen wessen Entscheidung welche Rechtsmittel einzulegen sind, um effektiv gegen die Verteilungsentscheidung(en) vorzugehen, bleibt aber nach der bisherigen Regelung im RefE höchst komplex. Die AGJ bittet hier um eine Klarstellung im Rahmen der Begründungserwägungen und fordert auf, hiermit verbundene Unstimmig-keiten bei der rechtlichen Vertretung (s.o. unter IV. 2.) zu bereinigen.

6. Zur Übergabe zwischen den Jugendämtern: Begleitung und Datenübermittlung (§ 42a Abs. 5 RefE)

Die AGJ begrüßt, dass in § 42a Abs. 5 SGB VIII-RefE eine Begleitung und Übergabe des Kindes durch eine geeignete Person vorgesehen ist. Sie fände es sinnvoll, wenn in den Begründungserwägungen zudem klargestellt würde, dass sich die Eignung nach fachlichen Kriterien (z.B. Sprachkenntnisse/-Kultursensibilität) richtet und nicht zuvorderst z.B. ein Entweichen des Kindes/Jugendlichen während der Fahrt verhindern soll. Gleichermaßen sollte übrigens abgesichert werden, dass das Kind/der Jugendliche auch durch eine „geeignete Person“ von dem Jugendamt in Empfang genommen wird, an das die Verteilung erfolgte.

Ferner bittet die AGJ um eine Klarstellung in der Gesetzesbegründung, dass hinsichtlich der Datenübermittlung die datenschutzrechtlichen Grundsätze gelten, d.h. insbesondere auch, dass bezogen auf anvertraute Daten der Schutz des § 65 SGB VIII greift.

7. Zu den Aufgaben des Jugendamtes, das durch Verteilungsentscheidung zuständig geworden ist

Ein unbegleitetes/-r ausländisches/-r Kind/Jugendlicher ist von dem Jugendamt, das durch die Verteilungsentscheidung gem. § 88a Abs. 2 SGB VIII-RefE zuständig geworden ist, nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII in Obhut zu nehmen. Nach Antrag durch die Personensorgeberechtigten findet bei entsprechendem Bedarf eine Überleitung in die reguläre Hilfegewährung z.B. gem. § 27 SGB VIII statt.

Darüber hinaus zeigen sich in der Praxis bereits jetzt verschiedene Probleme, die Berücksichtigung finden sollten: So wird aus einigen Kommunen berichtet, dass trotz Beantragung der Bestellung eines Vormunds/Pflegers beim Familiengericht, sich die Bestellung teils erheblich verzögert – mit der Folge, dass eine Hilfe nach § 27 SGB VIII nicht eingeleitet werden könne. Dies läge zum Teil an einer langen Verfahrensdauer trotz § 155 FamFG, zum Teil auch an als überzogen wahrgenommen Forderungen eines Nachweises, dass die Personensorgeberechtigten im Ausland nicht erreichbar seien. Die sich in der Praxis stellende Frage, ob das Personensorgerecht z.B. auch per What´s-App ausgeübt werden kann, könnte durch eine Konkretisierung in § 1674 BGB gelöst werden.

Es erstaunt, dass in dem RefE für unbegleitete ausländische Kinder/Jugendliche die Amtsvormundschaft so stark hervorgehoben wird. Den Begründungserwägungen zufolge soll als Vormund möglichst ein Amtsvor-mund im Bereich des dauerhaft zuständigen Jugendamtes bestellt werden (Begr.-SGB VIII, S. 25). § 1791b BGB sieht hingegen grundsätzlich einen Vorrang der Einzelvormundschaft vor. Trotz der strukturell abgesicherten Unabhängigkeit der Amtsvormünder innerhalb des Jugendamtes, wird in der Praxis immer wieder von einer Scheu berichtet, gegen das „eigene“ Jugendamt vorzugehen. Ein Auseinanderfallen der örtlichen Zuständigkeit für die Amtsvormundschaft und für die Wahrnehmung der anderen Aufgaben sowie die Leistungsgewährung kann deshalb grundsätzlich auch Vorteile bergen. Auf der praktischen Seite muss angemahnt werden, dass gerade hinsichtlich der spezifischen Qualifikation bzw. dem Erwerb für die Führung einer Amtsvormundschaft für ein (unbegleitetes) ausländisches Kind/Jugend-lichen in vielen Kommunen erheblicher Aufholbedarf besteht. Für die Betreuung im Asylverfahren bzw. die Klärung des aufenthaltsrechtlichen Status ist darüber hinaus bei Bedarf die fachliche Unterstützung der Vormünder durch einen Rechtsanwalt sicherzustellen.

Teils bestehender Sorgen, dass auch langfristige Hilfeleistungen nur im Bereich des durch die Verteilungsentscheidung zuständig gewordenen Jugendamts erbracht werden können („Residenzpflicht“), sollte entgegen-gewirkt werden. Wie bislang auch gelten sowohl die Vorschriften zum Hilfeplanverfahren (§ 36 SGB VIII) , zum Wunsch- und Wahlrecht (§§ 5, 36 Abs. 1 S. 3 SGB VIII) und auch zur Möglichkeit der gemeinsamen Aufgaben-erledigung (§ 69 Abs. 4 SGB VIII).

