Die Strategie Europa 2020 - Die Rechte und das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen stärker berücksichtigen!

Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Stellungnahme als PDF

Mit der vorliegenden Stellungnahme nimmt die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ eine Bewertung der für die Kinder- und Jugendhilfe relevanten Themenbereiche im Nationalen Reformprogramm Deutschland (NRP) 2015 und der Strategischen Sozialberichterstattung 2015 sowie der vorausgegangenen länderspezifischen Empfehlungen des Rates der Europäischen Union vom 8. Juli 2014 zum Nationalen Reformprogramm 2014 vor.[1]
Damit soll der Bewusstseinsbildungsprozess für kinder- und jugendpolitische Belange bei der Umsetzung der Strategie Europa 2020 befördert werden, die insbesondere eine wirtschafts- und beschäftigungspolitische Ausrichtung aufweist und vorrangig die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der EU-Mitgliedstaaten zum Ziel hat. Die AGJ unterstreicht, dass neben den zentralen Bereichen wie Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung flankierend alle Politikbereiche zur Erreichung der übergeordneten Ziele der Strategie Europa 2020 beitragen – insbesondere auch, weil diese bildungs- und sozialpolitische Kernziele setzt. Damit sind die sozialen Bereiche Kindheit und Jugend, (non-formale) (Aus-)Bildung sowie soziale Integration/ Inklusion einbezogen und müssen fachpolitisch begleitet werden. Umgekehrt haben die wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Zielsetzungen im Rahmen der Strategie Europa 2020 bedeutende Auswirkungen auf die Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. In ihrer anwaltschaftlichen Funktion für alle Kinder und Jugendlichen (§ 1 SGB VIII) setzt sich die AGJ daher für die stärkere Berücksichtigung der Rechte und des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Strategie Europa 2020 mit dem Ziel der Verbesserung der Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien ein.

Die Kinder- und Jugendhilfe ist von Anfang an in die Konsultationsverfahren im Rahmen der Strategie Europa 2020 einzubeziehen!

Es gilt, die Kinder- und Jugendhilfe bereits zu Beginn der Konsultations-verfahren auf nationaler Ebene im Rahmen der Strategie Europa 2020 einzubeziehen. Dabei bedarf es einer verstärkten Einbindung sowohl der Träger der Kinder- und Jugendhilfe als auch unterschiedlicher themenspezifischer Zielgruppen. So ist es möglich, sich die auf europäischer und nationaler Ebene festgelegten Ziele zu Eigen zu machen und entsprechend zu unterstützen sowie eine Balance zwischen ökonomischen und sozialpoli-tischen Zielen zu erreichen.
Grundsätzlich ist die AGJ der Ansicht, dass das NRP und die Strategische Sozialberichterstattung nur ungenügend kinder- und jugendpolitische Belange berücksichtigen. Bei der Umsetzung der Strategie Europa 2020 als Investitionsstrategie sollten Kinder und Jugendliche jedoch im Sinne der Entwicklung von Perspektiven und der Förderung von Potenzialen verstärkt in den Blick genommen werden. Die Kinder- und Jugendhilfe ist mit ihren Handlungsfeldern und Angeboten ein wichtiger Akteur bei der Umsetzung einzelner Zielvorgaben im Rahmen der Strategie Europa 2020. Im Folgenden nimmt die AGJ die für die Kinder- und Jugendhilfe relevanten Themenbereiche und Ziele der Strategie Europa 2020 kritisch in den Blick und formuliert für die einzelnen Themenbereiche aus fachpolitischer Sicht kinder- und jugendpolitische Anforderungen für deren Umsetzung.

Zielsetzungen auf europäischer Ebene im Rahmen der Strategie Europa 2020

Die Strategie Europa 2020 setzt drei Prioritäten: intelligentes Wachstum (Entwicklung einer auf Wissen und Innovation gründenden Wirtschaft), nachhaltiges Wachstum (Förderung einer emissionsarmen, ressourcen-schonenden und wettbewerbsfähigen Wirtschaft) und integratives Wachstum (Förderung einer Wirtschaft mit hohem Beschäftigungsniveau sowie sozialem und territorialem Zusammenhalt). Mit der Strategie Europa 2020 bündelt die EU unterschiedliche Politikstrategien, etwa die EU-Strategie zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Zur Ausgestaltung der genannten Prioritäten einigten sich die Mitgliedstaaten auf folgende wirtschafts-, bil-dungs, arbeitsmarkt- und sozialpolitische Kernziele[2]

  • Beschäftigung: Erwerbstätigenquote von 75 Prozent für 20-64-Jährige, vermehrte Einbeziehung von Jugendlichen, Älteren, Geringqualifi-zierten und Migranten
  • Forschung und Entwicklung: Drei Prozent des BIP der EU sollen für Forschung und Entwicklung aufgewendet sowie die Rahmenbedingungen verbessert werden,
  • Klimawandel und nachhaltige Energiewirtschaft: Verringerung der Treibhausgasemissionen um 20 Prozent (oder sogar um 30 Prozent, sofern die Voraussetzungen hierfür gegeben sind) gegenüber 1990; Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien auf 20 Prozent; Steigerung der Energieeffizienz um 20 Prozent),
  • Bildung[3]: Verringerung der Quote vorzeitiger Schulabgängerinnen und Schulabgänger[4] auf unter 10 Prozent; Steigerung des Anteils der 30- bis 34-Jährigen mit abgeschlossener Hochschulbildung auf mindestens 40 Prozent),
  • Armut und soziale Ausgrenzung: Die Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen oder bedrohten Menschen soll um mindestens 20 Millionen gesenkt werden.

Die Bundesregierung bekennt sich zu den fünf Kernzielen der Strategie Europa 2020 für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum in Europa.

