„Care braucht mehr!“
Die Bedeutung von Sorgearbeit anerkennen, Ressourcen sorgender Familien stärken!

Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ[1]

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Abstract

Familien sind noch immer die verbreitetste Form, in der Sorge füreinander geleistet wird. Sorgearbeit ist in unserer Gesellschaft von existenzieller Bedeutung und umfasst Sorgetätigkeiten und Kompetenzen in der Betreuung, Erziehung und Bildung sowie in der Gesundheit und Pflege. Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ macht mit ihrem Positionspapier deutlich, an wie vielen Stellen Familien Sorgearbeit übernehmen und welche Ressourcen darüber hinaus in Familien liegen. Die AGJ beschreibt zudem die Herausforderungen, denen Familien alltäglich gegenüberstehen, die sich z. B. in den Schwierigkeiten der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Zeitnöten begründen.
Die AGJ legt mit diesem Papier den Fokus auf die wechselseitigen Erwartungen, die vorhandenen Ressourcen in Familien und die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe als ein die Familie unterstützendes und ergänzendes System. Sie geht nicht vertieft auf andere bezahlte oder unbezahlte Sorgearbeit ein, wohlwissend, dass auch diese vermehrter Aufmerksamkeit bedarf. Dieses Papier ist die erste dezidierte Befassung und Einordnung der AGJ zum Thema Care-Arbeit. Die Ableitungen dieses Papiers geben die Richtung für die weitere Befassung innerhalb der AGJ sowie den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe an. Es soll hierbei der Frage nachgegangen werden, wie ein selbstbestimmtes Leben aller Familienmitglieder und eine faire Verteilung von Sorgearbeit ermöglicht werden kann und welche Rahmenbedingungen es dafür braucht.
Die Kinder- und Jugendhilfe kann mit ihren infrastrukturellen und einzelfallorientierten Angeboten unterstützen und hat den Auftrag, sich für die Schaffung guter Rahmenbedingungen für Familien stark zu machen und ihnen insbesondere dann zur Seite zu stehen, wenn sie mit den veränderten Herausforderungen überfordert sind. Durch das Zur-Verfügung-Stellen von familienorientierten und passenden Betreuungs- und Unterstützungssettings kann die Kinder- und Jugendhilfe Familien Hilfestellung geben und dadurch strukturelle Ungleichheiten kompensieren und Eltern stärken. Abschließend fordert die AGJ eine gesamtgesellschaftliche Aufwertung und Anerkennung von Sorgearbeit als existenzieller Bestandteil unserer Gesellschaft. Dies muss die Kinder- und Jugendhilfe als Arbeitgeberin selbst leben und das Streben zu einer Aufwertung von Sorgearbeit anwaltschaftlich vorantreiben.  

Einleitung

Die derzeitige Corona-Krise bringt eines sehr deutlich zu Tage: Sorgearbeit (oder auch Care-Arbeit) ist gesamtgesellschaftlich von existenzieller Bedeutung. Das gilt für die Sorgearbeit, die in Familien[2] erbracht wird ebenso wie für die Berufe, in denen Sorgearbeit Bestandteil professioneller Arbeit ist und nicht zuletzt für das weite Feld an Hilfen und Sorgearbeit, die alltagsnah an den Bedürfnissen von Familien ansetzen und ehrenamtlich und informell geleistet werden. Schon lange ist die Familie nicht mehr der ausschließliche Ort, an dem Sorgearbeit – meist von Frauen – geleistet wird. Vielmehr gibt es zahlreiche Anbieter professioneller Dienste, die neben die bzw. ergänzend zur Familie getreten sind. Die Corona-Krise hat die grundsätzliche Bedeutung der Sorgearbeit in Familien und von professionellen Anbietern in das Zentrum der medialen, politischen und fachlichen Aufmerksamkeit gerückt. Nunmehr werden die sogenannten SAHGE-Berufsgruppen (sozial, haushaltsnah, gesundheitlich, erziehend) als systemrelevant definiert und erhalten dadurch eine neue, wenn auch vermutlich nur temporäre Aufwertung. „Dabei ist diese Art des Sorgens bis heute das verborgene Herzstück unseres Sozialstaates und trägt uns bisher – bezogen auf unsere Versorgung – glimpflich durch die Corona-Krise“.[3]
Familien, und hier vor allem sozial-historisch bedingt die Frauen, stehen enorm unter Druck. Dieser Druck zeigt sich nicht nur im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern auch bei der alltäglichen Herstellungsleistung von Familie. In der anfänglichen Corona-Zeit, in der viele Familien über einen längeren Zeitraum durchgehend gemeinsam Zuhause waren, war die Belastung von Familien besonders hoch. Zahlreiche Aufgaben, die sonst Lehrkräfte, Erzieher*innen und andere Pädagog*innen erledigen, mussten (und müssen nach wie vor) zusätzlich zur regulären Sorgearbeit von den Familien übernommen werden. In dieser Zeit jonglierten Eltern zwischen Homeschooling, neuen digitalen Lernwelten ihrer Kinder, Homeoffice und Familienleben. Gleichzeitig mussten sie mit ihrer eigenen emotionalen Belastung und der ihrer Kinder umgehen. Nach einer Befragung des Deutschen Jugendinstituts gaben ein Drittel der befragten Eltern[4] an, dass ihr Kind Schwierigkeiten mit der Situation hatte – bei Familien in angespannter finanzieller Situation betrug der Anteil sogar 50 Prozent vs. 30 Prozent bei denen, die ihre finanzielle Lage positiver bewerten. Auch konfliktartiges Klima herrschte zur Zeit der Krise in 22 Prozent der vom DJI befragten Familien häufig oder sehr häufig.[5] Vielen Familien gelang das durchgehende Zusammensein jedoch auch sehr gut. Neueren Erkenntnissen zur Folge wurden insbesondere Familien mit beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie allein gelassen und vermissten institutionelle Unterstützung.[6]

