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Rahmenbedingungen des Forschungstransfers in die Praxis

Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Diskussionspapier als PDF

Forschungsaktivitäten in der Kinder- und Jugendhilfe nehmen kontinuierlich zu. Gegenwärtig ist insbesondere durch die Debatten über eine wirkungsorientierte Kinder- und Jugendhilfe und durch die Notwendigkeit, Angebote und Maßnahmen evaluieren zu müssen, ein erheblicher Bedarf der Praxis an Forschung zu beobachten. Ob das Potential forschungsbasierten Wissens für die Praxis ausgeschöpft werden kann, hängt dabei maßgeblich von der Bedeutung und der Ausgestaltung des Forschungstransfers ab. 

Forschung in der Kinder- und Jugendhilfe ist charakterisiert durch zwei zentrale Perspektiven: die disziplinorientierte Forschung auf der einen Seite und die professionsorientierte Forschung auf der anderen Seite, wobei die Grenzen fließend sind. Bei der disziplinorientierten Forschung stehen grundlagenorientierte Forschungsansätze, die Wissen und Theorien zu den gegenwärtigen sozialen und gesellschaftlichen Herausforderungen etablieren und gleichermaßen das Profil der Sozialpädagogik als Disziplin konturieren sollen, im Zentrum.

Bei der im vorliegenden Papier betrachteten professionsorientierten (Auftrags-)Forschung steht die Beschäftigung und Erforschung solcher Fragestellungen im Mittelpunkt, die berufliches Handeln in der Sozialen Arbeit theoretisch begründen und wissenschaftlich untersuchen sowie die subjektiven, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen dieses Handelns reflektieren. Die vielfältigen Voraussetzungen professionellen Handelns werden ebenso analysiert wie Konzepte und Verfahren der optimierenden Gestaltung der Praxis Sozialer Arbeit in exemplarischen Handlungsfeldern. Professions-orientierte Forschung dient somit der professionellen Selbstvergewisserung der Sozialen Arbeit, ihre Zielperspektive ist die Professionalisierung der Praxis Sozialer Arbeit im Rahmen politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Bedingungen. 

Inhalte sind beispielsweise: 

  • auf je spezifische Handlungsfelder der Sozialen Arbeit bezogene Fragestellungen (Forschungen zum professionellen Handeln in ambulanten und stationären Hilfen zur Erziehung, zur Jugendarbeit etc.)
  • Ansätze der Sozialberichterstattung, Jugendberichterstattung und Bildungsberichterstattung (Forschungsarbeiten zum Bildungsauftrag der Kinder- und Jugendhilfe, zur Jugendhilfe in Ganztagsschulen, zu regionalen Bildungslandschaften, zur Sozialraumorientierung, Jugend-berichte und Familienberichte, Jugendhilfestatistik etc.)
  • Durchführung von Planungsprozessen (Jugendhilfeplanung, Bedarfs- und Bestandserhebungen, kommunale Sozial- und Bildungsberichte etc.) 
  • Evaluationsforschung / Implementationsforschung (Wirkungsorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe, Evaluation von Programmen, Angeboten, professionellem Handeln etc.).

Die Auftraggeber einer solchen Forschung sind außerordentlich vielfältig, in jedem Fall der beforschten Praxis aber offen zu legen. So zeichnen sich die Landesjugendämter durch eine entsprechende Forschungsförderung aus[1], unterschiedliche Bundes- und Landesministerien und Wohlfahrtsverbände, Stiftungen und andere freie Träger agieren ebenfalls als Forschungs-auftraggeber. Insbesondere der verstärkt zu beobachtende Trend der Evaluation von Angeboten, von Modellprojekten etc. hat hier zu einer Intensivierung der professionsorientierten Forschung beigetragen und dabei auch zu einer erhöhten Funktion der Praxis als Auftraggeber von Forschung geführt.  Dementsprechend vielfältig ist dann auch das Feld der Auftrag-nehmer: Universitäten, Fachhochschulen, Forschungsinstitute, freiberuflich tätige Forscher und Forscherinnen sowie Forschungsabteilungen von Beratungsfirmen treten hier in Erscheinung.

