Dokumentation des AGJ-Gesprächs „Jetzt aber richtig: vom Polieren einer Schnittstelle hin zu Inklusion!“ 

Am 14. September 2022 führte die AGJ mit einem Kreis von 30 Expert*innen aus der Eingliederungshilfe sowie der Kinder- und Jugendhilfe das geschätzte Format der AGJ-Gespräche fort, welches auf eine systemübergreifende Vernetzung und intensiven Austausch ausgerichtet ist.

Die Gestaltung der inklusiven Jugendhilfe gehört für die AGJ zu den zentralen fachpolitischen Anliegen. Dabei war und ist ihr ein Diskurs über Strukturgrenzen hinweg wichtig, aus dem heraus fundiertes – ggf. auch gemeinsames – fachpolitisches Wirken möglich wird (vgl. etwa Appell „Exklusion beenden: Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen und ihre Familien!“, 2019). Der AGJ geht es darum, Verschiebebahnhöfe zwischen den Systemen und allein aus der jeweiligen Systemlogik heraus erklärbare Ungleichbehandlungen zu beenden. Auf Bedarfe in der Lebenswelt der jungen Menschen und dem System Familie soll ganzheitlicher reagiert werden können – unabhängig davon, ob diese eine körperliche, geistige, seelische Beeinträchtigung oder einen erzieherischen Bedarf haben oder nicht.

Gemeinsam zum Ziel

Die AGJ verband mit der Ausrichtung des inzwischen vierten AGJ-Gesprächs das Anliegen, mit Blick auf den bevorstehenden Beteiligungsprozess des Bundes „Gemeinsam zum Ziel: Wir gestalten die Inklusive Kinder- und Jugendhilfe“ einen SGB VIII/SGB IX-übergreifenden Austausch und eine Vernetzung der hier für junge Menschen tätigen Akteure zu ermöglichen. Am AGJ-Gespräch nahmen dreißig Expert*innen teil, von denen zehn Vertreter*innen der Eingliederungshilfe und zwanzig der Kinder- und Jugendhilfe waren. Im Zuge des Einladungsprozesses wurde darüber hinaus Kontakte mit weiteren Vertreter*innen der Eingliederungshilfe aufgefrischt, die am Termin jedoch verhindert waren. Der Tag war durch lebhafte Gespräche im Plenum und in Kleingruppen geprägt. Mehrfach wurden die entstandene Offenheit und das kollegiale Miteinander positiv hervorgehoben.

Sind wir uns einig, wo wir stehen? Acht Thementische zum Austausch über Erwartungen („Do´s“) und Befürchtungen („Don´ts“) orientiert an der Debatte seit 2015 und an bis 2028 zu klärenden Fragen

Inhaltlich begann der Tag mit einem Austausch in wechselnden 3er- bis 5er-Gruppen über Erwartungen und Befürchtungen zur Inklusiven Lösung an unterschiedlichen Thementischen (u. a. zur Verwaltungsorganisationsreform, den Umgestaltungen von Leistungs- und Verfahrensnormen, der fachlichen Weiterentwicklung der Angebote, an die Aus- und Weiterbildung und den bevorstehenden Bundesbeteiligungsprozess). Die auf Karten notierten Stichwörter können Sie hier einsehen.

Schritt 1 – verbesserte Zusammenarbeit an den Schnittstellen

In der ersten Plenumsdiskussion ging es um die seit Inkrafttreten des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes im Juni 2021 geltenden Vorgaben zur Verbesserung des sog. Schnittstellenmanagements (§§ 10a SGB VIII, § 117 SGB IX, § 36b SGB VIII). Die Teilnehmenden bestätigten durchgehend ihren Eindruck, dass erwartungsentsprechend geringe Wirkkraft von diesen Änderungen ausgehe. Eingliederungshilfeträger würden in ihrem Gesamtplanverfahren zugunsten junger Menschen mit Behinderung allenfalls in seltenen Fällen und nur bei offensichtlichem Bedarf Jugendämter einbeziehen. Erklärt wurde dies u. a. mit der hohen Belastung der Fachkolleg*innen und weiterhin bestehender Umsetzungsdefizite etwa hinsichtlich der durch das Bundesteilhabegesetz eingeforderten partizipativen Prozesse. Auch die Übergangsgestaltung bei Zuständigkeitswechsel sei zwar durch das KJSG präzisiert worden, werde aber noch weitgehend unverändert durchgeführt. Es fehle noch an fallunabhängigen Vereinbarungen auf struktureller Ebene, um auf der Einzelfallebene systematisch abgestimmter agieren zu können. Die Teilnehmenden äußerten Verständnis für die in der breiten Fachpraxis erforderlichen Prioritätensetzung, forderten einen realistischen, ent-idealisierten Blick auf beide Ämter und das Bedürfnis, den hohen Anforderungen der Inklusion auch mit einer Komplexitätsreduktion entgegenzutreten. Sie einte der Wunsch, dass insbesondere die Zusammenarbeit beim Zuständigkeitswechsel noch mehr Aufmerksamkeit erhalten wird. Hier bestehe besonders großes Potenzial für eine systemübergreifende Verständigung zu den Bedarfen der Adressat*innen und die Veränderungen durch die Inklusive Lösung. Mit Nachdruck wurde darauf hingewiesen, dass die als Begründung der unterschiedlichen Versorgungslage angeführten differierenden Vergütungsvereinbarungen so keinesfalls im SGB IX und SGB VIII angelegt, sondern vielmehr tradierte Aushandlungsergebnisse seien und Änderungen im Interesse inklusiver Angebot durchaus schon bei aktueller Rechtslage erstritten werden sollten.

Schritt 2 – Verfahrenslots*innen spätestens ab 2024

Im nachfolgenden Diskussionsblock wurde die Einführung von Verfahrenslotsen (§ 10b SGB VIII) spätestens zum Jahr 2024 aufgegriffen und deren Aufgaben, Organisations-/ Verortungsoptionen im Jugendamt sowie notwendige Qualifikation erörtert. Die Folien des einleitenden Inputs von Katharina Lohse (Fachliche Leitung des DIJuF und Mitglied im AGJ-Fachausschuss I) können Sie hier einsehen.

Die Doppelaufgabe (unabhängige Einzelfallberatung der Adressat*innen nach Abs. 1, Unterstützung des öffentlichen Trägers der Jugendhilfe bei der Zusammenführung der Leistungen zum Jahr 2028) wurde als sehr herausfordernd beschrieben. Als Mindeststandards für die Umsetzung lasse sich aus § 10b SGB VIII zum einen die Trennung von der Fallverantwortung zur Sicherung der Unabhängigkeit in der Einzelfallberatung, zum anderen der halbjährliche Bericht ableiten. In der durch Fallerfahrung gespeisten Beratung zur Organisationsentwicklung stecke großes Potenzial, für die die Ansiedlung im Jugendamt wichtig sei. Für die Umsetzung lasse sich kein idealtypisches Modell herausbilden, da die kommunalen Gegebenheiten berücksichtigt werden müssten (Größe des Jugendamtes, Verortung der bisherigen Zuständigkeit für junge Menschen mit Behinderung sowohl im Träger der Eingliederungshilfe wie auch das Vorhandensein eines entsprechenden Spezialdienstes im Jugendamt und/oder Fachberatung im ASD, Amtskultur, fachliche Aufstellung der Jugendhilfeplanung, Zielsetzungen mit Blick auf die Umgestaltung etc.). Verfahrenslotsen wurden aufgrund des Aufgabenprofils immer wieder als „eierlegende Wollmilchsäue“ bezeichnet, aber auch hervorgehoben, dass eine Überfrachtung mit Erwartungen entgegenzuwirken und Profilentwicklung/Qualifikationserweiterung während der Umsetzung akzeptiert werden sollte. Nach der Zuständigkeitszusammenführung im Jahr 2028 entfalle die bislang größte Schnittstelle, solche bestünden zu anderen Rehabilitationsträgern oder etwa dem Schulsystem aber weiter fort, so dass jedenfalls die in Abs. 1 angelegte Beratungsaufgabe weiter gefüllt werden könne. Den Fachkräften könnten jenseits hiervon aber auch in dem bzw. den neuorganisierte(n) Dienst(en) des Jugendamtes hervorgehobene Perspektiven geboten werden.

Schritt 3 – Leitplanken für die Debatte um das bis spätestens zum 1.1.2027 zu verkündenden Bundesgesetz

In der abschließenden Plenumsdiskussion richtete sich der Fokus auf den bevorstehenden Beteiligungsprozess des Bundes zur Erarbeitung der Inhalte des bis spätestens zum 1.1.2027 zu verkündenden und zum 1.1.2028 in Kraft tretenden Bundesgesetzes. Die Teilnehmenden stimmten darüber ein, dass Foren wie das AGJ-Gespräch hierfür äußerst wertvoll seien. Sie äußerten jedoch ihre Erwartung, dass die Debatten im Bundesbeteiligungsprozess weniger Möglichkeit der Verständigung bieten und eher von nebeneinanderstehender Interessenvertretung geprägt sein werden. Die geringe Transparenz des Prozesses wurde als sehr hemmend benannt. Die Vertreter*innen der Eingliederungshilfe warben um Verständnis, dass in ihren Kreisen eine Spezialisierung auf die Belange und Versorgung junger Menschen sehr selten sei. Obgleich der erkannten Bedeutung des Themas und des vorhandenen Willens, die Reform gemeinsam zu gestalten, seien die Verbandsressourcen reduziert, z. B. ruhe die lose Arbeitsgruppe des Deutschen Behindertenrats noch seit dem Ende von „Mitreden – Mitgestalten“. Um die AGJ zu entlasten und der gemeinsamen Verantwortung für die systemübergreifende Verständigung gerecht zu werden, boten mehrere Teilnehmende an, in ihren jeweiligen Strukturen Anknüpfungsmöglichkeiten für das AGJ-Gespräch auszuloten. Format, Verbindlichkeiten bezogen auf den Teilnehmendenkreis sowie den Rhythmus blieben dabei noch offen. Hierzu wird sich der Geschäftsführende Vorstand der AGJ beraten und es werden weitere Gespräche mit den entsprechenden Vertreter*innen aus der Eingliederungshilfe sowie der Kinder- und Jugendhilfe geführt werden.

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