Familien sind Orte, an denen grundlegende menschliche Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit und Geborgenheit erfüllt werden sowie Zuwendung und Fürsorge geschieht. Darüber hinaus sind es idealerweise Orte, an denen Kinder Struktur erhalten, sich sicher fühlen und ihren Alltag gemeinsam mit Familienmitgliedern gestalten, teilen und aushandeln. Diese Einzigartigkeit des Systems Familie hängt allerdings mit Erwartungen an sie, ihre gesellschaftliche Rolle und die damit verbundenen Aufgaben zusammen. Die gesellschaftlichen Erwartungen prägen nicht nur die Sicht auf das System Familie, sondern auch das Verhältnis zwischen Familie und Kinder- und Jugendhilfe.
Die primäre Verantwortung für die Erziehung und Sorge ihres Kindes schreibt das Grundgesetz den Eltern zu (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG). Die Kinder- und Jugendhilfe hat hier nur ein nachrangiges, von den Eltern abgeleitetes Erziehungsrecht. Dieses wird übertragen, wenn Eltern Angebote der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch nehmen (müssen). Der Staat ist somit vorrangig verpflichtet, die Eltern zu unterstützen und ihnen Angebote zu unterbreiten, damit sie ihre Aufgaben eigenverantwortlich im Interesse ihres Kindes wahrnehmen können (Art. 18 Abs. 2 UN-KRK). Dabei haben sich die Vorstellungen von Erziehung und die Orte, an denen sie stattfindet, in den letzten Jahren dynamisch entwickelt. Unterschiedliche Institutionen und Personen sind beteiligt – in der Familie, in informellen Kontexten, aber auch in öffentlicher Verantwortung.[7] Im Kontext von Sorgearbeit heißt dies, dass der Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe darin besteht, die Bedarfe von Familien zu analysieren und auf diese mit bedarfsgerechten Angeboten zu reagieren. Nur durch einen ganzheitlichen Blick auf das System Familie kann die Kinder- und Jugendhilfe gesellschaftliche Bedingungen aufgreifen, bewerten und zu ihrer Verbesserung beitragen.

Sorgearbeit/Care-Arbeit – eine begriffliche Einordnung

Grundsätzlich bezieht sich der Begriff der Care-Arbeit, der seinen Ursprung in feministischen Debatten im amerikanischen Raum hat, auf Sorgetätigkeiten und Kompetenzen in der Betreuung, Erziehung und Bildung sowie in der Gesundheit und Pflege mit dem Ziel der Unterstützung von Entwicklung, Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von intellektuellen, körperlichen und emotionalen Fähigkeiten einer Person.[8] Nach Mascha Madörin handelt es sich bei Care-Arbeit um „Leben erhaltende, lebensnotwendige Tätigkeiten, ohne die Gesellschaften nicht existenzfähig wären und wirtschaftliches Wachstum unmöglich wäre.“[9] Der Care- oder Sorgearbeit wird damit eine herausragende Rolle und Bedeutung eingeräumt.
Sorgearbeit umfasst bezahlte und unbezahlte Tätigkeiten, die sowohl in der Familie als auch in zivilgesellschaftlichen Initiativen (Hausaufgabenbetreuung, Ferienprogramm etc.), Erziehungs- und Betreuungsinstitutionen, wie z. B. Kindertageseinrichtungen oder Seniorenheimen, erbracht werden. Familiäre und institutionelle Sorgearbeit können dabei durchaus in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Zentral dabei ist die Frage, welches Selbstverständnis institutionelle Angebote von Care- oder Sorgearbeit haben und wie dieses gegenüber dem der Familie eingeordnet werden kann und muss sowie die Wahrnehmung dieser Angebote durch ihre Adressat*innen. Zudem besteht zwischen dem, was der Staat als relevante (institutionelle) Angebote zur Unterstützung von Familien implementiert, und dem, was diese selbst als Unterstützung wahrnehmen (wollen), nicht immer Deckungsgleichheit.

Mit diesem breiten Begriffsverständnis kann Sorgearbeit als Schlüsselressource im gesellschaftlichen Miteinander verstanden werden. Hier muss sich auch die Kinder- und Jugendhilfe stärker verorten, will sie Familie in ihrer Vielfalt und Komplexität anerkennen und unterstützen, um damit ihrem Auftrag, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien zu erhalten und zu schaffen, Rechnung zu tragen. Vor diesem Hintergrund sind bisherige Diskurse, die nur Teile von Care-Arbeit (z. B. Elternzeitmodelle, Pflegezeiten) oder eher den Wunsch nach Optimierung von Humankapital im Blick haben, abzulehnen. Stattdessen geht es darum, eine Vorstellung davon zu entwickeln, was es heißt, gutes Aufwachsen für alle Kinder sicherzustellen. Hierbei kommen sowohl der Familie als auch der Kinder- und Jugendhilfe wichtige Rollen zu.

Ressourcen und Herausforderungen von Familien

Familien haben trotz zunehmend vielfältiger werdender, selbst gewählter Formen von Lebens- und Sorgegemeinschaften einen besonderen Stellenwert in unserer Gesellschaft, da sie immer noch die verbreitetste Form sind, in der Sorge füreinander geleistet wird. Sie gewährleisten in unserer Gesellschaft Lebensqualität, sozialen Zusammenhalt sowie ökonomischen Wohlstand und erbringen somit einen entscheidenden Beitrag für das Gemeinwesen. Denn Familienmitglieder tragen Sorge füreinander, sie pflegen sich, sie unterstützen sich emotional und oft auch finanziell. Sie sind idealerweise füreinander Ansprechpartner*innen und Stütze und im Notfall häufig diejenigen, die in schwierigen Situationen Halt und Sicherheit geben. Familien sind feste und zuverlässige Ressourcen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen, für Erwachsene, die besondere Unterstützung benötigen und für pflegebedürftige Menschen.

Familie ist somit ein wichtiger Lebensbestandteil für Menschen, ein zentraler Sozialisationsort, ein zentraler Ort des gesellschaftlichen Zusammenhaltes sowie ein Ort, an dem sich ein großer Teil des Lebens vollzieht. Familien übernehmen wichtige Erziehungs-, Bildungs-, Betreuungs- und Versorgungsleistungen, von denen das Gemeinwesen profitiert.[10] Damit ist Familie der Ort, an dem Wertorientierungen entstehen und grundlegende Gefühle und Kompetenzen sozialen Handelns entwickelt werden. Familie ist jedoch auch auf den Schutz und die Unterstützung durch Staat und Gesellschaft angewiesen.[11]

Eltern nehmen in ihrer Funktion wichtige Aufgaben wahr, die neben der Pflege und Sorge für ihre Kinder insbesondere emotionale Aspekte, wie emotionale Wärme in der Beziehung mit dem Kind und Responsivität auf kindliche Signale, beinhalten. Insbesondere bei Kindern die eine körperliche und/oder geistige Beeinträchtigung haben, übernehmen Eltern und andere Familienmitglieder oft einen Großteil der notwendigen Sorgearbeit. Eltern sind in der Tendenz aus der Lebensverlaufsperspektive immer länger für ihre Kinder da und auch der 15. Kinder- und Jugendbericht stellt fest, dass sich bei einer wachsenden Zahl von jungen Menschen z. B. der Auszug aus dem Elternhaus bis in das dritte Lebensjahrzehnt hinein verlängert und verschoben hat. Das kann auch ein Zeichen dafür sein, dass sich verstärkte emotionale Bindungen zwischen den Generationen entwickeln. Dies wird unter anderem daran deutlich, dass Jugendliche der Familie insgesamt mehr Bedeutsamkeit zuschreiben.[12]

Die Übernahme von Sorgearbeit in der und durch die Familie erfolgt häufig unter herausforderungsvollen bis schwierigen Bedingungen. Sie ist unentgeltlich und eine Aufgabe neben sehr vielen anderen. Familienleben und Erwerbsarbeit in Einklang zu bringen und zu organisieren wird insbesondere in Übergangsphasen (z. B. Berufseinstieg, Karriere-entscheidungen und Berufsaufstieg, Geburt und Adoption von Kindern, Eintritt eines Pflegefalls in der Familie etc.) als belastend erlebt.[13] Männer und Frauen sehen sich durch das bestehende gesellschaftliche Geschlechterverhältnis oftmals mit unterschiedlichen Anforderungen konfrontiert. Sorgearbeit ist vornehmlich weiblich konnotiert, während der Druck der Einkommenserzielung überwiegend immer noch an Männer gerichtet ist.[14]

Dabei befindet sich Familie in stetigem Wandel. Einerseits pluralisieren sich Lebensformen (mehr Ein-Eltern-Familien, Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien, nichteheliche Lebensgemeinschaften oder binukleare Familien). Andererseits ändert sich, wenngleich langsamer, der gesellschaftliche Rahmen, innerhalb dessen Familien ihr Miteinander gestalten. Grundlegende Veränderungen in Familien, deren Innenleben und der familialen Alltagsgestaltung führen zu einer sogenannten Entgrenzung von Familie. Die Veränderung der Situation, in der Familien leben, bringt die Notwendigkeit mit sich, die familiale Lebensführung stets neu zu gestalten und somit neu herzustellen. Der Ansatz „Doing Family“[15] beschreibt dieses Phänomen und meint die permanente Herstellungsleistung von Familie. Familien sind nicht einfach gegeben, sondern müssen immer wieder neu verhandelt werden. Es wird deutlich, dass diese Pluralisierung enorme Chancen birgt, aber auch neue Anforderungen: Sie führt sowohl zu Herausforderungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit als auch zu u. a. dadurch bedingten Mehrbelastungen in der familialen Alltagsbewältigung. Dennoch beinhaltet sie auch das Potential, sich individuell als Familie neue Frei- und Erholungsräume zu schaffen. „Familien sind heute zunehmend haushaltsübergreifende, multilokale Netzwerke.“[16]

Die Entgrenzung der Familie hat ihren Ausgangspunkt u. a. in der Abkehr vom traditionellen Ernährermodell[17], das heute viele Familien nicht mehr leben können und wollen. Das heißt, dass Frauen nicht mehr selbstverständlich für Sorgearbeit in der Familie zur Verfügung stehen, sondern oftmals auch erwerbstätig sind. Dadurch ändern sich familiäre Gegebenheiten und Rollenverständnisse. Damit nimmt die ökonomische Unabhängigkeit der Frau sowie die Notwendigkeit, Sorgearbeit anders zu verteilen, zu. Eine zunehmende Zahl von Familien ist zudem damit konfrontiert, Sorgearbeit für Kinder und Pflegetätigkeiten für Eltern parallel erbringen zu müssen.