Zusammenspiel des Berichtswesens zur Überprüfung der nationalen Umsetzung

Die Strategie Europa 2020 für Beschäftigung und Wachstum wurde vom Europäischen Rat im Juni 2010 für die Zeit bis 2020 verabschiedet und wird im sogenannten Europäischen Semester umgesetzt und überprüft. Zentrales Instrument für die Umsetzung der Strategie Europa 2020 sind die Nationalen Reformprogramme (NRP). Darin legen die EU-Mitgliedstaaten jährlich dar, wie sie die auf europäischer Ebene vereinbarten, vorrangig wirtschafts- und beschäftigungspolitisch ausgerichteten Ziele in ihrer nationalen Politik erreichen wollen. Darüber hinaus wird seit den 1990er Jahren[5] die offene Methode der Koordinierung (OMK) zur Weiterentwicklung und Konvergenz der Politikziele in Europa in den Bereichen angewendet, in denen die EU keine eigene Rechtsetzungskompetenz hat. Die OMK im Bereich Sozialschutz und soziale Eingliederung (OMK Soziales) zur Erreichung der sozialpolitischen Ziele[6] der EU wird flankierend eingesetzt, um zur Umsetzung der übergeordneten Ziele der Strategie Europa 2020 beizutragen. Zentrales Instrument im Rahmen dieses Austausch- und Berichtswesens ist die Strategische Sozialberichterstattung.

Ausgangspunkt der Berichterstattung eines Europäischen Semesters ist die Vorstellung des Jahreswirtschaftsberichts der EU im Januar, in dem die wichtigsten Prioritäten und Handlungsanforderungen beschrieben werden, auf dessen Grundlage die Mitgliedstaaten ihre (Fortschritts-)Berichte erarbeiten. Dabei wird die Strategische Sozialberichterstattung ergänzend zum NRP vorgelegt. Beide Berichte beziehen sich an den jeweils relevanten Stellen aufeinander, wobei die sozialpolitischen Dimensionen der im NRP behandelten Themenbereiche in der Strategischen Sozialberichterstattung aufgegriffen werden. Die nationalen Berichte werden durch die EU-Kommission analysiert, um in der Folge länderspezifische Empfehlungen für die einzelnen EU-Staaten zu formulieren. Die länderspezifischen Empfehlungen sind der Hebel der Europäischen Kommission, die Umsetzung der Strategie Europa 2020 in den Mitgliedstaaten voranzubringen und Strukturreformen in den Mitgliedstaaten anzustoßen. Dabei handelt es sich um individuelle Leitvorgaben für die einzelnen Mitgliedstaaten, die jedes Jahr ausgesprochen werden und auf einer Überprüfung der wirtschaftlichen und sozialen Leistung jedes Mitgliedstaates vom Vorjahr und den im Jahreswachstumsbericht der Kommission festgelegten EU-weiten Prioritäten für Wachstum und Beschäftigung basieren.


Bewertung der Ziele und Maßnahmen im Rahmen der Strategie Europa 2020 aus kinder- und jugendpolitischer Perspektive

1. Themenbereich: Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit, Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und Nutzung des Arbeitskräftepotenzials

EU-weit wird auf die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und das Erreichen einer höheren Beschäftigungsquote junger Menschen großes Augenmerk gelegt. Das im NRP benannte EU-Kernziel bzw. nationale Ziel, die Erwerbstätigenquote für 20-64-Jährige auf 75 bzw. 77 Prozent zu erhöhen, schließt jedoch einen Großteil der Zielgruppe (die unter 20-Jährigen) aus, für die die Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) zuständig ist. In Ergänzung des Kernziels ist allerdings auch die EU-Jugendgarantie in den Blick zu nehmen, die die Zielgruppe der unter 20-Jährigen einschließt. Über die EU-Jugendgarantie soll erreicht werden, dass alle jungen Menschen unter 25 Jahren – ob bei der Agentur für Arbeit oder dem Jobcenter gemeldet oder nicht – innerhalb von vier Monaten nach Abschluss ihrer Ausbildung oder nachdem sie arbeitslos geworden sind, ein konkretes und qualitativ hochwertiges Angebot für eine Arbeitsstelle, einen Ausbildungsplatz, ein Praktikum oder eine Fortbildung erhalten. Damit stärkt die EU-Jugendgarantie die Eingliederung junger Menschen in Beschäftigung.
In ihrem Länderbericht 2015 für Deutschland bemängelt die Europäische Kommission, dass trotz einer niedrigen Jugendarbeitslosigkeit nach wie vor geografische und sozioökonomische Unterschiede bestehen und Jugendliche in Ostdeutschland sowie mit Migrationshintergrund deutschlandweit überpro-portional stark von Arbeitslosigkeit betroffen seien. Darüber hinaus habe Deutschland bisher keine umfassende Strategie vorgelegt, wie Jugendliche, die weder eine Arbeit haben noch eine schulische oder berufliche Ausbildung absolvieren und nicht bei der Agentur für Arbeit oder dem Jobcenter gemeldet sind, erreicht werden und in den Genuss der Jugendgarantie kommen können.[7]
Deutschland begegnet dieser Kritik in seinem NRP bzw. in der Strategischen Sozialberichterstattung mit der Benennung konkreter Maßnahmen im sogenannten Übergangsbereich von der Schule in den Beruf. Im Übergangsbereich sollen die vielfältigen Angebote besser aufeinander abgestimmt werden, um jungen Menschen, vor allem Leistungsschwächeren, einen möglichst nahtlosen Übergang in den Beruf zu ermöglichen. Unter dem Dach der „Arbeitsbündnisse Jugend und Beruf“ werden diese Bestrebungen bereits in einer Vielzahl von Projekten zur Verbesserung der Zusammenarbeit am Übergang von der Schule in den Beruf und an den Schnittstellen zwischen den Sozialgesetzbüchern II (Grundsicherung für Arbeitsuchende), III (Arbeits-förderung) und VIII (Kinder- und Jugendhilfe) umgesetzt. Gegenwärtig bestehen 186 solcher Arbeitsbündnisse. Sie werden als Jugendberufsagentur, Jugendjobcenter oder unter ähnlichen Bezeichnungen geführt und bieten auf die jeweiligen regionalen Verhältnisse zugeschnittene Lösungen an. Ziel ist es, junge Menschen beim Übergang von der Schule in den Beruf sinnbildlich „an die Hand zu nehmen“. Die Zusammenarbeit soll möglichst flächendeckend ausgeweitet und die bereits bestehenden Kooperationen weiterentwickelt werden.

Eine an den Bedarfen der unterschiedlichen Zielgruppen ausgerichtete, jugend(hilfe)politische Gesamtstrategie einfordern!

