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Zwischenruf zum 5./6. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes

Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

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Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ hat den Fünften und Sechsten Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes zur Kenntnis genommen. Die AGJ stimmt maßgeblich mit den Einschätzungen der Bundesregierung überein, und sieht darin vielfältige Maßnahmen, um Kinderrechte in Deutschland zu stärken und durchzusetzen.

Das starke Engagement von staatlichen und nichtstaatlichen Stellen für die Umsetzung der Kinderrechte wird von Seiten der AGJ wahrgenommen und wertgeschätzt. Dennoch gibt es aus Sicht der AGJ weiterhin gravierende Lücken bei der Umsetzung von Kinderrechten in Deutschland, die bei einer differenzierten Befassung mit der Umsetzung von Kinderrechten nicht außer Acht gelassen werden dürfen.

Dazu hat die AGJ zu verschiedenen Anlässen Stellung genommen und die Bundesregierung auf die bestehenden Umsetzungsdefizite hingewiesen. Das zeigt sich beispielsweise bei der Nichtdiskriminierung von Kindern, einem der allgemeinen Grundsätze der Kinderrechtskonvention. Es gibt immer noch entscheidende strukturelle Benachteiligungen unter anderem von Kindern aus Familien mit niedrigem Einkommen, nichtdeutscher Familiensprache oder geringeren Bildungsressourcen als auch bei Kindern mit Behinderung. Diese Mängel wurden bereits in den Abschließenden Bemerkungen des zuständigen UN-Ausschusses im letzten Staatenberichtsverfahren kritisiert. Deshalb fordert die AGJ:

Ein weites Verständnis von Inklusion […], das auf Verschiedenheit als Normalfall abzielt. In einer inklusiven Gesellschaft, die das Leitziel ist, können alle Menschen in ihrer Verschiedenheit und Individualität gleichberechtigt miteinander leben und in allen Lebensbereichen teilhaben. Es geht also nicht allein um ein Mitmachen- und Dabei-sein-Dürfen, sondern um ein selbstverständliches Dazugehören. Die AGJ betont, dass, um diesem Ziel näherzukommen und Inklusion zu verwirklichen, sich die Gesellschaft verändern und weiterentwickeln muss. Jeder gesellschaftliche Bereich ist hier gefordert: auch die Kinder- und Jugendhilfe.[1]

Das heißt, auf Bundesebene Rahmenbedingungen, Konzepte und Strukturen so zu gestalten, dass […] Organisationen, Träger und Akteure [der Kinder- und Jugendhilfe] dabei unterstützt werden, Inklusion zu leben.[2] Die Umsetzung einer inklusiven Lösung im SGB VIII wird von der AGJ seit vielen Jahren nachdrücklich unterstützt.[3]

Auch die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls, ebenfalls ein allgemeiner Grundsatz der Kinderrechtskonvention, findet nicht in dem Umfang statt, wie es der Staatenbericht suggeriert. Die hoch problematische Situation z. B. von geflüchteten Familien mit Kindern in Deutschland ist nicht mit der Kinderrechtskonvention in Einklang zu bringen. Hierzu stellt die AGJ fest:

Vor allem in der Zeit, die die Familien in Gemeinschaftsunterkünften verbringen müssen, scheint der Vorrang des Kindeswohls außer Kraft gesetzt zu werden: Erstaufnahmeeinrichtungen benötigen keine Betriebserlaubnis, die sie als geeignete Lebensorte für Kinder ausweist. Das hat Auswirkungen auf die Ausstattung der Einrichtung, die Belegung der Zimmer, die medizinische Versorgung. Aus kinderrechtlicher Perspektive ist besonders von Bedeutung, dass die Schaffung geeigneter Beteiligungsmöglichkeiten sowohl zur Mitgestaltung des Lebensortes als auch zur Artikulation von Beschwerden und Sorgen in diesen Einrichtungen mindestens nachrangig ist.[4]

Die AGJ hält insbesondere Großeinrichtungen wie AnKer-Zentren per se als für Kinder ungeeignete Orte. Sie fordert eine bedarfsgerechte räumliche Gestaltung für diese und andere vulnerable Gruppen.[5]

Der Fünfte und Sechste Staatenbericht ist auch bei der Darlegung der Berücksichtigung der Meinung des Kindes nicht differenziert. Zwar gibt es verschiedene Ansätze der Beteiligung von Kindern auf kommunaler, Landes- und Bundesebene. Diese sind aber vielfach nicht wirkungsvoll und zielführend sowie keinesfalls flächendeckend verankert.