Gleichzeitig ist eine Entgrenzung der Erwerbsarbeit zu verzeichnen. In den zurückliegenden Jahrzehnten sind Veränderungen in der Erwerbsarbeit festzustellen, die sich auf Lebensplanungen und Lebensführung von Menschen auswirken. Neben längeren Ausbildungszeiten haben zum einen atypische Beschäftigungsformen, wie geringfügige Beschäftigung, Leiharbeit oder befristete Arbeitsverhältnisse, zugenommen. Erwerbsarbeit entgrenzt sich zum anderen räumlich (Home Office/Telearbeit, wechselnde Arbeitsorte, Pendeln etc.) und zeitlich (Flexibilisierung z. B. von Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit). Der vermehrte Einsatz von neuen Informations- und Kommunikations-technologien intensiviert Erwerbsarbeit und verstärkt die genannten Entwicklungen.[18] Weiterhin werden dadurch Veränderungen im Sinne eines umfassenden Zugriffs durch Erwerbsarbeit auf die „ganze Person“ mit ihren mentalen, emotionalen und körperlichen Ressourcen beschrieben.[19] Demgegenüber steht die Verringerung sozialer Bindungen an Betriebe und Kolleg*innenkreise, die eine stabilisierende und Selbstwert fördernde Wirkung haben können.[20]

In der Folge sind Zeitnöte der größte Alltagsstressor, die dazu führen, „in der zeitlich verdichteten Rush-Hour des Lebens zwischen Mitte zwanzig und Ende dreißig […] zentrale Lebensereignisse […] simultan zu bewältigen“.[21] Durch längere Bildungsverläufe, die Notwendigkeit lebenslangen Lernens, die Unsicherheit von Berufseinstiegen, komplizierte Verpartnerungsprozesse und die bereits benannte Erosion der männlichen Ernährerrolle, die in Zusammenhang mit guten Bildungsabschlüssen und entsprechenden Erwerbswünschen von Frauen steht, kann es zu einer enormen Verdichtung von Aufgaben führen. Diese lassen kaum Zeit für Sorgearbeit.[22] Damit geht einher, dass auch die Selbstsorge zu kurz kommt und sich in weiterer Erschöpfung und Überlastung äußert. So dehnt sich Erwerbsarbeit weiter aus, aber die Zeit für Regeneration, für Partner*in, für Ehrenamt wird weniger (Statistisches Bundesamt 2015). Familienzeiten müssen häufig regelrecht erkämpft werden und fordern weitere Organisation. Familien sind hierdurch auf externe Dienste angewiesen, um Zeitnöten zu begegnen und der Verdichtung von Aufgaben entgegenzuwirken. Hinzu kommt, dass die Koordination des Familienalltags komplexe Anforderungen mit sich bringt: Kinder verbringen ihren Alltag teilweise in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, in Vereinen oder Bildungsinstitutionen, und die Aufgaben und Aktivitäten der Eltern, individuell, mit und für die Kinder oder als Paar, müssen organisiert werden. Sorgearbeit bedeutet somit zunehmend auch das aktive Auswählen, Arrangieren, Koordinieren von Diensten und das Aushandeln von Hilfearrangements mit Dienstleistungserbringern. Alltagsorganisation ist ein wichtiger Teil von Sorgearbeit.

Des Weiteren leben immer mehr Erwachsene und Kinder durch die Auflösung von Partnerschaften im Verlauf ihres Lebens in verschiedenen Familienkonstellationen, wie z. B. Ein-Eltern-Familien oder Stieffamilien.[23] Insbesondere in diesem Zusammenhang ist Multilokalität als eine Realität zu betrachten, mit der Familien heute umzugehen haben.[24] Auch Unterstützungsleistungen, z. B. durch Großeltern, stehen seltener in räumlicher Nähe zur Verfügung.[25] Um all diese Herausforderungen zu bewältigen, sind haushaltsnahe Dienstleistungen wie Pflegekräfte oder Kinderbetreuung für Familien bis hin zu alltagsnahen informellen Hilfen (z.B. ehrenamtliche Reisebegleiter für kleine Kinder, die zwischen den Wohnsitzen ihrer Eltern pendeln) von großer Bedeutung. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass die notwendige Neuverteilung von Sorgearbeit in Deutschland auch damit einhergeht, dass Migrantinnen aus ärmeren Ländern die steigende Nachfrage bedienen und damit die Fürsorge gegenüber den eigenen Kindern an Großmütter o. a. abgeben und sich das Problem global lediglich verschiebt.[26]

Darüber hinaus steigen die Erwartungen an Elternschaft: Das Wissen über das psychische und emotionale Wohlbefinden von Kindern und die Bedeutung von Sozialisation und Förderung innerhalb und außerhalb der Familie führt zu dem Bedürfnis der Eltern, alles richtig machen zu wollen. Zudem steigt die Bildungssensibilität von Eltern und damit einhergehend die Erwartungen des Schulsystems, dass Eltern in die Bildung ihrer Kinder investieren und sie unterstützen. Dies stellt sie unter erhöhten Anforderungsdruck.[27]

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Familie eine große Ressource für gutes Aufwachsen von Kindern und für gelebte Gemeinschaft ist. Dennoch steht sie vielen äußeren und inneren bzw. verinnerlichten Ansprüchen gegenüber und versucht, diese zu erfüllen. Dies führt jedoch dazu, dass die Ressource Zeit als Stressfaktor im Alltag wahrgenommen werden kann und Eltern zwischen Vereinbarkeit von Familie und Beruf jonglieren und sich häufig unter Druck gesetzt sehen. Die AGJ sieht hier eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung Familien durch entsprechende Rahmenbedingungen zu unterstützen, sodass Familien ihren Alltag gut individuell organisieren und Familie leben können. Die Kinder- und Jugendhilfe kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten; genauso sind aber alle anderen gesellschaftlichen Bereiche gefordert, zur Unterstützung von Familie beizutragen.

Die Rolle der Kinder- und Jugendhilfe in Bezug auf Sorgearbeit in Familien und deren Herausforderungen

Die Aufgaben und Tätigkeitsfelder der Kinder- und Jugendhilfe berühren die Arbeit mit Familien sowie mit verschiedenen Familienformen und bringen eine Auseinandersetzung mit Lebensrealitäten von Familien mit sich. Gemäß § 1 Abs. 2 SGB VIII sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Damit wird im SGB VIII der Art. 6 Abs. 2 GG wiederholt und festgestellt, dass es sich um einen elterlichen Erziehungsvorrang handelt, der sich nicht nur auf die familiäre Erziehung, sondern „auf die Gesamtheit aller erzieherischen Einflüsse auf die Kinder erstreckt“.[28] Das heißt, auch wenn „Familien bzw. Elternteile mit der Wahrnehmung ihrer Elternverantwortung be- oder überlastet sind, […] ergibt sich daraus keine Legitimation des Staates, die Verantwortungs-bereiche zwischen sich und den Eltern neu aufzuteilen.“[29] Vielmehr ist die „allseits beklagte Überforderung von Eltern(-teilen) […] ein wichtiger Grund zur Schaffung besserer Rahmenbedingungen für die Erziehung von Kindern und die Unterstützung der elterlichen Erziehungsverantwortung, nicht aber zur (teilweisen) Entmündigung von Eltern“.[30]

In den letzten Jahren erforderte die Ausdifferenzierung familiärer Lebensformen und die fortschreitende Institutionalisierung von Kindheit und Jugend eine Neubestimmung dessen, worin die öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern besteht. Wie diese Verantwortung gelebt werden und was sie umfassen soll, ist dabei bisher nicht einheitlich definiert und bedarf weiterer Klärung. Im 11. Kinder- und Jugendbericht wird die öffentliche Verantwortung im Sinne der Verantwortung für die Ermöglichung eines gelingenden Lebens in den Vordergrund gestellt. „Die Lebensbedingungen sind so zu gestalten, dass Eltern und junge Menschen für sich selbst und füreinander Verantwortung tragen können“.[31] Öffentliche Verantwortungsübernahme für das Aufwachsen von Kindern beinhaltet zum einen den Ausbau von Infrastrukturangeboten, die Familien bei ihrer Erziehungsarbeit unterstützen und die die Kinder in ihrer Entwicklung und Bildung fördern. Zum anderen wohnt ihr das Versprechen inne, dass diese staatlich geförderten oder rechtlich regulierten Angebote qualitative Mindeststandards erfüllen. Damit verbunden sind selbstverständlich auch Maßnahmen zur Sicherstellung von Eltern- und Kinderrechten.[32]

Die Kinder- und Jugendhilfe hat somit den Auftrag, sich für die Schaffung guter Rahmenbedingungen – sei es durch infrastrukturelle oder einzelfallorientierte Leistungen – stark zu machen und Familien insbesondere dann zu unterstützen, wenn sie sich mit den oben angedeuteten veränderten Herausforderungen überfordert sehen. Durch das Zur-Verfügung-Stellen von familienorientierten und passenden Betreuungs- und Unterstützungssettings kann die Kinder- und Jugendhilfe allen Familien Hilfestellung geben und dadurch strukturelle Ungleichheiten kompensieren und Eltern stärken.[33] Es fehlen insbesondere rechtliche Regelungen, die Familien mit beeinträchtigten Kindern Hilfen zur Alltagsbewältigung zur Verfügung stellen.
Die Kinder- und Jugendhilfe übernimmt als familienergänzendes System Bereiche der Sorgearbeit, wie die Kinderbetreuung in öffentlicher Verantwortung. Diese Bereiche und Angebote sind ein fester Bestandteil des Alltags von Familien und in der Lebensbiografie von Kindern. Das eigene Selbstverständnis der Kinder- und Jugendhilfe und die Angebote für Familien müssen in Anbetracht des stetigen gesellschaftlichen Wandels, der sich auf die Formen und das Wohlbefinden von Familien auswirkt, neu eingeordnet oder zumindest nachjustiert werden. Angebote für Familien müssen passgenau, ausdifferenziert und von hoher Qualität sein und den Familien die Freiheit zur Wahl eines passenden Angebots geben. Dies erfordert, dass Familien darin gestärkt werden, selbstbewusst und souverän die passenden Angebote für sich aussuchen zu können. Sie müssen jedoch ebenso die Wahl haben, keins der Angebote wahrzunehmen. Es braucht daher u. a. eine breite und ressortübergreifende Debatte zur Ausgestaltung von familiären Unterstützungsleistungen und besseren Rahmenbedingungen für Familien allgemein sowie die Ermöglichung von erfüllender und nicht überlastender Sorgearbeit in Familien. Dazu hat die AGJ einige Forderungen erarbeitet.