Das vorliegende Papier beschreibt Anforderungen an den durch Praxis und Forschung kooperativ und transparent auszugestaltenden und gemeinsam zu moderierenden Prozess des Transfers professionsorientierter Forschung.   
  

Anforderungen der Praxis an Forschung

Die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe hat einen steigenden Bedarf nach forschungsbasierten Antworten auf ihre Fragen, nach Legitimation für ihr Tun und nach Hinweisen für Verbesserungsmöglichkeiten. 

Die Mitarbeit der Praxis im Forschungsprozess konzentriert sich dabei vor allem auf die Generierung von Forschungsfragen, auf die Wertung der „Nützlichkeit von Forschung“ und auf die Frage, ob Forschungsergebnisse in der realen Welt Wirkung zeigen.

Je stärker die Professionalisierung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ist, desto größer sind die Schnittstellen zwischen Forschung und Praxis, das heißt desto häufiger nimmt das professionelle Handeln Bezug auf Forschungsergebnisse (und ist insofern forschungsbasiert), desto häufiger wird Forschung von Praxis initiiert und desto notwendiger wird der Forschungstransfer. Der Transfer von Forschungsergebnissen muss dabei immer mehr sein als einfache Anweisungen an die Praxis beziehungsweise als von der Forschung gesetzte Zielvorgaben, an denen sich Praxis auszurichten hat. Ein solchermaßen „einfacher Transfer“ von Forschungs-ergebnissen in die Praxis entspricht nicht dem Selbstverständnis von Einrichtungen und Diensten der Kinder- und Jugendhilfe. Sollen zum Beispiel Fortbildungen mit Forschungstransfer systematisch in die alltägliche Arbeit zum Wohle der betroffenen jungen Menschen und ihrer Familien sowie zur reflexiven Professionalisierung der Praxis eingeordnet werden, ist eine entsprechende Personalentwicklung wichtig. Der steigende Forschungsanteil im Bachelor- und Masterstudium stärkt dabei die Schnittstelle zwischen Forschung und Praxis. 

Wenn Einrichtungen/Dienste der Kinder- und Jugendhilfe nicht unmittelbar an einem Forschungsprojekt, dessen Initiierung und Durchführung beteiligt sind, bedarf es entsprechender Medien, die die Rezeption von Forschungs-ergebnissen in der Praxis ermöglichen: Internet, Fachzeitschriften, verbandliche Informationsquellen (AGJ, AFET, DJI, EREV, BVkE, SOS) und Informationsmedien der Landesjugendämter sind als schriftliche Quellen für Information und Selbststudium zu nennen. Andere Medien der Information und des Forschungstransfers sind neben internen Schulungsmaßnahmen Fachtagungen, die bisweilen auch als Forschungswerkstatt, als Werkstatt-gespräch, als Seminar oder als Kongress angeboten werden. Die Veranstalter sind Träger der öffentlichen und freien Jugendhilfe, Oberste Landesjugend-behörden und Landesjugendämter, Wohlfahrtsverbände, Fachverbände, Berufsverbände und freie Anbieter.


Anforderungen der Forschung an Praxis

Für die Praxis, für die Verwaltung und für diejenigen, die Forschung beziehungsweise Fachpraxis finanzieren, ergeben sich – aus Sicht der Forschenden – folgende Anforderungen:

  • Forschung benötigt Zeit und Raum und kann nicht „nebenbei“ bzw. zusätzlich zum alltäglichen fachlichen Handeln geleistet werden.
  • Forschung braucht finanzielle Ressourcen, die von Seiten der Praxis in eigenen Forschungsetats berücksichtigt werden müssen.
  • Forschungsergebnisse sind dann umso weiterführender, je stärker sie nicht nur aus einer reinen Auftragsforschung hervorgegangen sind (öffentlich zugänglich wird nur das, was dem Auftraggeber gefällt), sondern auch darüber hinausgehende Auseinandersetzungen befördern (Forschung als Praxisinnovation).     
  • Fragen der Gestaltung des Forschungstransfers sollten vor Beginn der eigentlichen Forschungsaufgaben geklärt sein.
  • Praxis kann und sollte gemeinsam mit Forschung Fragestellungen erarbeiten, den Forschungsprozess kooperativ gestalten und den Forschungstransfer transparent gestalten.  
  • intensivierte Bezüge zwischen Praxis und Forschung beispielsweise im stetigen gegenseitigen Austausch einer formativen Evaluation[2], sind für beide Seiten von Vorteil. Bei Wahrnehmung unterschiedlicher Aufgaben tragen Praxis und Forschung eine gemeinsame Verantwortung.
  • Ein gewinnbringender Transfer von Forschungsergebnissen erfordert von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Aneignungsaktivitäten. Dies beinhaltet unter anderem, Forschende zu fordern (zum Beispiel sich verständlich auszudrücken) und Forschungsergebnisse ernst zu nehmen. 


Zeit und Geld: Berücksichtigung des Transfers bei der Planung

Zeit ist ein bestimmender Faktor für Forschungsprozesse und -transfers geworden und muss bei der Planung aller Projektphasen angemessen berücksichtigt werden. Beginnend mit der Projektausschreibung beziehungs-weise Projektbeauftragung, über die Planung, die Durchführung und schließlich den Transfer bewegt sich Forschung im Spannungsfeld zwischen Zeitbedarf und Zeitdruck. Bei der Festlegung finanzierter Forschungs-zeiträume wird insbesondere die Transferphase unzureichend berücksichtigt. Bei Vereinbarungen zwischen Auftraggebern und Auftragnehmern werden zwar Verfügungsrechte und Formen des Transfers (zum Beispiel Veröffentlichungen, Präsentationen, Fachveranstaltungen, Fortbildungen) geregelt, nicht oder nur unzureichend jedoch der Zeitbedarf für den Transfer. Wenn eine qualitativ hochwertige Implementierung und die Verbreitung von Forschungsergebnissen gewünscht werden, sollte im Vorfeld ein Zeitraum für den Transfer abgesichert werden. Aus der Perspektive von Forschung bedeutet dies, den Transfer der Forschungsergebnisse und damit die Implementation von Forschung als Teil des eigenen praxisbezogenen Forschens zu begreifen. Aus der Perspektive von Praxis bedeutet dies, den Forschungstransfer als aktiv gemeinsam mit Forschung zu gestaltende Kooperation zu etablieren.    

Spätestens wenn Ausschreibungen von öffentlich finanzierten Forschungsvorhaben den Transfer in die Praxis als notwendige Standardanforderung berücksichtigen und Formen des Wissenstransfers als Kriterien für die Förderentscheidung dienen, ist eine Beachtung der Transferphase auch bei der Kosten- und Finanzierungsplanung unumgäng-lich. Auch die von den Auftraggebern bisher nur manchmal refinanzierten Steuer- und Overheadkosten der Forschung, die in der Summe bis zu 25 Prozent der Gesamtkosten verursachen können, sowie die Aufwendungen der beteiligten Praxis müssen in der Planung berücksichtigt werden.[3] 


Qualifizierung von Forschenden

In der Ausbildung findet im Rahmen des Bologna-Prozesses (an Universitäten) eine Verstärkung der Qualifizierung für Forschung sowohl aus der disziplinorientierten als auch  aus der professionsorientierten Perspektive statt. Dabei geht es zunächst um die Vermittlung des entsprechenden forschungsmethodologischen Wissens (quantitative und qualitative Forschungsmethoden, Statistik etc.). Zu beobachten ist darüber hinausgehend, dass die Studierenden zusätzlich bereits während der Ausbildung selber forschend tätig werden und dies im Kontext 

  • eigenständiger kleinerer Forschungsvorhaben  
  • der Einbindung in größere Forschungsvorhaben der Lehrenden  
  • der Erarbeitung empirisch basierter Abschlussarbeiten
  • der Projekte forschenden Lernens, die einen unmittelbaren Praxiszusammenhang aufweisen (siehe professionsorientierte Forschung)
  • von Praktika als Forschungspraktika.   

Durch diese Intensivierung der Qualifizierung für Forschung sollen sowohl der wissenschaftliche Nachwuchs ausgebildet werden, als auch das professionelle Handeln in der Praxis forschungsbasierter werden, sei es durch den professionellen Umgang mit Forschungsergebnissen, sei es durch die professionell begründete Beauftragung von Forschungsarbeiten, etwa zum Zwecke der Evaluation. Die verstärkte Zuwendung von Forschenden zu Praxisthemen könnte besonders im Rahmen koordinierter, institutionalisierter Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendhilfe (zum Beispiel durch Kooperationsverträge) in praktische Nutzbarmachung münden. 

Legitimation und Verwertung 

Der Einsatz von Steuergeldern für Forschungsvorhaben wird auch durch die öffentliche Zugänglichkeit von Forschungsergebnissen legitimiert. Eine leichte Zugänglichkeit zu den Forschungsfragen, den methodischen Umsetzungen und den Ergebnissen leistet einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung von Forschungsprojekten und erhöht damit die Bedeutung der Ergebnisse. 

Die Anregungsfunktion, die von wissenschaftlich begleiteten Modellpro-grammen ausgehen soll, kann sich nur dann entfalten, wenn die Personen, die an der wissenschaftlichen Begleitung beteiligt waren, auch die Möglichkeit haben, ihre Ergebnisse und Erfahrungen mit Vertreterinnen und Vertretern der Praxis zu diskutieren und zu reflektieren. Eine Reduktion des Wissens-transfers auf Publikationen reicht nicht aus.

Forschungsergebnisse sollten so aufbereitet werden, dass auch methodische Laien in der Lage sind, die Generalisierbarkeit der Ergebnisse zu beurteilen. Die Ergebnisberichte tragen dann zum Transfer in die Praxis bei, wenn sie bereits Transfermöglichkeiten benennen und zur Diskussion über die Anwendbarkeit der Forschungsergebnisse anregen.

 

Fazit

Professionsorientierte Forschung in der Kinder- und Jugendhilfe bietet ein großes Wissenspotential für die Praxis. Dieses kann jedoch nur ausgeschöpft werden, wenn der Forschungstransfer gemäß den Anforderungen sowohl der Praxis als auch der Forschung und unter besonderer Berücksichtigung der notwendigen Zeiträume, der Finanzierung, der Qualifizierung von Forschenden sowie der Legitimation und Verwertung in einem kooperativen und transparenten Prozess gestaltet wird. In einem solchen Prozess sind  Praxis und Forschung gleichberechtigte Gestalter eines Prozesses, mit dem die Professionalisierung der Kinder- und Jugendhilfe gemeinsam weiter entwickelt wird.   

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 02./03. Dezember 2009

 

[1] Siehe hierzu auch: Thole, Werner/Geis, Nina/Seckinger, Mike (2005): Kinder- und Jugendhilfe im Visier der Forschung. Forschungsförderung der Länder – Ergebnisse einer AGJ-Umfrage – Forschungsnotiz. In: Forum Jugendhilfe 3/2005. 
[2] Im Unterschied zur Ergebnisevaluation, die einen Vergleich zwischen Zielperspektive und erreichten Ergebnissen ermittelt, werden aufgrund der erzielten (Zwischen-)Ergebnisse der formativen Evaluation Interventionen beziehungsweise Korrekturen laufender Maßnahmen vorgenommen, um die Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung erhöhen. Häufig werden auch die eingesetzten Erhebungsinstrumente gemeinsam von Forschung und Praxis entwickelt.
[3] Die AGJ hat bereits 2003 auf der Grundlage von Analysen und Materialien der bundesweiten Kinder- und Jugendberichte den Trägern und Organisationen der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe empfohlen, drei Prozent ihres finanziellen Budgets für grundlagen- und praxisbezogene Forschungsvorhaben zu reservieren und sich nachhaltig für die Etablierung von mit den Forschungsinstitutionen gemeinsam getragenen Forschungs-Praxis-Transferstellen zu engagieren. (vgl. Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (April 2003): Für einen Ausbau der Kinder- und Jugendhilfeforschung. Ein Plädoyer der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe)