„Europäischer Qualifikationsrahmen / Deutscher Qualifikationsrahmen“

Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

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Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ ist vom Ausschuss für Bildung, Forschung und Technologiefolgenabschätzung des Deutschen Bundestages gebeten worden, im Rahmen einer öffentlichen Anhörung am 7. Juli 2010 zu aktuellen Entwicklungen bezüglich des Europäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen bzw. dessen Umsetzung auf der nationalen Ebene in Form des Deutschen Qualifikationsrahmens Stellung zu nehmen.

Hierzu wurde ein Fragenkatalog entwickelt, der entsprechend von der AGJ beantwortet wurde.

1. Der Deutsche Bundestag hat am 03.07.2009 (Bundestagsdrucksache 16/13615) die Bundesregierung aufgefordert, bei der Ausgestaltung des Deutschen Qualifikationsrahmens darauf zu achten, dass bei der Zuordnung der Qualifikationen des deutschen Bildungswesens zu den Niveaustufen des DQR grundsätzlich jedes Qualifikationsniveau auf verschiedenen Bildungswegen erreichbar sein kann und auch Formen des informellen Lernens hinreichend berücksichtigt werden können. Wie bewerten Sie die aktuelle Entwicklung des DQR im Hinblick auf diese Vorgaben? Inwieweit haben sich die Deskriptoren bewährt? Soll auf den Stufen 6 - 8 eine Differenzierung in A (akademisch) und B (beruflich) erfolgen?

Der vorliegende Diskussionsvorschlag eines DQR (Februar 2009) sieht vor, dass bei der Zuordnung von Qualifikationen alle formalen Qualifikationen des deutschen Bildungssystems der allgemeinen, der Hochschulbildung und der beruflichen Bildung einbezogen werden. Die Zuordnung der Qualifikationen des deutschen Bildungswesens zu den Niveaustufen des DQR sollte mit der Maßgabe erfolgen, dass jedes Qualifikationsniveau grundsätzlich auf verschiedenen Bildungswegen erreichbar sein kann.

Die AGJ hat einen solchen bildungsbereichsübergreifenden DQR als ein wichtiges Instrument für eine höhere Durchlässigkeit des Bildungssystems und der Gleichwertigkeit zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung begrüßt. Grundsätzlich sollten alle Kompetenzniveaus des DQR auf schulischen, betrieblichen, hochschulischen und beruflichen Bildungs- und Karrierewegen erreichbar sein und prinzipiell keine Niveaus für bestimmte Qualifikationen reserviert werden. 
Der DQR soll aus Sicht der AGJ helfen, 

  • Inhalte der Ausbildungen lernergebnisorientiert zu formulieren, 
  • Ausbildungen (inhaltlich und zeitlich) flexibler zu gestalten, 
  • Lernergebnisse durch Qualitätssicherungsverfahren abzusichern und unabhängig von Bildungsweg(en) und Abschlüssen zu akzeptieren, 
  • Niveauunterschiede bei dualer Ausbildung und Aufstiegsfortbildungen zu akzeptieren,
  • Anschlussfähigkeit sicherzustellen und 
  • zertifizierbare Instrumente für die Erfassung und Bewertung von Kompetenzen zu entwickeln. 

Die Erfahrungen aus der Mitwirkung in den Arbeitsgruppen der Erprobungsphase zeigen allerdings, dass das Prinzip der Lernweg- und Lernortunabhängigkeit nicht durchgängig verfolgt wird. Vielmehr wurden gerade an dieser Stelle intensive Diskussionen über Zugänge in Abhängigkeit von bestimmten Bildungsabschlüssen geführt. Entsprechend sind zahlreiche Zuordnungen von Abschlüssen nicht konsensual erfolgt und unterscheiden sich zum Teil erheblich (bis zu drei Niveaustufen). 