Forderungen für bessere Rahmenbedingungen und mehr Akzeptanz und Unterstützung von Sorgearbeit in Familien

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ sieht die Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe in der Pflicht, sich aktiv(er) mit der Situation und den Herausforderungen, die Familien erleben, auseinanderzusetzen und ihre Wünsche und Unterstützungsbedarfe in den Blick zu nehmen. Damit sollen Familien Sorge- und Erwerbsarbeit unter guten Rahmenbedingungen nachgehen können. Hierfür müssen sich die rechtlichen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen ändern und den Wandel der Geschlechter-, Familien-, Generationen- und Arbeitsbeziehungen sowie der Lebensläufe achtsam unterstützen.[34]

Stärkeres Eintreten der Kinder- und Jugendhilfe für Familien

In die dringend notwendige gesamtgesellschaftliche Diskussion möchte die AGJ ihre Überlegungen und Forderungen einspeisen. Denn aus Sicht der AGJ ist es an der Zeit, dass Sorgearbeit und die Situation von Familien gesamtgesellschaftlich diskutiert wird und die Kinder- und Jugendhilfe diese mit anstößt und sich hier aktiv an der Verbesserung der Rahmenbedingungen von Sorgearbeit in den Familien beteiligt und die Diskussionen damit zweifelsohne bereichert.
In Hinblick auf Familien und insbesondere Eltern und andere Erziehungsberechtigte hat die Kinder- und Jugendhilfe den Auftrag, bei der Erziehung zu beraten und Familien durch Angebote und Dienste zu unterstützen sowie anwaltschaftlich für sie einzutreten. Daraus ergibt sich für die Kinder- und Jugendhilfe die Aufgabe, schwierige Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Missstände für Familien im Blick zu behalten, zu analysieren, aktiv auf sie hinzuweisen und sich in Diskussionen kritisch einzumischen. Nur so kann sie einen Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen und bestenfalls familiengerechtere Rahmen-bedingungen erwirken. Diesem Auftrag sollte vor dem Hintergrund des stetigen Wandels vermehrt Rechnung getragen werden.

Familien in ihrer Fürsorge stärken und Angebote schaffen

Die Angebote und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe sollten Familien in ihrem Wunsch nach der Ausübung von Sorge- und Erwerbsarbeit und der Wahrnehmung ihrer Verantwortung stärken. Sie können Familien unterstützen, jedoch nicht allein für eine gesamtgesellschaftliche Verbesserung der Situation für Familien sorgen.
Benötigt wird eine ganzheitliche Betrachtung von Sorgearbeit im Lebensverlauf aller Menschen und passende und ineinander verschränkte Angebote sowie monetäre Hilfen und Absicherung für Sorgearbeit. Hierfür gibt es bereits Ideen und Modelle, wie z. B. das Care-Zeit-Budget, das ein Guthaben vorsieht, aus dem der Staat seinen Bürger*innen jenen Lohnausfall ersetzt, der entsteht, wenn diese sich für einen begrenzten Zeitraum ihren Care-Aufgaben widmen. Oder auch das Grundeinkommen als ein Einkommen, dass Menschen in ihrer Existenz sichert und ihnen gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht sowie dies individuell durch einen Rechtsanspruch garantiert. Das heißt, dass sich auch die Kinder- und Jugendhilfe vor diesem Hintergrund entschieden gegen eindimensionale Lösungen wehren und sich insgesamt für bessere Rahmenbedingungen für Familien stark machen sowie eine ressortübergreifende Befassung fordern muss. Dafür muss es zunächst Ziel sein, alle Familien mit bedarfsgerechten Informationen zu versorgen und sie in die Lage zu versetzen, für sich passende Angebote auszuwählen. Insbesondere die Corona-Krise verdeutlicht, welche relevanten Aufgaben Familien erfüllen und derzeit vermehrt wahrnehmen. Mit diesen Erkenntnissen sollten bereits bestehende Modelle und Ideen mehr Aufmerksamkeit erlangen, sich mit ihnen auseinandergesetzt und diese weiterverfolgt werden. Die Kinder- und Jugendhilfe könnte sich hier richtungsweisend einbringen.
Mit in den Blick zu nehmen sind hier auch die vielfältigen zivilgesellschaftlichen Initiativen und Ansätze (z. B. Patenschaftsprogramme, Hausaufgabenbetreuung, Leih-Omas), die oft flexibel und niedrigschwellig Bedürfnisse von Familien aufgreifen und wesentlich zu deren Entlastung beitragen. Diese wichtige Ressource für Familien zu stärken und fördern und sie als Kooperationspartner ernst zu nehmen, die meist nah an den Familien agieren und auch solche Familien erreichen, die durch etablierte Angebote nicht immer erreicht werden, stellt dabei einen weiteren Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe dar.

Partizipation von Familien sicherstellen

Familien brauchen verlässliche Mitsprache- und Beteiligungsmöglichkeiten in Angeboten und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Ihre Bedarfe müssen erhoben und berücksichtigt werden, denn nur so können Familien selbst passende Angebote anregen und hierdurch die Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe stetig verbessern und Teil von ihnen werden. Dies bedeutet für die Kinder- und Jugendhilfe zunächst alle Familien im Blick zu haben und ihnen zugängliche und passende Angebote bereitzustellen, sich selbst als beteiligungsorientiert und offen für die Mitsprache und das Engagement von Familien zu erweisen. In einem zweiten Schritt braucht es fest verankerte und vielfältige Möglichkeiten, dass sich Familien darüber hinaus einbringen und ihren Sozialraum mitgestalten und familienfreundlicher machen können. Dies bedeutet auch die stärkere Berücksichtigung familiärer Bedarfe auf verschiedenen politischen Ebenen. Die Kinder- und Jugendhilfe muss diese Prozesse begleiten und befördern und ressortübergreifend darauf drängen, dass die Bedarfe von Familien berücksichtigt werden und somit jede Familie passende Angebote vorfindet. Nur so können Veränderungen von Rahmenbedingungen angestoßen, Maßnahmen auf die Bedarfe von Familien abgestimmt werden und diese ihre Wirksamkeit entfalten. Die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe können hierdurch optimiert und nachhaltig verbessert werden. Dadurch können das System Familie von der Kinder- und Jugendhilfe nachhaltig gestärkt und Eltern in ihrer Erziehungsverantwortung frühzeitig unterstützt werden.

Auf die Aufwertung/Anerkennung von Sorgearbeit hinwirken

Die Aufwertung und Anerkennung von Sorgearbeit, die Menschen alltäglich erbringen sei es im familiären, professionellen oder ehrenamtlichen Kontext, muss Ziel einer gesellschaftlichen Debatte sein. Die in den zurückliegenden Jahrzehnten immer weiter gestiegenen Anforderungen an Familien und der damit einhergehende zurückgedrängte Raum für (das Ausleben von) wechselseitige(r) Fürsorge und Verantwortung muss dabei in den Mittelpunkt weiterer Überlegungen und Problemlösungen rücken. Es muss verdeutlicht werden, dass die Sorge für sich und andere Menschen etwas Sinnstiftendes und Positives ist, das ermöglicht und unterstützt werden sollte. Sorgearbeit ist existenziell in unserer Gesellschaft und muss als ein allgemeinmenschliches Gut anerkannt werden. Nur so kann eine positive Aufwertung von Care stattfinden. Denn bisher wird sie als selbstverständlich hingenommen und zu wenig honoriert. Zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Familien und Sorgearbeit allgemein sind ganzheitliche Modelle, Überlegungen und Programme hilfreich, die den Menschen über sein ganzes Leben betrachten, die verschiedenen möglichen Care-Phasen und Care-Situationen darstellen und somit den ganzen Lebenslauf abdecken sowie flexible und individuelle Lösungen zum Ziel haben. Auch hierauf muss die Kinder- und Jugendhilfe durch den konsequenten Blick auf sowie die anwaltschaftliche Unterstützung von Familien hinwirken.

Mehr Akzeptanz von familiärer Sorgearbeit in der Kinder- und Jugendhilfe

Die Kinder- und Jugendhilfe als Arbeitgeber für Personen, die sorgende Tätigkeiten professionell ausführen, sowie für Personen, die in ihrem sozialen Umfeld Sorgearbeit übernehmen, muss verstärkt auf die Individuen und deren diverse Arbeitsplätze, Lebenssituationen, Bedürfnisse und Wünsche sowie damit verbundene Aufgaben und Herausforderungen eingehen. Um vorbildhaft auf weitere gesellschaftliche Entwicklungen zu wirken, sollte die Kinder- und Jugendhilfe eigene Modelle entwickeln, ausprobieren und implementieren, die eine Flexibilität (Vollzeit und Teilzeit) und Familienfreundlichkeit von Arbeitszeiten und das Nachgehen von Sorgearbeit im familiären Umfeld als wichtigen Bestandteil des Gemeinwesens und der individuellen Lebenssituation der Fachkräfte ermöglichen. Denn „insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe, wo Fachkräfte andere Familien entlasten und unterstützen, sollte auch für sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf möglich sein. Hierfür müssen passende Konzepte entwickelt werde. Die Möglichkeit, ihr Leben selbst gut organisieren zu können und dabei unterstützt zu werden, kann ein wesentlicher Haltefaktor für die Fachkräfte sein.“[35]

Familien erleben im Verlauf ihrer Lebens Situationen, wo die Sorge für andere plötzlich sehr dringlich ist oder/und sich über viele Jahre zieht. Die Situationen der Sorge können somit sehr unterschiedlich sein und als belastend oder sinnstiftend – oder beides gleichzeitig – wahrgenommen werden. Deutlich wird, dass in der Befassung mit Sorgearbeit in Familien die Perspektive auf den Lebenslauf der einzelnen Personen sinnvoll ist. Denn der beschränkte Blick auf und die Maßnahmen für einzelne Lebensabschnitte bieten Familien höchstens temporäre Entlastung, aber keine selbstständige Möglichkeit eigene Planungen zu machen und ein Gefühl zu entwickeln, ihr Leben selbst bestimmen und der Sorgearbeit mit genügend finanziellen und zeitlichen Ressourcen nachgehen zu können. Die Kinder- und Jugendhilfe ist hier aufgefordert sich einzumischen und anwaltschaftlich für Familien und bessere Rahmenbedingungen einzutreten.

 

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 03./04. Dezember 2020

 

