• Eine Gruppe Jugendlicher steht an einer Wand. Im Vordergrund steht eine junge selbstbewusste Frau.
  • Junger Mann sitzt einsam in einer alten Bibliothek an einem Tisch und arbeitet ein Buch durch. Auf dem Tisch liegt zu seiner rechten Seite ein Stapel Bücher.
  • Ein behinderter Junge und ein Mädchen sitzen vor einem Computer. Hinter den beiden steht eine junge Frau.
  • Eine glückliche junge Familie mit Sohn und Tochter sitzt auf einem Sofa und schaut über die Rückenlehne ins Bild.
  • Zwei 16- bis 17-jährige männliche Auszubildende sitzen an einer Werkbank und bearbeiten ein metallisches Werkstück.
  • Fünfjähriges Mädchen hat bunte Farbklekse auf eine Papierplane gemalt.
  • Student und Studentinnen verschiedener Hautfarben sitzen in einer Bibliothek vor Computern.
  • Glücklicher Großvater sitzt mit seinen Enkelkindern auf einer weißen Holzbank.

Das neue Tarifrecht für den öffentlichen Dienst – Fachliche Standards der Kinder- und Jugendhilfe in Gefahr 

Offener Brief der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ an die Tarifpartner des öffentlichen Dienstes

Brief als PDF 


Für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes von Bund und Kommunen gilt seit dem 01. Oktober 2005 ein neuer Tarifvertrag. Der bisherige, die Beschäftigungsverhältnisse rahmende Bundesangestelltentarif (BAT) wird damit abgelöst. Der neue Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) regelt zukünftig auch die Beschäftigungsverhältnisse in den Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe und zwar auf Ebene der Kommunen und des Bundes. Der im Oktober 2006 geschlossene Tarifvertrag für die Länder (TV-L) lehnt sich in wesentlichen Zügen an die Regelungen des TVöD an.

Die wesentlichen Neuerungen des TVöD aus Perspektive der öffentlichen und freien Anstellungsträger sowie der Beschäftigten der Kinder- und Jugendhilfe beziehen sich neben der Vereinheitlichung der tariflichen Regelungen für Arbeiter, Angestellte und Beschäftigte in der Pflege erstens auf die Abkehr von einer dienstalter- und zweitens familienbezogenen Vergütung hin zu einer tendenziell erfahrungs- und leistungsbasierten Eingruppierung. Mittels dieses tariflichen Paradigmawechsels soll der sich real dokumentierten Flexibilisierung des Arbeitsmarktes entsprochen werden, älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern der berufliche Wiedereinstieg erleichtert und jüngeren Beschäftigten in Phasen der Familiengründung eine höhere Entlohnung ermöglicht werden. Zudem soll über die Implementierung von leistungsbezogenen Entlohnungskomponenten den zunehmend effizienzorientierten Arbeitsprozessen entsprochen werden. 


Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ sieht, gestützt auf Berichte von Anstellungsträgern und Beschäftigten für die Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendhilfe, durch die Regelungen des neuen Tarifrechts die Gefahr, 

  • dass für qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein Arbeitsplatz- beziehungsweise ein Trägerwechsel kaum noch attraktiv ist, weil der von den Beschäftigten angestrebte Veranwortungszuwachs und Statusgewinn mit finanziellen Einbußen verbunden ist und so Arbeitgeber und Träger zunehmend Schwierigkeiten haben, erfahrene und kompetente Fachkräfte für Leitungsstellen zu interessieren
  • und dass über die tariflich geregelten, leistungsbezogenen Entgeltkomponenten  ökonomische Effizienzgesichtspunkte noch deutlicher als bisher die Fachentscheidungen in der Kinder- und Jugendhilfe zu unterlaufen drohen.


Die AGJ bittet die Tarifparteien dringend, die diesbezüglichen Vereinbarungen zu modifizieren, um zu verhindern, dass die in den letzten Jahrzehnten in der Kinder- und Jugendhilfe entwickelte Fachlichkeit durch neue tarifliche Bestimmungen gefährdet wird und steht für entsprechende Gespräche zur Verfügung. 


Anmerkungen und Begründungen

Der TVöD Abschnitt III § 16 sieht vor, dass die tariflichen neuen Entgeltgruppen 9 bis 15 (ehemals BAT V – I) fünf Stufen und die Entgeltgruppen 2 bis 8 (ehem. BAT X – VI) sechs Stufen umfassen. Diese sogenannten Entwicklungsstufen ersetzen die aus dem BAT bekannten Altersstufen. Eine automatische Höhergruppierung mit zunehmendem Alter, wie der BAT vorsah, kennt der TVöD nicht. Der individuelle Aufstieg innerhalb der Entgeltgruppe in die jeweils höhere Stufe ist abhängig von der Leistung und setzt eine ununterbrochene Tätigkeit beim gleichen Arbeitgeber voraus. Über- oder unterdurchschnittliche Leistungen können die Aufstiegszeit verkürzen oder verlängern. 

Der TVöD sieht weiterhin vor, dass bei einer Einstellung in die Entgeltgruppen 9 bis 15 Beschäftigte zwingend der Stufe 1 zugeordnet werden. Ausnahmen sind lediglich bei einschlägiger Berufserfahrung möglich. Für den Bund werden ausschließlich vorherige Arbeitsverhältnisse beim Bund als anrechenbar vorausgesetzt, deren Ende für nichtwissenschaftliche Tätigkeiten nicht länger als sechs Monate zurückliegen darf. Bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ab der Entgeltgruppe 13 ist dieser Zeitraum auf zwölf Monate verlängert. Die gegenwärtig bekannten, detaillierteren Ausführungs-bestimmungen fordern eine strikte Auslegung dieser Regelung, also die Anerkennung von Berufserfahrung nur zwischen vergleichbaren Bundesbehörden, nicht aber zwischen Behörden und nicht behördlichen Anstellungsträgern. Für die Entgeltgruppen 2 bis 8 gibt es eine Öffnungsklausel und abweichende Bestimmungen. 