Der DQR-Entwurf sah darüber hinaus vor, dass „Ergebnisse des informellen Lernens berücksichtigt werden sollen“. In den Arbeitsgruppen wurden allerdings – auftragsgemäß – nur formale Qualifikationen bzw. Abschlüsse berücksichtigt und den Stufen des DQR zugeordnet. Non-formal und informell erworbenes Wissen wurde in den Beratungen außer Acht gelassen. Dies entspricht aus Sicht der AGJ nicht der Idee und Zielsetzung des Europäischen Qualifikationsrahmens, Kompetenzen zu beschreiben und vergleichbar zu machen. Die Ergebnisse non-formalen und informellen Lernens hätten bei der Ausgestaltung des DQR von vornherein und im Sinne des EQR berücksichtigt werden müssen. Dies muss zwingend nachgeholt werden.

Die Erfahrungen aus den Arbeitsgruppen zeigen, dass sich die Deskriptoren grundsätzlich bewährt haben. In der praktischen Umsetzung war jedoch zum Teil aufgrund fehlender Differenzierung bzw. Hinweise in den Quellen bzw. Ordnungsmitteln eine Zuordnung zu den einzelnen Kategorien erschwert und zwang zu Interpretationen. Bestimmte Kategorien, wie zum Beispiel Selbstkompetenz, sind in den Ordnungsmitteln bisher nicht ausreichend formuliert.

Hinzu kommt, dass das gewählte Vokabular in den verschiedenen Bildungsbereichen zum Teil unterschiedlich besetzt ist, was zu Missver-ständnissen führen kann. Bei der Ausgestaltung von Ordnungsmitteln und/oder Qualifikationsrahmen muss dies entsprechend berücksichtigt werden, vorhandene Quellen müssen angepasst werden.

Eine Differenzierung auf den Stufen sechs bis acht in A (akademisch) und B (beruflich) könnte unter Umständen bezüglich der unterschiedlichen „Sprachen“ der Bildungsbereiche Missverständnissen vorbeugen. Dabei darf die grundsätzliche Gleichwertigkeit der Lernwege und -orte keinesfalls angetastet werden. Hierarchien könnten zu formalen Blockaden führen, womit die im DQR angestrebte Durchlässigkeit zwischen den Bildungsbereichen nicht mehr gewährleistet wäre.


2. Ferner hat der Deutsche Bundestag am 03.07.2009 (Bundestagsdrucksache 16/13615) die Bundesregierung aufgefordert, bei der Zuordnung von Qualifikationen darauf zu achten, dass die im Rahmen von berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen sowie Einstiegsqualifizierungen erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten hinreichend berücksichtigt werden. Wie bewerten Sie den aktuellen Bearbeitungsstand im Hinblick auf diese Vorgaben?

Im Rahmen der Zuordnung formaler Qualifikationsprofile sollten aus Sicht der AGJ nicht nur sämtliche Qualifikationen vom allgemeinen und beruflichen Pflichtschulabschluss bis zur akademischen und beruflichen Aus- und Weiterbildung enthalten sein, sondern auch die Anerkennung von Kompetenzen formal geringer Qualifizierter ermöglicht werden: ein Förderschulabschluss, eine Hauptschulabsolvierung (ohne Abschluss), ein gelenktes Praktikum und andere Qualifikationen und Kompetenzen, die im Übergangssystem erworben werden, müssen in den DQR integriert werden.

In den Diskussionen der Arbeitsgruppen der Erprobungsphase des DQR wurden vorhandene Einstiegsqualifikationen teilweise berücksichtigt. Dies betrifft vor allem die Einordnung von Bildungsgängen mit allgemeinbildenden Abschlüssen und die schulische Berufsvorbereitung (Berufsvorbereitungsjahr) sowie Einstiegsqualifizierungen nach § 235 b SGB III.

Maßnahmen des Übergangssystems wurden jedoch im bisherigen DQR-Prozess insgesamt unzureichend berücksichtigt. Insbesondere fehlt die Einbeziehung von berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit, in denen nach der Förderstatistik der Bundesagentur für Arbeit allein in 2009 rund 100.000 Jugendliche gefördert wurden. Bislang keinen Eingang in den DQR finden auch andere berufsvorbereitende Maßnahmen, z. B. der Jugendämter, die nicht zu den schulischen Bildungsgängen zählen. Diese Lücken müssen bei der weiteren Entwicklung des DQR dringend geschlossen werden.