Fußnoten

[1] Ansprechperson für dieses Positionspapier in der AGJ ist die zuständige Referentin des Arbeitsfeldes IV „Kindheit, Kinderrechte, Familienpolitik“: Eva-Lotta Bueren (eva-lotta.bueren@agj.de).
[2] Als Familie und Eltern werden hier – neben den biologischen Elternteilen – auch alle sozialen Elternteile mitgezählt. Das heißt, Stieffamilien, Adoptiv- und Pflegefamilien, Patchwork-Familien, gleichgeschlechtliche Paare etc.
[3] Brückner, Margrit (2020): Care und Corona. Was haben Care und Corona gemeinsam?,in: Böhmer, Anselm/Engelbracht, Mischa/Hünersdorf, Bettina/Kessl, Fabian/Täubig, Vicki (Hg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. (Abgerufen unter: sozpaed-corona.de/care-und-corona-was-haben-care-und-corona-gemeinsam/)
[4] 8.000 Eltern von Kindern von 3-15 Jahren.
[5] Langmeyer, Alexandra et. al. (2020): Kindsein in Zeiten von Corona. Erste Ergebnisse zum veränderten Alltag und zum Wohlbefinden von Kindern. DJI
[6] Inclusion Technology Lab e.V./ Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT (2020): Schulöffnungen: Ein Tropfen auf den heißen Stein. So leiden beeinträchtigte Kinder und ihre Eltern unter der Corona-Krise. (Abgerufen unter: asbh.de/wp-content/uploads/2020/06/2020-06-03_Corona-Umfrage-Fraunhofer-Tech-Inc-Lab.pdf)
[7] Siehe auch AGJ-Positionspapier „Staat wirkt an Erziehung mit – und wirkt auf Erziehung ein“ (2018).
[8] Winker, Gabriele (2015): Care Revolution. transcript Verlag. Bielefeld, S. 22.
[9] A. a. O.
[10] Böllert; Karin (2018): Kompendium der Kinder- und Jugendhilfe. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 425.
[11] BMFSFJ (2011): Zeit für Familie. Ausgewählte Themen des 8. Familienberichts. S. 4.
[12] 15. KJB, S. 200.
[13] Bundesregierung (2017): Zweiter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. BT-Drucksache 18/2840, Berlin, S. 27 ff. und 87 ff.
[14] Ebd., S. 34.
[15] Z. B. Jurczyk, Karin/Lange, Andreas/ Thiessen, Barbara (Hrsg.) (2014): Doing Family. Warum Familienleben heute nicht mehr selbstverständlich ist. Beltz Juventa, Basel und Weinheim.
[16] DJI Projekt „Entgrenzte Arbeit - Entgrenzte Familie. Neue Formen der praktischen Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld Arbeit und Familie“. (/www.dji.de/ueber-uns/projekte/projekte/entgrenzte-arbeit-entgrenzte-familie/ausgangssituation.html)
[17] Die AGJ möchte darauf hinweisen, dass das Ernährermodell hier lediglich zur Beschreibung eines häufig vorherrschenden Modells der Aufteilung von Tätigkeiten/Rollen/Aufgaben zwischen Paaren genannt wird, bei dem vor allem die männlich gelesene Person erwerbstätig ist und dadurch hauptsächlich für den Lebensunterhalt der Familie sorgt. Dies findet sich jedoch ebenso z. B. in gleichgeschlechtlichen Paarbeziehungen etc. wieder.
[18] Schier, Michaela/Jurczyk, Karin (2007): „Familie als Herstellungsleistung“ in Zeiten der Entgrenzung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung DAS PARLAMENT. 34/2007, S. 10-17.
[19] Vgl. Jurczyk, Karin/Szymenderski, Peggy (2012): Belastung durch Entgrenzung - Warum Care in Familien zur knappen Ressource wird. In: Lutz, Roland (Hrsg.): Erschöpfte Familien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 92.
[20] Ebd.
[21] Jurczyk, Karin/Mückenberger, Ulrich (2020): Abschlussbericht: „Selbstbestimmte Optionszeiten im Erwerbsverlauf“. München: Deutsches Jugendinstitut.
[22] Ebd.
[23] Vgl. Jurczyk, Karin/Szymenderski, Peggy (2012): Belastung durch Entgrenzung - Warum Care in Familien zur knappen Ressource wird. In: Lutz, Roland (Hrsg.): Erschöpfte Familien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 92 ff.
[24] Vgl. Jurczyk, Karin/Klinkhard, Josefine (2014): Vater, Mutter, Kind? Acht Trends in Familien, die Politik heute kennen sollte. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung.
[25] Zeitpolitisches Magazin 2014. Jahrgang 11. Ausgabe 24.
[26] Apitzsch, Ursula/Schmidbauer, Marianne (2011): Care, Migration und Geschlechtergerechtigkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung DAS PARLAMENT. 37-38/2011, S. 43-49, verfügbar unter: /www.bpb.de/apuz/33149/care-migration-und-geschlechtergerechtigkeit?p=all.
[27] Meyer, Thomas (2002): Moderne Elternschaft - neue Erwartungen, neue Ansprüche. (www.bpb.de/apuz/26894/moderne-elternschaft-neue-erwartungen-neue-ansprueche?p=all)
[28] Wiesner, Reinhard (2015): SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, 5., überarbeitete Auflage. C.H. Beck. München, § 1 RN 15.
[29] Ebd., § 1 RN 19.
[30] Wiesner, Reinhard (2015): SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, 5., überarbeitete Auflage. C.H. Beck. München, § 1 RN 19.
[31] BMFSFJ (2002): 11. Kinder-und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder-und Jugendhilfe in Deutschland. Bonn. S. 59.
[32] AGJ (2013): Private Erziehung in öffentlicher Verantwortung - Folgen für die Kompetenzanforderungen in der Kindertagespflege und der Pflegekinderhilfe. Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ.
[33] Böllert; Karin/Peter, Corinna (2012): Mutter + Vater = Eltern? Sozialer Wandel, Elternrollen und Soziale Arbeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
[34] Jurczyk, Karin/Mückenberger, Ulrich (2016): Thema Atmende Lebensläufe. In Zeitpolitisches Magazin 2016, Jahrgang 13, Ausgabe 28, S. 1 f.
[35] Dem wachsenden Fachkräftebedarf richtig begegnen! Entwicklung einer Gesamtstrategie zur Personalentwicklung mit verantwortungsvollem Weitblick Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