Die Förderung der Beschäftigung erfordert nach Ansicht der AGJ Maßnahmen im Rahmen eines kohärenten Fördersystems, die es jungen Menschen ermöglichen, eine dauerhafte und den Lebensunterhalt sichernde Beschäftigung zu erreichen. In einer „Generation Praktikum“ werden ebenso wenig Zukunftsperspektiven für junge Menschen und deren soziale und politische Integration in die Gesellschaft geboten wie durch unzureichende und der Ausbildung nicht angemessene Einkommen.[8] Mobilität trägt als Schlüssel für Chancen und Teilhabe sowohl zur Beschäftigungsfähigkeit als auch zur sozialen Integration aller jungen Menschen bei und muss ebenfalls benannt und gefördert werden. Dies gilt insbesondere für benachteiligte und individuell beeinträchtigte junge Menschen, für die Mobilität keine Selbstverständlichkeit darstellt. Dazu gehören auch der Abbau von Mobilitätshemmnissen und die Unterstützung der Einrichtungen und Institu-tionen, die sich in besonderer Weise dieses Themas annehmen.

Weiterhin fordert die AGJ zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit im Sinne eines umfassenden Ansatzes die Kooperation und Vernetzung der einschlägigen Einrichtungen sowie deren adäquate Ausstattung mit den notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen. Erforderlich ist eine umfassende Strategie zur Erreichung der Jugendlichen, die nicht bei der Agentur für Arbeit oder dem Jobcenter gemeldet sind, damit sie von den Maßnahmen im Rahmen der Jugendgarantie profitieren können.
Damit sich das Unterstützungs- und Förderangebot der im Koalitionsvertrag vereinbarten Jugendberufsagenturen mittel- und langfristig im Sinne von jungen Menschen auswirken kann, sollte die Kinder- und Jugendhilfe bei der Gestaltung von Jugendberufsagenturen sowohl strukturell als auch personell einbezogen werden. Erforderlich ist ein gutes Kooperationsmanagement an den Schnittstellen zwischen SGB II, III und VIII mit klaren Zuständigkeiten und gemeinsamen Qualifizierungsangeboten. Notwendig sind zudem sowohl verbindliche Kriterien für die verbesserte Zusammenarbeit der Rechtskreise als auch lokale Gestaltungsspielräume für Jugendberufsagenturen, die gesetzliche Absicherung einer rechtskreisübergreifenden Finanzierungen sowie die Einbettung der Jugendberufsagenturen in eine jugend(hilfe)-politische Gesamtstrategie. Dabei muss der Erfolg von Jugendberufsagenturen insbesondere daran gemessen werden, inwieweit die Situation und die Förderung von benachteiligten Jugendlichen und jungen Erwachsenen verbessert wurde.[9]

Trotz aller Bemühungen, die Schnittstellen zwischen den Sozialgesetzbüchern zu klären, sind für Deutschland grundsätzlich kritisch die weiterhin bestehenden Sonderregelungen für jüngere Leistungsbezieherinnen und Leistungsbezieher im SGB II zu hinterfragen.[10] Deren Wirksamkeit war von Beginn an umstritten, da sie eher zum Abgleiten in die Kleinkriminalität als zu einer aktiven Förderung der Arbeitsmarktintegration beitrügen.
Nicht weniger kritisch ist die Anwendung des Vergaberechts in Deutschland für Maßnahmen und Angebote aus dem SGB II und dem SGB III zur Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit junger Menschen zu sehen. Durch die Vergabe werden die Angebote dem freien wirtschaftlichen Wettbewerb ausgesetzt. Im Verfahren wird dabei nicht mehr vorrangig nach erzieherischen und behindertenspezifischen Notwendigkeiten gefragt. Dies trifft insbesondere benachteiligte Jugendliche, Jugendliche mit Migrationshintergrund sowie junge Menschen mit Behinderung.[11]
In den beschäftigungspolitischen Leitlinien 2015 fordert die EU, bestehende Hemmnisse für eine Teilhabe am Arbeitsmarkt abzubauen und das vorhandene „jugendliche“ Arbeitskräftepotenzial besser als bisher in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Nach wie vor gibt es ca. 1,5 Millionen junge Menschen von 20 bis unter 30 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung.[12] Da ca. 80 Prozent dieser Ungelernten über einen Schulabschluss verfügen, steht einer nachträglichen Berufsausbildung von den Voraussetzungen her nichts im Weg. Hierfür trägt die Kinder- und Jugendhilfe zwar nicht mehr die Verantwortung, sie formuliert aber die gesellschaftliche Notwendigkeit, entsprechende Angebote vorzuhalten. Bisherige Programme (z. B. „AusBildung wird was“ der Bundesagentur für Arbeit) müssen noch realitätsgerechter auf diese Zielgruppe ausgerichtet werden und ihr während der Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen entsprechende Möglichkeiten der Existenzsicherung gewähren. Gleichzeitig fordert die AGJ mit Blick auf die Debatte um Care Leaver, die Rechte von jungen Menschen mit Jugendhilfeerfahrungen zu unterstützen sowie den Rechtsanspruch zu präzisieren und auszuweiten im Sinne der Zuerkennung eines individuellen Rechtsanspruches auf notwendige und geeignete Hilfen – im Einzelfall bis zum 27. Lebensjahr.[13]
Dies gilt ebenfalls auch für die Zielgruppe der (unbegleiteten) minderjährigen Flüchtlinge in den Jugendhilfeeinrichtungen. Ein besonderes Augenmerk ist darauf zu richten, dass ihnen eine kulturell sensible, gut ausgebaute Infrastruktur an Beratungs-, Förderungs- und Unterstützungsangeboten im Hinblick auf Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, um jedem jungen Flüchtling, der im Lande verbleibt, eine echte Teilha-bechance zu eröffnen.[14]