Da gerade auch bei der Hilfeerbringung für (ehemals unbegleitete) ausländische Jugendliche zu beobachten ist, dass eine Weitergewährung der Hilfe trotz entsprechenden Bedarfs mit Erreichen der Volljährigkeit abgelehnt wird, fordert die AGJ eine Änderung der Soll-Regelung des § 41 SGB VIII in einen verbindlichen Rechtsanspruch bei vorliegendem Bedarf.

Die AGJ schließt sich ferner der Forderung nach einem Abschiebungsstopp während einer begonnenen Ausbildung an.

8. Ende der vorläufigen Inobhutnahme

Aus Sicht der AGJ bedarf die Regelung des § 42a Abs. 6 SGB VIII-RefE einer Überarbeitung. So kann die Entscheidung über den Ausschluss der Verteilung wegen einer möglichen Familienzusammenführung zeitlich vor der tatsächlichen Übergabe an personensorge- oder erziehungsberechtigte Verwandte liegen, beide Zeitpunkte sind aber als Ende der vorläufigen Inobhutnahme als Alternative 1 und Alternative 3 genannt. Ferner bedarf es einer Aufnahme des Endes der vorläufigen Inobhutnahme wegen Ablauf der Höchstfrist. Denn in diesem Fall ist zwar eine Verteilung gem. § 42b Abs. 4 Nr. 4 RefE ausgeschlossen, zu der in § 42a Abs. 6 SGB VIII benannten Zuweisungsentscheidung der Landesstelle kommt es aber nicht mehr. Wieso es in den Begründungserwägungen zudem zu § 42a Abs. 6 SGB VIII-RefE heißt, „Anknüpfungspunkt ist dabei nicht der Zeitablauf“, erschließt sich der AGJ nicht. Sollte damit gemeint sein, dass in einem solchen Fall das Bundesverwaltungsamt und die Landesstelle formal noch eine Entscheidung treffen sollen, um so insbesondere eine Anrechnung dieser Fallgruppe auf die Aufnahmequote nach § 42c SGB VIII-RefE zu ermöglichen, sollte diese klarer geregelt sein. Erwähnt werden soll hier auch, dass eine derartige Anrechnung dazu beitragen könnte, den Druck auf die vorläufig in Obhut nehmenden Jugendämter zu mindern, vorschnell während der Einschätzung über Kindeswohlaspekte hinwegzugehen (vgl. dazu IV. 1.).

V. Zur Regelung der örtlichen Zuständigkeit in § 88a SGB VIII-RefE

Bereits unter III. 1 wurde darauf hingewiesen, dass in § 88a Abs. 3 SGB VIII-RefE die Wahl der Formulierung „Für Leistungen an unbegleitete ausländische Kinder oder Jugendliche“ nicht berücksichtigt, dass die Leistung einer Hilfe zur Erziehung nach § 27 Abs. 1 SGB VIII an den Personensorge-berechtigen erfolgt.

Besonders schwerwiegend ist aus der Sicht der AGJ jedoch der Umstand, dass die Regelung der Zuständigkeit für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge statisch getroffen wurde. Es ist dringend anzuraten eine Möglichkeit vorzusehen, wie auf kindeswohlrelevante Veränderungen (z.B. dem nachträglichen Bekanntwerden von Verwandten im Inland) reagiert werden kann. Eine Möglichkeit wäre z.B. dem ausländischen Kind/Jugendlichen bzw. seinem Personensorgeberechtigten ein Antragsrecht auf eine nachträgliche Änderung der Zuständigkeit einzuräumen. Die darauf erfolgende Entscheidung muss dem Rechtschutz zugänglich sein.

VI. Zu den eingeräumten Übergangsfristen

Der durch den RefE vorgegebene Zeitplan kann nur als ehrgeizig bezeichnet werden. Durch das Inkrafttreten drei Monate nach Verabschiedung des Gesetzes (Art. 6 RefE) und die in § 42d Abs. 1, 2 SGB VIII-RefE eingeräumte Möglichkeit einer dreimonatigen abgestuften Reduzierung der Aufnahmequote ergibt sich, dass grundsätzlich sich alle Länder sieben Monate nach Inkrafttreten in die Lage versetzt haben müssen, die volle Aufnahmequote zu erfüllen. Ob in dieser Zeit der Erlass des vorgesehenen Landesrechts, insbesondere aber auch der notwendige Kompetenzaufbau in den Kommunen gelingen kann, erscheint fraglich.

Die AGJ bedauert, dass eine Beteiligung des Bundes an den durch die hohe Aufgabenbelastung entstehenden Kosten für die Versorgung und Unterbringung der unbegleiteten ausländischen Kinder und Jugendlichen nicht erfolgen soll (RefE-Begr., S. 19). Die AGJ weist darauf hin, dass die Begründungserwägungen zum Erfüllungsaufwand für die Kommunen (RefE-Berg., S. 3, 4) bisher nur technische Umstellungskosten etc. vorsehen, damit insb. erhöhte Personalaufwendungen unberücksichtigt lassen.

VII. Zur Berichtspflicht und Evaluation

Die AGJ begrüßt die vorgesehene Evaluation, die jährliche Berichtspflicht und die Anpassungen zur Kinder- und Jugendhilfestatistik (Art. 5 RefE, § 42f SGB VIII-RefE, Änderung in § 99 SGB VIII). Die AGJ stellt sich eine zweistufige Evaluation vor, die als kurzfristiges Monitoring sowie längerfristige Rechtswir-kungsforschung auszugestalten ist.

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 25. Juni 2015