Gerade in diesem Zusammenhang ist die Anerkennung non-formalen und informellen Lernens von maßgeblicher Bedeutung und muss entsprechend Berücksichtigung finden.


3. Der Deutsche Bundestag hat am 21.06.2007 (Bundestagsdrucksache 16/2996) die Bundesregierung aufgefordert, darauf hinzuwirken, dass bei der Entwicklung des EQR eine angemessene Einstufung deutscher Qualifikationen – auch als Weichenstellung für eine spätere Einstufung durch den DQR – sichergestellt wird. Wie beurteilen Sie den aktuellen Bearbeitungsstand im Hinblick auf das Ziel der Einstufung im beruflichen Bildungssystem erworbener Qualifikationen?

Aufbau und Struktur der DQR-Matrix ermöglichen grundsätzlich eine Gleichwertigkeit allgemeiner, beruflicher und hochschulischer Bildung.
Eine im europäischen Vergleich angemessene Bewertung der in dualen Ausbildungen erworbenen Qualifikationen konnte in den Arbeitsgruppen dennoch nicht durchgängig herbeigeführt werden. Über die Frage, ob ein dualer Berufsabschluss derselben Niveaustufe wie das Abitur zugeordnet werden solle, konnte beispielsweise kein Konsens hergestellt werden.


4. Die Entwicklung eines Deutschen Qualifikationsrahmens soll dazu genutzt werden, die Gleichwertigkeit, Mobilität und Durchlässigkeit im deutschen und europäischen Bildungsraum zu stärken. Wie bewerten Sie den aktuellen Bearbeitungsstand des DQR im Hinblick auf diese Ziele?

5. Im europäischen Prozess soll darauf geachtet werden, dass das deutsche Bildungssystem sein eigenes Profil wahrt und seine Qualität innerhalb der EU zur Geltung bringt. Wie bewerten Sie den aktuellen Bearbeitungsstand im Hinblick auf diese Ziele?

Die Fragen 4 und 5 werden gemeinsam beantwortet:

Das Ziel des EQR ist, die Mobilität von Beschäftigten und Lernenden zwischen den verschiedenen Ländern und den verschiedenen Bildungssystemen zu fördern und ihr lebenslanges Lernen zu erleichtern. Als nationale Umsetzung des EQR soll der DQR die Besonderheiten des deutschen Bildungssystems berücksichtigen und zur angemessenen Bewertung und Vergleichbarkeit deutscher Qualifikationen in Europa beitragen.

Die bei der bisherigen deutschen Umsetzung vorgenommene Zuordnung von Abschlüssen statt von Kompetenzen erschwert die angestrebte Vergleichbarkeit und Durchlässigkeit innerhalb der EU. Die Kompatibilität zwischen dem EQR als kompetenzbasierter Referenzrahmen und dem DQR wäre so nicht gegeben. 

Abschlüsse, die in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten über verschiedene Lernwege und -orte erreicht werden, können nur aufgrund von Kompetenzbeschreibungen vergleichbar gemacht werden. Dies gilt beispielsweise für Abschlüsse im Rahmen dualer Ausbildung, die in anderen europäischen Staaten ein Hochschulstudium erfordern können.

Vor diesem Hintergrund kann nur ein kompetenzbasierter DQR ermöglichen, dass das deutsche Bildungssystem sein eigenes Profil wahrt und im europäischen Bildungsraum angemessen darstellen kann. 

Im eigenen, deutschen Bildungsraum kann der DQR das (Aus-)bildungs-system, Berufsbilder und Standards beruflicher Qualifikationen grundlegend beeinflussen und die Institutionsorientierung der traditionellen Versäulung durchbrechen. 

 

Geschäftsführender Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Berlin, 23. Juni 2010