Diese Regel, der Eingruppierung in die Entwicklungsstufe 1 bei jeder Neueinstellung, birgt erhebliche finanzielle Einbußen für Beschäftigte, die nach befristeten Arbeitsverträgen neue Verträge abschließen oder den Anstellungsträger wechseln. Selbst bei der Ausübung vergleichbarer Tätigkeiten für einen anderen Arbeitgeber oder auch im Rahmen eines neuen Arbeitsvertrages erfolgt die Eingruppierung in die Stufe 1 unabhängig der vorangegangenen Entlohnung. Etwaige Ausnahmeregelungen scheinen nicht völlig ausgeschlossen, allerdings ist diesbezüglich die Informationslage insbesondere für nichtbehördliche Anstellungsträger sehr unbefriedigend. 

Die finanziellen Nachteile durch die Eingangsstufenregelung bei Neueinstellung für erfahrene Fachkräfte haben auch Konsequenzen für die Anstellungsträger und können sich perspektivisch negativ auf die Fachlichkeit der Kinder- und Jugendhilfe auswirken. Dieses Verfahren führt zur Behinderung der beruflichen Mobilität von Fachkräften. Dies unterstützt ein Festhalten am personellen Status quo von Einrichtungen und Organisationen und verlangsamt möglicherweise Innovation und Weiterentwicklung der Dienste und Angebote im Feld der Kinder- und Jugendhilfe. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zeitlich befristeter Projekte werden mit jedem neuen Vertragsabschluss finanziell benachteiligt. Eine systematische finanzielle Abwertung der Fachkräfte mit befristeten Arbeitsverträgen kann zu einem strukturellen Qualitätsverlust in den verschiedenen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe sowie des öffentlichen Dienstes insgesamt führen. Einschlägige Praxisprojekte wie auch spezifische Forschungsprojekte seien hier als Beispiel genannt. 

Anstellungsträger sind vor diesem Hintergrund zunehmend mit der Tatsache konfrontiert, dass qualifizierte und erfahrene Fachkräfte aufgrund der tariflichen Entgelte nicht für neu zu besetzende Stellen zur Verfügung stehen, bzw. dass sie das gewünschte Fachpersonal nicht angemessen bezahlen können. Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ votiert aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfepraxis nachdrücklich für eine Modifizierung dieser tarifrechtlichen Bestimmungen und für eine Regelung, die einschlägige berufliche Erfahrung unabhängig von Anstellungsträgern bei Neueinstellungen berücksichtigt und einen Einstieg in eine fortgeschrittene Entwicklungsstufe ermöglicht und dabei auch Zeiten der Nichtbeschäftigung berücksichtigt. 

Mit dem TVöD wird darüber hinaus erstmalig eine leistungsorientierte Bezahlung im öffentlichen Dienst ermöglicht. Zu Recht wurde vielfach an der alten Regelung des BAT kritisiert, dass einzig zunehmendes Alter zu Einkommenssteigerungen führt und dies völlig unabhängig von der individuellen Leistung. Eine finanzielle Anerkennung von überdurchschnittlichen Leistungen war bislang nicht möglich. Die leistungsorientierte Bezahlung des TVöD sieht vor, einen sukzessive ansteigenden Anteil der Gehaltszahlungen (1% in 2007, 2% in 2008 bis maximal 8% insgesamt) leistungsorientiert zu vergeben. 

Obwohl bereits ab 2007 mit der Ausschüttung dieser leistungsorientierten Zusatzzahlungen begonnen werden muss, haben sich bislang nur wenige Anstellungsträger der Kinder- und Jugendhilfe auf den Weg gemacht, eine sinnvolle Form der Leistungsbewertung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu erarbeiten. Die Bewertung von Leistung in den verschiedenen Handlungsfeldern und Aufgabenbereichen der Kinder- und Jugendhilfe setzt eine intensive Auseinandersetzung mit den Wirkungen des Handelns von Fachkräften voraus. Es bedarf dabei sowohl der Selbstvergewisserung von Verbänden, Institutionen und Einrichtungen, als auch verbindlicher Aushandlungsprozesse zwischen Anstellungsträgern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. 
    
Aus Sicht der AGJ birgt die Implementierung des TVöD sowie auch des TV-L und die damit verbundenen noch unklaren konkreten Umsetzungsschritte und offenen Fragen das Risiko, finanzielle Effizienzgesichtspunkte in den Mittelpunkt zu rücken und die schwierig zu beantwortenden Fragen nach der Effektivität fachlichen Handelns vor dem Hintergrund von Trägerpluralität, unterschiedlich geprägten Leitmotiven, spezifischen Zielen und allgemeinen Handlungsmaximen der Kinder- und Jugendhilfe zu vernachlässigen. Die AGJ plädiert dafür, diese Diskussion trägerübergreifend und längerfristig, über pragmatische Aspekte und über die Umsetzung leistungsorientierten Bezahlung hinausgehend, zu führen. Geboten ist bei der Auseinandersetzung über Leistung, Effektivität und Effizienz der Kinder- und Jugendhilfe, ihre Adressatinnen und Adressaten stärker in den Blick zu nehmen.

 

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 29. / 30. November 2006