2. Themenbereich: Kindertagesbetreuung

Die EU verfolgt das Ziel, die Betreuungs- und Bildungssysteme für Kinder bis zum schulpflichtigen Alter auszubauen und deren Qualität zu fördern. Das Barcelona-Ziel[15], wonach 33 Prozent der Kinder unter drei Jahren eine öffentliche Kinderbetreuungseinrichtung besuchen sollen, hat Deutschland 2014 mit einer Betreuungsquote von 32,3 Prozent fast erreicht.
Jedoch kritisiert die Europäische Kommission in ihrem Länderbericht 2015, dass bei der Verfügbarkeit von Kinderbetreuungsplätzen deutschlandweit nach wie vor große regionale Unterschiede bestehen. In den östlichen Bundesländern liege die Betreuungsquote bei 52 Prozent, während in den westlichen Bundesländern lediglich eine Quote von 27,4 Prozent erreicht werde. Bemängelt wird auch, dass der Ausbau der Betreuungsplätze bislang vor allem unter quantitativen Gesichtspunkten erfolgt sei. Qualitative Aspekte wie die Förderung von bereichsübergreifenden integrierten Ansätzen beim Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungsangebot sowie die Förderung der Professionalisierung einer ausreichenden Anzahl von Fachkräften, Kompetenzverbesserung und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen kommen bislang aus Sicht der Kommission zu kurz. Sie bemängelt auch das von der Bundesregierung 2013 eingeführte Betreuungsgeld, das sich auf die Teilhabe an frühkindlicher Betreuung, Bildung und Erziehung auswirke.[16]
Als Beitrag zur Verbesserung der Qualität haben sich 2014 Bund, Länder und Kommunen auf einen Fahrplan für die Festlegung gemeinsamer Qualitäts-standards geeinigt. 2016 soll ein erster Ergebnisbericht vorgestellt werden. In seinem NRP weist Deutschland zudem darauf hin, dass die Länder ein kompetenzorientiertes Qualifikationsprofil für die Fachschulausbildung der Erzieherinnen und Erzieher entwickelt haben, das diese für den Einsatz in verschiedenen Arbeitsfeldern qualifiziert, wobei insbesondere auf die frühkindliche Sprachförderung fokussiert werde.

Der quantitative Ausbau der Kindertagesbetreuung ist an dem Erhalt und der Weiterentwicklung der Qualität zu messen!

Die AGJ befürwortet den Ausbau der Kindertagesbetreuung für Kleinkinder, betont aber gleichzeitig die Unauflösbarkeit des Zusammenhangs von Quantität und Qualität.[17] Sie setzt sich dafür ein, dass die Kindertagesbetreuung an den Rechten und Bedürfnissen von Kindern auszurichten ist und unterstreicht die Verpflichtung der Kinder- und Jugendhilfe, sich für die bestmögliche Förderung, den umfassendsten Schutz und eine weitreichende Beteiligung aller in Deutschland lebenden Kinder einzusetzen.
Qualitativ gute Kindertagesbetreuung bedeutet, dass Kind gerechte Betreuungszeiten und eine angemessene Fachkraft-Kind-Relation gewähr-leistet werden. Zu einer guten Qualität gehört eine professionelle Leitung und Koordination, die die Vernetzung der Kinderbetreuungseinrichtung mit angrenzenden Systemen, wie dem Gesundheitswesen und der Schule, sowie eine enge Zusammenarbeit mit den Familien pflegt. Geschlechtersensibilität, Migrationssensibilität und inklusives Arbeiten sind Qualitätsmerkmale guter Kindertageseinrichtungen. Dabei sieht die AGJ vor allem im Hinblick auf die Professionalisierung der in der Kindertagespflege tätigen Personen noch erheblichen Nachholbedarf. Daher ist es dringend erforderlich, den Ausbau einer kindertagespflegespezifischen Fachberatung bzw. entsprechender qualifizierter Fachdienste zu befördern und die Kindertagespflegepersonen fachlich weiter zu qualifizieren, zu unterstützen und zu beraten.[18]

3. Themenbereich: Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Die EU hat das Ziel, die Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern. In dem Länderbericht 2015 stellt die Europäische Kommission fest, dass das Arbeitsmarktpotenzial von Frauen in Deutschland bislang nicht ausgeschöpft sei. So liege die Beschäftigungsquote von Frauen 2013 bei 72,3 Prozent (in Vollzeitäquivalenten 55,8 %), was deutlich unter der Quote der Männer von 81,9 Prozent liege und eine der niedrigsten Quoten EU-weit darstelle. Die Gründe dafür seien die nach wie vor nicht ausreichende Verfügbarkeit von Kinderbetreuungsplätzen und Ganztagsschulen sowie steuerliche Fehlanreize (Ehegattensplitting, kostenfreie Mitversicherung nicht erwerbstätiger Ehepartner in der Sozialversicherung) für Zweitverdiener, die insbesondere Frauen von einer Vollzeitbeschäftigung abhalten.[19]
In seinem NRP weist Deutschland 2015 darauf hin, dass eine qualitativ hochwertige Kinderbetreuung als wesentlicher Beitrag zu einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf gesehen wird. Zugleich können die Bildungs- und Teilhabemöglichkeiten von Kindern erhöht werden. Die Bundesregierung unterstützt deshalb Länder und Kommunen bei den laufenden Betriebsausgaben der Kindertagesbetreuung mit 845 Millionen Euro jährlich ab 2015, sowie in den Jahren 2017 sowie 2018 nochmals zusätzlich mit 100 Millionen Euro.

Bei der Debatte um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist das Kindeswohl ins Zentrum zu rücken!

Die AGJ verweist darauf, dass bei der Gestaltung zeitlich und organisatorisch flexibler Angebote, die notwendig sind, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern, insbesondere die Bedürfnisse und Interessen von Kindern unterschiedlichen Alters sowie das Kindeswohl berücksichtigt werden müssen. Differenzierte Angebotsformen müssen sich sowohl an den Bedarfslagen von Familien, Kindern und Jugendlichen orientieren, als auch dem Förder- und Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe gerecht werden.
Familienbewusste Arbeitszeiten und familienbedingte Erwerbsunterbre-chungen, eine stärkere Unterstützung Alleinerziehender und eine Berück-sichtigung der Doppelbelastung muss verstärkt in die Personalentwicklung und Qualitätsdiskussion der Träger der Kinder- und Jugendhilfe einfließen. Unterbrechungen der Erwerbsarbeit brauchen für Frauen und Männer gesellschaftliche Akzeptanz. Bildungs-, Care-, und Sozialzeiten sind zu ermöglichen und positiv zu unterstützen.[20]

4. Themenbereich: Verbesserung des Bildungsniveaus und Ganztagsschulen

Im Zusammenhang mit der Verbesserung des Bildungsniveaus hat die EU zwei Kernziele festgelegt: Der Anteil der frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgänger soll EU-weit auf unter 10 Prozent reduziert und der Anteil der 30-34-Jährigen mit einem tertiären oder gleichwertigen Abschluss auf mindestens 40 Prozent erhöht werden.
Laut dem NRP 2015 hat Deutschland diese Ziele erreicht. Danach lag der Anteil der frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgänger 2013 mit 9,9 Prozent unter der Zielmarke von 10 Prozent und der Anteil der 30-34-Jährigen mit einem tertiären oder gleichwertigen Abschluss mit 44,5 Prozent erneut deutlich über dem angestrebten Ziel von 42 Prozent.
Die Europäische Kommission bemängelt in ihrem Länderbericht Deutschland 2015, dass Deutschland bei der Anhebung des Bildungsniveaus benachteiligter Gruppen nur begrenzte Fortschritte erzielt habe[21]. Deutschland sei trotz der erzielten Fortschritte nach wie vor eines der Länder, in denen das Bildungsniveau weitgehend vom sozio-ökonomischen Hintergrund bestimmt werde. Gerade bei jungen Menschen mit Migrationshintergrund sei die Wahrscheinlichkeit eines frühen Schulabgangs doppelt so hoch. Offene Lehrstellen seien zwar vorhanden, doch würden gleichzeitig eine Viertelmillion Schulabgängerinnen und Schulabgänger, die an einer Lehrstelle interessiert seien, als ungeeignet betrachtet und im sogenannten Übergangssystem in Aufholkursen untergebracht. Die Europäische Kommission führt dies sowohl auf allgemeine Mängel im Schulsystem als auch auf regionale und sektorale Inkongruenzen zurück.
Als Beitrag zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit in der beruflichen Bildung hat der Bund die Initiative Bildungsketten sowie die Einführung der assistierten Ausbildung und Ausweitung der ausbildungsbegleitenden Hilfen als Maßnahmen im NRP angeführt. Die assistierte Ausbildung solle über die gesamte Laufzeit der Allianz für Aus- und Weiterbildung, also für insgesamt vier Eintrittskohorten, realisiert werden. Mit der Initiative Bildungsketten wolle der Bund gemeinsam mit den Ländern Strukturen und Angebote für die berufliche Bildung bis hin zum Ausbildungsabschluss miteinander verzahnen, um damit insbesondere benachteiligten Jugendlichen den Weg in den Beruf zu erleichtern.
Auch der Ausbau und die Verbesserung der Qualität der Ganztagsschulen werden als Beitrag für die Erreichung einer qualitativ hochstehenden Bildung gesehen. Der Fokus auf EU-Ebene liegt dabei auf der Entwicklung einer Kultur der Qualitätsverbesserung, gerade auch hinsichtlich der besseren Vermittlung von Schlüsselkompetenzen und der Verringerung des Anteils von Schülerinnen und Schülern mit schwachen Leistungen.[22]
In seinem NRP weist Deutschland auf den aktuellen Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen hin. Die Verbindung von Unterricht und außerunterrichtlicher Bildung sowie die Kooperation mit außerschulischen Partnern des Sports, der kulturellen Bildung und der Kinder- und Jugendhilfe würden es ermöglichen, Kinder und Jugendliche individueller zu fördern und ihre Kompetenzen zu stärken. Zukünftig werde der Schwerpunkt verstärkt auf der weiteren qualitativen Entwicklung liegen, um das Potenzial von Ganztagsschulen auszuschöpfen.
Nach Auffassung der Europäischen Kommission sind hier einige Fortschritte erzielt worden, doch der Beitrag der Ganztagsschulen zu einer qualitativ hochstehenden Bildung ließe sich weiter erhöhen.“[23] In puncto Organisation und Art der angebotenen Aktivitäten würden sich die Ganztagsschulen erheblich voneinander unterscheiden, wobei nachmittags in vielen Schulen eher die Betreuung als der innovative Unterricht im Vordergrund stünden.

Einen differenzierten und lebensweltbezogenen Bildungsansatz für mehr Chancengerechtigkeit zugrunde legen!

Nach Ansicht der AGJ ist die Kinder- und Jugendhilfe hinsichtlich des Ziels zur Verbesserung des Bildungsniveaus ein wichtiger Partner in der Umsetzung der Strategie Europa 2020. Gerade der weite Bildungsansatz der Kinder- und Jugendhilfe ist unverzichtbar, um junge Menschen nicht als wirtschaftliche Wachstumsfaktoren (miss-)zu verstehen, sondern sie als Akteure einer fortschrittlichen und zukunftsorientierten Bürgergesellschaft zu fördern.[24] Die Anhebung des Bildungsniveaus insbesondere bei benachteiligten jungen Menschen erfordert ganzheitliche Bildungskonzepte, wie sie beispielsweise durch die Initiative „Lokale Bildungslandschaften“ umgesetzt werden sollen. Die Angebote der Träger der freien Jugendarbeit sind hierbei stärker zu berücksichtigen. Darüber hinaus soll die Partizipation von benachteiligten Kindern und Jugendlichen in kulturellen und nicht formalen Bildungsaktivitäten gestärkt werden, da diese auch im Rahmen von Ganztagsschule Bildungschancen eröffnen, sofern alle relevanten Institutionen ebenbürtig strukturell verbunden und weiterentwickelt werden. Die Kommunen müssen dabei in die Lage versetzt werden, auch bezüglich der qualitativen Ausgestaltung von Bildungsprozessen Verantwortung zu übernehmen.

Der nicht formalen und informellen Bildung kommt mit Blick auf die Anhebung des Bildungsniveaus insbesondere bei benachteiligten jungen Menschen eine wichtige Rolle zu. Die stärkere Berücksichtigung non-formal erworbener Kompetenzen kann für junge Menschen, die im formalen Bildungssystem benachteiligt werden, den Anschluss an den Arbeits- und Ausbildungsmarkt erleichtern. Dabei geht es insbesondere darum, wie Kompetenzen, die in non-formalen Lernsettings erworben werden, konkret sichtbar gemacht und anerkannt werden können.

Im Zusammenhang mit der Chancengleichheit beim Zugang zur Berufsbildung wird nicht die Aufnahme einer Ausbildung als zentrales Problem gesehen, sondern das erfolgreiche Durchlaufen und der Abschluss der Ausbildung. Deshalb bedarf es an Angeboten für die Begleitung der jungen Menschen insbesondere im ersten und zweiten Ausbildungsjahr, um einen frühzeitigen Ausbildungsabbruch zu verhindern. Um eine Anhebung des Bildungsniveaus zu befördern, ergeben sich beispielsweise am Übergang junger Menschen zwischen dem Lernort Schule und dem Lernort Praxis folgende Bedarfe an der Schnittstelle zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Arbeitswelt: die Schaffung gemeinsamer Anlaufstellen für Jugendliche, die gemeinsame Weiterentwicklung von Handlungsansätzen sowie die Schaffung gemeinsamer verbindlicher Kommunikations- und Kooperationsstrukturen zwischen Kinder- und Jugendhilfe, Schule, Arbeitswelt und Familie.[25]

Bei der Debatte um den Ausbau und die Qualität der Ganztagsschule muss berücksichtigt werden, dass dies für Kinder und Jugendliche zu einem zeitlich umfangreicheren Aufenthalt in schulischer Verantwortung führt, als dies bislang der Fall war. Durch den Ausbau von Ganztagsschulen in offener und gebundener Form, die damit in Zusammenhang stehende Erweiterung von Ganztagsbetreuung sowie die Kooperation mit externen Partnern wird Schule für immer mehr Kinder und Jugendliche nicht nur zum Lernort, sondern immer stärker auch zum Lebensort. Qualität muss sozialpädagogisches Handeln implizieren, denn die Schule muss – neben ihrem Bildungs- und Qualifizie-rungsauftrag – mehr denn je auch einen lebensweltbezogenen Erziehungs-auftrag wahrnehmen, der den Bedürfnissen und Interessen von Kindern und Jugendlichen gerecht wird. Nicht zuletzt fördert es ein ausgewogenes Verhältnis zwischen formalen Bildungsangeboten und offenen Lern- und Erfahrungsräumen, um das Wissen und die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen optimal zu fördern. Sozialpädagogisches Denken und Handeln zielt auf ein grundsätzliches Verständnis einer gemeinsamen Verantwortung von sozialpädagogischen Fachkräften und Lehrkräften für die Persönlichkeitsentwicklung und den Schulerfolg von Kindern und Jugendlichen ab. Die Kooperation zwischen Schule und Kinder- und Jugendhilfe sowie externen Partnern (weiterführende Schulen, Hochschulen, Agenturen für Arbeit, Gesundheitswesen, Zentren der Familienbildung, Unternehmen und andere Akteure aus dem Sozialraum) ist bei alledem unverzichtbar.[26]

5. Themenbereich: Förderung der sozialen Eingliederung und Inklusion, vor allem durch die Verringerung von Armut

Die EU will soziale Eingliederung insbesondere durch die Verringerung von Armut fördern. Diese Zielsetzung basiert auf den drei Indikatoren Armutsgefährdungsrate, Index der materiellen Deprivation sowie dem Prozentsatz von Menschen, die in einem Haushalt mit sehr niedriger Erwerbsbeteiligung leben. Im Zusammenhang mit der OMK Soziales ist für die Zielgruppe Kinder und Jugendliche die Empfehlung der Kommission zu „Investitionen in Kinder: Den Kreislauf der Benachteiligung durchbrechen“ handlungsleitend. Dabei sollten Kinder- und Jugendarmut und soziale Ausgrenzung mittels integrierter Strategien bekämpft werden, die über die Gewährleistung der materiellen Sicherheit von Kindern hinausgehen und Chancengleichheit fördern, so dass alle Kinder ihr volles Potenzial ausschöpfen können.[27]

Eine biographieorientierte und bereichsübergreifende Umgestaltung der Unterstützungs- und Fördersysteme und die Entwicklung einer integrierten Präventionslandschaft befördern!

Die Bundesregierung knüpft an den dritten Indikator an und strebt die Reduzierung der Anzahl der langzeitarbeitslosen Personen um 20 Prozent gegenüber 2008 an.[28] Dies verkürzt jedoch den Gesamtzusammenhang von Armut bei Kindern, Jugendlichen und deren Familien erheblich. Das Armutsrisiko von Familien steigt insbesondere dann, wenn mehrere Faktoren zusammen kommen. Neben der (Langzeit-)Arbeitslosigkeit sind es jedoch auch die Formen kurzer bzw. prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Dazu kommen als weitere Risikofaktoren Alleinerziehende, Migrationshintergrund und Familien mit mehr als drei Kindern.
Bei fast allen europäischen Bundes- oder Länderprogrammen ist die Kommune der Ort des Geschehens. Integrierte Strategien brauchen deshalb auf der kommunalen Ebene eine biographieorientierte und bereichsüber-greifende Umgestaltung der Unterstützungs- und Fördersysteme, verbunden mit einer kommunal koordinierten Vernetzung und wirkungsorientierten Steuerung. Dieser Ansatz wird unter den Begriffen „Bildungslandschaft“ oder  „Präventionskette“[29] diskutiert und gestaltet. Der Präventionsansatz ist dabei insofern der breitere Zugang, als er neben einem „erweiterte(n) Bildungsverständnis“[30] insbesondere auch die Bereiche Gesundheitsförderung und soziale Sicherung mit einschließt. Das damit erschlossene breite, vor allem kommunale Trägerspektrum ist wiederum bereits häufig in Netzwerke einbezogen. Strategien zur Entwicklung einer integrierten Präventionsland-schaft stellen die Kommunen daher vor neue Herausforderungen: Es gilt, Schritt für Schritt, die vielen bestehenden Netzwerke, die sich mit Prävention und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen beschäftigen, in ein kommunales Gesamtkonzept zu integrieren. Dazu gehört neben der ämterübergreifenden Steuerung von Ressourcen auch die Entwicklung einer gemeinsamen Haltung beziehungsweise eines gemeinsamen Leitbildes von sozialer Teilhabe und Chancengerechtigkeit aller relevanten Akteure in der Kommune. Eine Gesamtstrategie orientiert sich an den Bedarfen und den Mitgestaltungs-potentialen von Kindern, Jugendlichen und Eltern, berücksichtigt die Erkenntnisse der Praxisfachkräfte, überwindet Verwaltungs- und Träger-grenzen und bringt im Sinne des Wohlergehens für alle eine bedarfs-orientierte und abgestimmten Planung von Angeboten und Maßnahmen auf den Weg.
Die bisher in den Kommunen aufgebauten Angebots- und Netzwerkstrukturen der Frühen Hilfen können durch den im Bundeskinderschutzgesetz geregelten Fonds einen Impuls für eine dauerhafte Verankerung erhalten und flächendeckend weiterentwickelt werden. Sie sind ein wichtiger Baustein eines kommunalen Unterstützungs- und Hilfesystems, dass sich biografisch im Sinne einer Präventionskette bis zum Übergang von der Schule in den Beruf fortsetzen muss. Kern sind die kommunalen Netzwerke, die als Steuerungs-instrument die Akteure aus Jugendhilfe, Gesundheitswesen, Arbeitsver-waltung und Schule zusammenbringen. Die Frühen Hilfen verstehen sich dabei als erstes Glied einer Präventionskette.

Die Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen umsetzen!

Eine öffentlich verantwortete Daseinsvorsorge muss die Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen zum Ziel haben und muss vor allem auf die verfestigten Armutslagen und der damit einhergehenden ungleichen Verteilung von Teilhabe- und Entwicklungschancen reagieren. Dies ist umfassend mit dem Begriff der „Sozialen Inklusion“ zu beschreiben. In der Konsequenz des § 1 SGB VIII muss dies auch die Kinder und Jugendlichen mit Behinderung einbeziehen.
Durch die meist enge Auslegung der UN-Behindertenrechtskonvention besteht die Gefahr, dass sich in der pädagogischen Praxis exklusive Prozesse einschleichen, wenn die Kinder und Jugendlichen mit all ihren unterschiedlichen sozialen und körperlichen Einschränkungen einer umfassenden Teilhabe nach „behindert“ und „nicht-behindert“ eingestuft werden. Wichtiger ist eine bedarfsorientierte Förderung jedes einzelnen Kindes, unabhängig von einem formalen Behindertenstatus. Die AGJ spricht sich daher für eine Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen aus.[31] Neben einer dafür notwendigen Haltung und Bereitschaft aller beteiligten Akteure müssen gesetzliche Regelungen die Grundlage bilden mit dem Ziel einer Zusammenführung der Leistungen der Hilfen zur Erziehung nach SGB VIII und der Eingliederungshilfe nach SGB XII.
Darüber hinaus braucht der Prozess der sozialen Inklusion die Weiterentwicklung im Rahmen von Aus-, Fort- und Weiterbildung. Es braucht Fachkräfte und Entscheidungstragende, die eine umfassende soziale Inklusion als Leitbild anerkennen, eine entsprechende Haltung und ein armutssensibles Handeln entwickeln. Soziale Inklusion ist eine zentrale Zielstellung für die Jugendhilfeplanung und erfordert eine systematische Personal- und Organisationsentwicklung.

Bei der Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut und sozialer Ausgrenzung sind die Rechte von Kindern und Jugendlichen explizit zu berücksichtigen!

Die Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut und sozialer Ausgrenzung sollte unter dem Aspekt der Rechte des Kindes bzw. des Jugendlichen erfolgen, insbesondere unter Bezugnahme auf die einschlägigen Bestimmungen des Vertrags über die Europäische Union, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, indem gewährleistet wird, dass diese Rechte geachtet, geschützt und durchgesetzt werden. Das heißt, die Gestaltung der Förderprogramme auf den unterschiedlichen Ebenen muss sich mehr als bisher an der Lebenslage und dem Bedarf von Kindern, Jugendlichen und deren Familien ausrichten. Der Sichtwechsel, “vom Kind bzw. Jugendlichen” her zu denken, muss auch und gerade für die in mehrfach benachteiligten Lebenslagen situierten Menschen erlebbar und erfahrbar werden. Dies gelingt, wenn die Teilhabe und die Lebensbedingungen aller Kinder und Jugendlichen durch die Sicherung infrastruktureller, niedrigschwelliger, koordinierter und frühzeitiger Förder- und Unterstützungs-angebote gestärkt werden und setzt voraus, dass Kinder und Jugendliche alters- und entwicklungsangemessen über die für sie unmittelbar relevanten Lebensbereiche mitsprechen und entscheiden können. Auf die Realisierung der in der UN-Kinderrechtskonvention[32] verbrieften Rechte[33] zielen die Angebote und Netzwerke. Das schwierige Spannungsverhältnis zwischen Kinder-, Jugend- und Elternrechten, zwischen Förderung, Hilfe und Kontrolle müssen die öffentlich verantworteten Institutionen dabei stets neu austarieren, um sowohl ihrem Schutzauftrag als auch ihrer unterstützenden Aufgabe gegenüber Eltern und Kindern im Rahmen öffentlicher Daseinsvorsorge gerecht zu werden.  In diesem Sinne sind Kinder- und Jugendschutz sowie Frühe Förderung in einem Gesamtkonzept des  Aufwachsens im Wohlergehen zu integrieren.


Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 25./26. Juni 2015

 

[1] In Deutschland ist innerhalb der Bundesregierung das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) für die Erstellung des NRP federführend. Für die Strategische Sozialberichterstattung hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die Federführung inne. Die Strategische Sozialberichterstattung 2015 wurde am 25. März 2015 im Bundeskabinett verabschiedet. Der Berichtszeitraum beider Berichte erstreckt sich vom 1. Juli 2014 bis zum 30. April 2015.
[2] Vgl. Nationales Reformprogramm Deutschland 2015.
[3] Das duale (Berufs-)Ausbildungssystem in Deutschland bezeichnet die parallele Ausbildung in Betrieb und Berufsschule bzw. im tertiären Bereich an der Berufsakademie.
[4] Die Quote bezieht sich sowohl auch den vorzeitigen Schul- als auch Ausbildungsabbruch.
[5] Mit dem „Weißbuch – Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung“ der Europäischen Kommission aus dem Jahr 1993 wurde die OMK erstmals im Bereich der Beschäftigungspolitik eingeführt.
[6] Die OMK Soziales wird in den Bereichen soziale Eingliederung, Renten-, Pflege- und Gesundheitspolitik eingesetzt, die in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten liegen.
[7] Vgl. Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen: Länderbericht Deutschland 2015 mit eingehender Überprüfung der Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte, 26.02.2015.
[8] Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2011): „Kinder- und jugendpolitische Anforderungen an die Umsetzung von „Europa 2020““. Berlin.
[9] Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2015): „Jugendliche und junge Erwachsene brauchen ganzheitliche Förderung und Unterstützung auf dem Weg in den Beruf – Anforderungen an wirksame und nachhaltige Jugendberufsagenturen“. Berlin.
[10] So sieht das SGB II für Jugendliche deutlich schärfere Sanktionen vor als Leistungsbezieherinnen  und Leistungsbezieher, die älter als 25 Jahre sind. Diese Sonderregelungen hatten zum Ziel, dass sich Jugendliche im SGB II-Bezug nicht daran gewöhnen, die eigene Existenz ohne Arbeit zu sichern, vgl. verdi: „Arbeitsmarktintegration von Jugendlichen im SGB II fördern – verschärfte Sanktionen abschaffen“, sopoaktuell, Nr. 186, 24.September 2014.
[11] Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2014): „Stellungnahme zum XX. Hauptgutachten der Monopolkommission Kapitel 1 „Wettbewerb in der deutschen Kinder- und Jugendhilfe“. Berlin.
[12] Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2013): „Junge Menschen am Übergang von Schule zu Beruf – Handlungsbedarfe an der Schnittstelle zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Arbeitswelt“. Berlin.
[13] Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2014): „Junge Volljährige nach der stationären Hilfe zur Erziehung. Leaving Care als eine dringende fach- und sozialpolitische Herausforderung in Deutschland“. Berlin.
[14] Ebd.
[15] Vgl. Schlussfolgerungen des Rates zur frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung: „der bestmögliche Start für alle unsere Kinder in die Welt von morgen“ vom 15.06.2011.
[16] Vgl. Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen: Länderbericht Deutschland 2015 mit eingehender Überprüfung der Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleich-gewichte
[17] Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ (2010):“Qualität von Erziehung, Bildung und Betreuung in Kindertageseinrichtungen- Einschätzung zum Ausbau der Kindertagesbetreuung für Kleinkinder“. Berlin.
[18] Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2014):“Nach dem U3-Ausbau: Qualität in der Kindertagesbetreuung kann nicht warten!“. Berlin. Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe –AGJ (2012): „Geschlechtersensibilität als Merkmal und Gegenstand von Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindertages-einrichtungen“ Berlin. Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe –AGJ (2013):“Private Erziehung in öffentlicher Verantwortung. Folgen für die Kompetenzanforderung in der Kindertagespflege und der Pflegekinderhilfe“. Berlin.
[19] Vgl. Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen: Länderbericht Deutschland 2015 mit eingehender Überprüfung der Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleich-gewichte.
[20] Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe-AGJ (2012):“In doppelter Verantwortung: Herausforderungen für eine familien(zeit)freundliche Kinder- und Jugendhilfe“. Berlin.
[21] Vgl. Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen: Länderbericht Deutschland 2015 mit eingehender Überprüfung der Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleich-gewichte, 26.02.2015.
[22] Vgl. Schlussfolgerungen des Rates — Mit einer effizienten und innovativen allgemeinen und beruflichen Bildung in Qualifikationen investieren — ein Beitrag zum Europäischen Semester 2014.
[23] Vgl. Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen: Länderbericht Deutschland 2015 mit eingehender Überprüfung der Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte, 26.02.2015.
[24] Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2011): „Kinder- und jugendpolitische Anforderungen an die Umsetzung von „Europa 2020““. Berlin.
][25 Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2013): „Junge Menschen am Übergang von Schule zu Beruf – Handlungsbedarfe an der Schnittstelle zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Arbeitswelt“. Berlin.
[26] Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2013): „Schule als Lebensort – Anforderungen an sozialpädagogisches Handeln“. Berlin.
[27] Vgl. Empfehlung der Kommission vom 20. Februar 2013 „Investitionen in Kinder: Den Kreislauf der Benachteiligung durchbrechen“.
[28] Vgl. Mitteilung der Europäischen Kommission „Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“.
https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Internationales/BroschuereEuropa2020_0000149139004.pdf?__blob=publicationFile.
[29] „Mit dem Terminus ‚Präventionskette‘ wird zunächst eine systematische und in sich bündige kommunale Infrastruktur für Kinder und Jugendliche (und ihre Eltern) zwischen null und mindesten 18 Jahren bezeichnet. Sie unterteilt sich in alters-/ bzw. entwicklungsbezogene Handlungsfelder wie Frühe Hilfen, KiTa, Grundschule, Sekundarstufe I und den Übergang in den Beruf. Sie baut auf das gemeinsame Gestalten und Handeln aller relevanten Akteure auf: von der Politik über die Verwaltung und die Dienstträger (inkl. Fachkräfte) bis hin zu Nachbarschaften und einzelnen engagierten Bürgerinnen und Bürgern. Mit dem Terminus wird weiterhin die Aufgabe einer frühzeitig beginnenden und andauernden Förderung aller jungen Menschen als Ausdruck öffentlicher Verantwortung in Ergänzung zur elterlichen verstanden.“, vgl. LVR-Landesjugendamt Rheinland: Programm Kommunale Netzwerke gegen Kinderarmut. Glossar als Teil der Berichtsabfrage 2012. Erstellt vom ISS Frankfurt im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung.
[30] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2005): Zwölfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin.
[31] Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2013): „Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen“. Berlin.
[32] Vgl. Konvention über die Rechte des Kindes. UNICEF. Online: http://www.unicef.de/blob/9364/a1bbed70474053cc61d1c64d4f82d604/d-0006-kinderkonvention-pdf-data.pdf  (Abruf:15.03.2015).
[33] U.a. auf Gleichheit, Bildung und Gesundheit, Schutz und Gewaltfreiheit, Meinungsäußerung und Gehör.