In verschiedenen Ländern vorhandene Formate, wie Jugendlandtage und ähnliche, sind bislang Formate der politischen Bildung, nicht aber der ernst gemeinten Beteiligung. Das heißt, Jugendliche werden angehört, sprechen und bestimmen in abgesteckten Rahmen mit. Diese Beteiligungsformen wirken in den meisten Fällen jedoch nicht darauf ein, dass Jugendliche in größere Entscheidungen einbezogen werden und Partnerinnen und Partner auf Augenhöhe sind.[6]

Dabei zeigt sich immer wieder, dass große Defizite in den bestehenden Möglichkeiten zur Beteiligung bestehen und das große Interesse von jungen Menschen, ihre Anliegen vorzubringen und mitzugestalten, somit vermehrt von ihnen selbst und Interessensvertretungen eingefordert wird.

Diesen drei Beispielen ließen sich viele weitere hinzufügen. Der Staatenbericht weist erhebliche Lücken auf und betrachtet die Leerstellen der Umsetzung von Kinderrechten nicht hinreichend. Aus Sicht der AGJ schmälert es nicht die bestehenden Erfolge, wenn auch ehrlich auf vorhandene Defizite und in Zukunft zu erreichende Ziele eingegangen würde. Denn: Eine vollständige Umsetzung von allen Kinderrechten für alle Kinder und Jugendlichen ist und bleibt das sich aus der UN-Kinderrechtskonvention ableitende Bestreben.

Die AGJ würde es deshalb begrüßen, wenn die Bundesregierung zukünftig einen differenzierteren Blick auf die Umsetzung von Kinderrechten wirft und eine empirisch gesicherte Bestandsaufnahme hinsichtlich der Umsetzung von Kinderrechten vornimmt. Der Staatenbericht ist bislang eine unvollständige Aufstellung von Einzelmaßnahmen, die von unterschiedlichen Akteuren getroffen, jedoch nicht miteinander in einen Zusammenhang gestellt wurden. So sagt sie wenig über die Wirksamkeit dieser Maßnahmen aus. Die vorgelegten Mosaiksteine ergeben aus Sicht der AGJ noch kein aussagekräftiges Gesamtbild.

Vor dem Hintergrund der anstehenden politischen Prozesse zur Stärkung von Kinderrechten, etwa durch die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz und auch die Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, plädiert die AGJ für eine ehrliche Betrachtung der Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention und weiterer Erhebungen zum Stand der Umsetzung. Dabei kann die Entwicklung spezifischer Kinderrechte-Indikatoren, wie bereits im Rahmen des Staatenberichtsverfahrens 2014 vom zuständigen UN-Ausschuss gefordert, helfen, Maßnahmen überhaupt messbar zu machen.

Der Staatenbericht zeigt, dass die Rechte von Kindern und Jugendlichen zwar derzeit eine hohe gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit genießen, aber in den Kinder- und Jugendhilfestrukturen sowie bei vielen wichtigen Entscheidungen von Politik, Verwaltung und Rechtsprechung noch nicht flächendeckend berücksichtigt werden.

Für die vollständige Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland braucht es neben einer rechtlichen Absicherung im Grundgesetz ein gesamtgesellschaftliches Eintreten für Kinderrechte sowie ein breites Zusammenarbeiten aller Akteure auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Ebenso dürfen Kinderrechte nicht nur im Ressort Kinder, Jugend und Familie eine Rolle spielen, sondern sollten in allen Politikfeldern einbezogen werden. Hierauf werden die AGJ und ihre Mitglieder weiterhin hinwirken.

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 17. Oktober 2019


Fußnoten

[1] Inklusion in der Jugendarbeit. 10 Jahre UN-BRK – ein Blick auf die Entwicklungen in der und Erwartungen an die Jugendarbeit. Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ.
[2] Ebenda
[3] „Vielfalt gestalten, Rechte für alle Kinder und Jugendlichen stärken!“. Empfehlungen zum Reformprozess SGB VIII der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ.
[4] Kind ist Kind! – Umsetzung der Kinderrechte für Kinder und Jugendliche nach ihrer Flucht. Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ.
[5] Zusammenführende Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ zu den beiden Sitzungen der Bundes-AG „SGB VIII: Mitreden – Mitgestalten“ mit den Themen Kinderschutz und Fremdunterbringung.
[6] Partizipation im Kontext von Kinder- und Jugendarbeit – Voraussetzungen, Ebenen, Spannungsfelder. Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ.