Eigenständige Jugendpolitik Erste Einschätzungen der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

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Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ befasst sich kontinuierlich mit explizit „jugendpolitischen“ Fragen und hat bereits 2008 und 2009 in Positionspapieren[1] auf die Notwendigkeit einer eigenständigen jugendpolitischen Profilbildung auf nationaler Ebene hingewiesen.

Mit der Durchführung zweier „Nationaler Konferenzen Jugendpolitik“ in den Jahren 2007 und 2008 sollte der Blick der Fachwelt wieder verstärkt auf eigenständige jugendpolitische Konzepte und Förderprogramme gelenkt werden, auch vor dem Hintergrund einer verbesserten beruflichen und sozialen Integration benachteiligter junger Menschen.

2010 hat sich die AGJ schließlich in einem ersten Aufschlag zum Vorhaben der Bundesregierung, eine „eigenständige Jugendpolitik“ zu fördern, positioniert und erwartet seitdem gespannt den Prozess der Ausgestaltung[2].
Ziel all dieser Aktivitäten war und ist es, die Lebensphase Jugend in der öffentlichen Wahrnehmung zu stärken.

Die AGJ begrüßt das im Jahr 2009 von der Bundesregierung im Koalitionsvertrag formulierte Ziel einer „eigenständigen Jugendpolitik, starken Jugendhilfe und starken Jugendarbeit, die junge Menschen teilhaben lässt und ihre Potentiale fördert und ausbaut“ und erklärt sich bereit, am Umsetzungsprozess aktiv mitzuwirken.

Ein öffentlicher Diskurs über die Lebenslage Jugend ist längst überfällig und darf nicht ausschließlich als Bestandteil von familien- und soziapolitischen Debatten geführt werden.

Im Folgenden trifft die AGJ Aussagen zu den vordringlichsten Themenfeldern und Handlungsbedarfen, beschreibt die wichtigsten Eckpunkte und Instrumente einer eigenständigen Jugendpolitik und führt aus, wie ein gemeinsamer Entwicklungsprozess gestaltet werden könnte.


Jugend als Lebensphase und Zielgruppe mit ihren spezifischen Bedürfnissen anerkennen

Jugend als Lebensphase ist durch spezifische Spannungsverhältnisse zwischen Kindheit und Erwachsenenstatus, durch Orientierungssuche und Ausprobieren, durch Abgrenzung vom Elternhaus und eigenständiger Lebensführung, gekennzeichnet, die auch als Chance begriffen werden können.
Vor diesem Hintergrund, aber auch aufgrund der Tatsache, dass familienunterstützende Förderangebote Jugendliche zum Teil nicht erreichen, bedarf es einer Politik, die Jugend als eigenständige Zielgruppe und Lebensphase wahrnimmt und unterstützt.

Raum für Freiheit und Verantwortung schafft die individuellen und sozialen Voraussetzungen für die eigene Persönlichkeitsentwicklung im Rahmen einer zukunftsfähigen, demokratischen Gesellschaft.
Aufgabe von Jugendpolitik ist demnach, Jugendliche als Partner in einem Gestaltungsprozess anzuerkennen, ihnen für die Bewältigung ihrer alterstypischen Aufgaben, für ihre Entwicklung, für die Erprobung unterschiedlicher Identitätsentwürfe entsprechende Freiräume und spezifische Förderung zur Verfügung zu stellen.

Analog der Fachdebatten in den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe sind für eine kohärente Politik für junge Menschen zwischen 14 und 27 Jahren folgende Themen vordringlich zu bearbeiten:

  • Jugendarmut,
  • Übergänge in Ausbildung und Beruf,
  • Anerkennung non-formalen und informellen Lernens,
  • Interkulturalität, 
  • Integration und Inklusion sowie
  • Zeitautonomie junger Menschen.

Jugendpolitik muss sich dafür einsetzen, Unterstützungsbedürftigen im Prozess des Heranwachsens notwendige Leistungen für die Absicherung einer gelingenden sozialen und beruflichen Integration zur Verfügung zu stellen. Entsprechend der benannten Themenschwerpunkte sind konkrete Ziele einer jugendpolitischen Einmischungsstrategie unter anderem, Jugendarmut und Jugendarbeitslosigkeit zu beseitigen, damit verbunden die Quote von Schulabbrüchen zu senken, benachteiligten jungen Menschen die berufliche Integration, z.B. über die Anerkennung non-formal und informell erworbenen Wissens, zu erleichtern, aber auch die Förderung interkultureller Anerkennung und der Kampf gegen Separation.


Jugendpolitik für alle Jugendlichen

Aufgabe von Jugendpolitik ist es, jungen Menschen unabhängig von ihrem sozialen und kulturellem Hintergrund, Geschlecht oder möglichen Behinderungen gleiche Teilhabechancen zu eröffnen. 

Jugendpolitik setzt sich dafür ein, junge Menschen direkt an ihre Lebenslage betreffenden Entscheidungen zu beteiligen, die für ihre gelingende Entwicklung notwendigen Gestaltungsräume zu Verfügung zu stellen und sie nicht der Betrachtung in Verwertungszusammenhängen auszusetzen.

Kinder- und Jugendhilfe und Jugendpolitik sind mit ihrer fachlichen und zielgruppenorientierten Zuständigkeit in Bund, Ländern und Kommunen zwar mit eigenen Ministerien und Ämtern ausgestattet, für die konkreten Belange von Kindern, Jugendlichen und Familien sind aber oft auch andere Politikbereiche zuständig.

Daher bedarf es einer querschnittsorientierten Jugendpolitik, die, über bürokratische Gegebenheiten hinweg, auf andere Politikbereiche Einfluss nehmen kann und muss, um für die Interessen junger Menschen im Sinne einer ganzheitlichen und nachhaltigen Politik einzutreten.

Jugendpolitik ist immer auch Einmischungspolitik und muss im Rahmen ihrer Anwaltsfunktion die Interessen von jungen Menschen in anderen Politikbereichen vertreten, sollte aber auch Handlungsmöglichkeiten anderer Politikbereiche zur Umsetzung gemeinsamer Zielsetzungen in gemeinsamen Projekten nutzen.

Diese, zum Teil konzeptionell und theoretischen, Anforderungen praxistauglich umzusetzen, ist eine besondere Herausforderung, der sich eine eigenständige Jugendpolitik aus Sicht der AGJ stellen muss.


Jugendpolitische Instrumente erhalten und weiterentwickeln

Die Selbstorganisation von jungen Menschen bildet eines der wichtigsten Instrumente einer eigenständigen Jugendpolitik.
Insbesondere Jugendverbandsarbeit und Jugendinitiativen sind für die Entwicklung einer zukunftsfähigen demokratischen Alltagskultur einer Gesellschaft von unverzichtbarer Bedeutung. 

Offene und interkulturelle Jugendarbeit, kulturelle Jugendbildung, integrative Arbeit und natürlich Jugendsozialarbeit leisten, im Sinne der Herausbildung der persönlichen Identität und Wertorientierung von Jugendlichen, dazu ebenfalls einen professionellen und wichtigen Beitrag.

Bewährte jugendpolitische Instrumente, wie Kinder- und Jugendberichte, Kinder- und Jugendpläne des Bundes und der Länder sowie Jugendhilfeausschüsse dienen ebenfalls der Unterstützung einer kohärenten, querschnittsorientierten Jugendpolitik.

Jugendpolitik sollte insbesondere Angebote, die auf Freiwilligkeit und Selbstorganisation beruhen, vorhalten. Auch wenn sich junge Menschen oft projektbezogen und damit temporär engagieren, ist ein kontinuierliches und nachhaltiges Angebot zu sichern und mit entsprechenden personellen und finanziellen Ressourcen im Sinne einer Infrastruktur auszustatten.

Jugendpolitik setzt sich dafür ein, dass Beteiligungsstrukturen wie die Mitwirkung im Rahmen von Stadtplanung oder Jugendparlamenten weiterentwickelt und ausgebaut werden. Als geeignete Instrumente wären auch regelmäßige eigenständige Jugendberichte (Jugendreport) denkbar, in denen junge Menschen aus ihrer Perspektive die jugendpolitische Situation vor dem Hintergrund ihrer Alltagserfahrungen reflektieren und Anregungen für Verbesserungen geben könnten. Notwendige Voraussetzung ist, dass ihre Anregungen ernst genommen und möglichst zielgenau umgesetzt werden und nicht im Sinne einer Alibi-Beteiligung ergebnislos bleiben.

Die beschriebenen jugendpolitischen Instrumente müssen für die Erreichung der genannten Ziele genutzt und erweitert werden. Querschnittsorientierte Ansätze im Zusammenhang mit der Kinder- und Jugendberichterstattung oder im Rahmen der Kooperation von Kinder- und Jugendhilfe und Schule befördern eine bewusste Öffnung für andere Politikbereiche. Der Ausbau der notwendigen ressortübergreifenden Zusammenarbeit, um allen jungen Menschen ein chancengerechtes Aufwachsen zu ermöglichen, bedarf einer starken Jugendpolitik mit von allen beteiligten Akteuren anerkannten Instrumenten.


Möglicher Beitrag der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ für die Entwicklung und Umsetzung einer eigenständigen Jugendpolitik in Deutschland

Die AGJ hat sich dafür eingesetzt, dass der Prozess für die Entwicklung einer eigenständigen Jugendpolitik unter Einbeziehung der Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe sowie unter Beteiligung junger Menschen geführt wird.

Mit ihren Erfahrungen und der Bündelung der organisatorischen und fachlichen Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe auf Bundesebene kann die AGJ einen wertvollen Beitrag für die Entwicklung und Umsetzung einer eigenständigen Jugendpolitik leisten.
So könnte beispielsweise über die AGJ-Gremien, insbesondere den AGJ-Vorstand und den AGJ-Fachausschuss „Jugend“, das Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe sowie die Fachzeitschrift „FORUM Jugendhilfe“ ein Austausch in der Fachöffentlichkeit initiiert und begleitet werden.

Um einem querschnittspolitischen Ansatz gerecht zu werden, muss Jugendpolitik aber auch kontinuierlich in die Informations- und Kommunikationszusammenhänge anderer Politikbereiche eingebunden werden. Eine regelmäßige und andauernde Beteiligung ist Voraussetzung, um eine auf die Bedürfnisse und Interessen von Jugendlichen ausgerichtete Politik gestalten zu können.

Die Strukturen der AGJ bieten ebenfalls ein Forum für einen nachhaltigen ressortübergreifenden Austausch. So finden regelmäßige Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Politikressorts, die die Lebenslagen von jungen Menschen direkt oder indirekt beeinflussen, statt, werden themenbezogene Arbeitskreise gebildet und erfolgt eine Beteiligung in Beiräten oder sonstigen fachbezogenen Gremien anderer Ressorts.

Mit dem vorliegenden Papier möchte die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ erste Einschätzungen zu einer eigenständigen Jugendpolitik in den laufenden Prozess einbringen, die auch als Grundlage für die Gespräche des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mit den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe im Frühjahr 2011 dienen können. Die beschriebenen Eckpunkte und Bewertungen sollen außerdem innerhalb der Strukturen der AGJ zur Diskussion gestellt, weiterentwickelt und mit Leben gefüllt werden.


Geschäftsführender Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 28. März 2011 

 

[1] vgl. „Soziale Integration junger Menschen“, Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ, April 2008, „Bildung – Integration – Teilhabe. Kinder- und Jugendpolitik gestalten", Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ, September 2009
[2] vgl. „Nationale Umsetzung der EU-Jugendstrategie – ein erster Schritt auf dem Weg zu einer eigenständigen Jugendpolitik“, Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ, April 2010