Übergang zwischen Kindertages- einrichtung und Grundschule


Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Diskussionspapier als PDF


Ausgangssituation

Die Gestaltung des Wechsels von der Kindertageseinrichtung in das Schulsystem sowie die Anschlussfähigkeit der pädagogischen Arbeit in beiden Institutionen sind in den letzten Jahren in der Fachöffentlichkeit zunehmend auf Interesse gestoßen. So wurde etwa aus Sicht der internationalen frühpädagogischen Forschung verstärkt auf die Bedeutung von Diskontinuitäten und Übergängen (Transitionen) im Lebensalltag und in der Bildungsbiographie von Kindern aufmerksam gemacht. Sie erfordern die erhöhte pädagogische Beachtung von Übergangssituationen, um ergänzend zum Elternhaus ein gelingendes Aufwachsen der Heranwachsenden zu gewährleisten. In Deutschland wurde eine Reihe von Praxisprojekten durchgeführt, um Konzepte für einen erfolgreichen Übergang zwischen den beiden Bildungsbereichen Kindertageseinrichtung und Schule zu entwickeln und auf diese Weise die Bildungsprozesse der Kinder zu verstetigen. Und schließlich wurde dem wachsenden Stellenwert der Übergangsthematik durch den gemeinsamen Beschluss von Jugend- und Familienministerkonferenz und Kultusministerkonferenz im Mai/Juni des Jahres 2009 Rechnung getragen, in dem Grundsätze und Handlungsempfehlungen zur Optimierung des Zusammenwirkens von Elementar- und Primarbereich formuliert wurden und auf die Notwendigkeit einer verstärkten Umsetzung dieser Leitlinien hingewiesen wurde.

Diese aktuellen Entwicklungen stellen für die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ den Anlass dar, ein Diskussionspapier zum Übergang zwischen Kindertageseinrichtung und Grundschule zu erstellen. Mit diesem Beitrag möchte die AGJ Länder, Schulen und Träger der Kinder- und Jugendhilfe dazu auffordern, über Modellprojekte hinausgehende Kooperationsbemühungen zu intensivieren und auszuweiten. Zugleich soll mit dieser Stellungnahme aber auch auf pädagogisch und bildungspolitisch brisante Fragen aufmerksam gemacht werden, die bei der Entwicklung und Verbesserung des Zusammenwirkens von Kinder- und Jugendhilfe und Schule von Bedeutung sind.


Institutionelle Grenzen überwinden – Eigenständigkeit der Bildungsbereiche bewahren

Kindertageseinrichtungen und Grundschule haben einen eigenständigen Bildungsauftrag. Ausgehend von ihrem gesellschaftlichen Auftrag stehen sie gemeinsam vor der Aufgabe, tragfähige Konzepte zu erarbeiten und die Anschlussfähigkeit ihrer Bildungsprozesse sicher zu stellen, ohne den eigenen Bildungsauftrag jeweilig aufzugeben. Die geteilte Verantwortung für die Bildungsprozesse der Kinder erfordert es, das Passungsverhältnis der Bildungs- und Erziehungskonzepte beider Institutionen kritisch zu überprüfen und zu optimieren, um kind- und entwicklungsgerechte Übergänge zu ermöglichen. Zur Herstellung der inhaltlichen Anschlussfähigkeit der Bildungsarbeit ist ein kindertageseinrichtungs- und schulübergreifendes Rahmenkonzept erforderlich, das vor Ort seitens der beteiligten Akteure konkretisiert werden muss. Ziel der gemeinsamen Bildungsarbeit ist es, den Übergang so zu gestalten, dass er für das einzelne Kind weder eine Unter- noch eine Überforderung darstellt.

Hierzu muss auch Klarheit über Begriff und Konzept von „Schulfähigkeit“ und den spezifischen Beitrag von Kinder- und Jugendhilfe und Grundschule bei der Umsetzung dieses Ziels hergestellt werden. Verkürzte Programme und Konzepte, die im Sinne abfragbarer Fähigkeitslisten für einen erfolgreichen Schulstart einseitig an den Defiziten der Kinder ansetzen, konterkarieren den ganzheitlichen, an den individuellen Ressourcen und Kompetenzen orientierten Ansatz in den Bildungsplänen und -vereinbarungen der Länder für den Elementarbereich. Als wichtigste Voraussetzung für gelingende Bildung bedeutet dies für beide Institutionen die konsequente Orientierung an den Stärken, Interessen und Bedürfnissen der Kinder. Im Mittelpunkt steht das einzelne Kind, das seine Bildungsprozesse erst nur in der Familie, dann auch in der Kindertageseinrichtung und später in der Grundschule aktiv und kompetent mitgestaltet. An die Stelle der Frage „Wann ist das Kind schulfähig?“ tritt die Herausforderung „Wie agieren Kindertageseinrichtungen, Schulen und Netzwerke kind- und familiengerecht?“. „Schulfähigkeit“ ist keine einseitige Vorleistung des Kindes, gefordert ist die Kompetenz des sozialen Systems. Sie entsteht im Zusammenwirken von Kind, Familie, Kinder- und Jugendhilfe und Schule als gemeinsame Aufgabe aller Beteiligten.

Die AGJ ist der Auffassung, dass die einseitige Ausrichtung von Kindertageseinrichtungen in Richtung „Vorschule“ nicht der Entwicklungs-logiken von Heranwachsenden im frühen Kindesalter entspricht. Zentrale Aufgabe der Kindertageseinrichtung ist vielmehr, die „Entwicklung einer eigenständigen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (§ 1 SGB VIII ) zu fördern. Auf der Grundlage eines ganzheitlichen Bildungsverständnisses sollte dabei der Erwerb von Metakompetenzen unterstützt werden. Hierzu gehört es, die frühkindliche Neugier zu stärken, Freude am Lernen sowie Spaß am gemeinsamen Erleben mit anderen Kindern zu wecken. In diesem Kontext sind auch die Wirkungen gezielter Schulvorbereitungsprogramme kritisch zu hinterfragen und wissenschaftlich zu beleuchten. Auch eine immer frühzeitigere Verlagerung des „Schulpflichttermins“ in die frühe Kindheit bei oftmals unzureichenden strukturellen Voraussetzungen (Gebäude, Einrichtung) und Lehrkräften an den Schulen, die für die Arbeit mit immer jüngeren Kindern fachlich bislang nur unzureichend vorbereitet sind, ist aus Sicht der AGJ kritisch zu betrachten.


Das Kind stärken und in den Mittelpunkt stellen

Obgleich Kinder gerne lernen und sich zumeist auf die Schule freuen, sind Übergänge immer auch ambivalent. Für das werdende Schulkind stellt der Eintritt in die Grundschule einen großen Schritt dar, der mit vielfältigen Entwicklungsanforderungen verbunden ist. Sie reichen von der individuellen Ebene (wie Identitätswechsel, Kompetenzerwerb, Bewältigung von Emotionen) über die soziale Ebene (z.B. Gewinn und Verlust von Freundinnen und Freunden, Aufnahme von Beziehungen zu Lehr- und Ganztagskräften) bis hin zur Ebene der Lernumwelt (Integration der beiden Lebensbereiche Familie und Schule, Auseinandersetzung mit einem strikteren Zeitkorsett und neuen Formen der Wissensaneignung etc.). Im Spiegel der Transitionsforschung wird vermutet, dass gelingende Übergänge im frühen Kindesalter die kindliche Entwicklung fördern und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass spätere Transitionen angstfreier und gewinnbringender gestaltet werden können.[1]

Die AGJ ist der Auffassung, dass jedes Kind ein Recht auf einen gut strukturierten Übergang zwischen Kindertageseinrichtung und Schule hat, bei dem die jeweilige Bildungsbiographie, die individuellen Entwicklungsprozesse sowie der familiale Kontext berücksichtigt werden. Die frühe Förderung der Heranwachsenden durch kindgerechte Lernangebote sowie die gute Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Grundschule eröffnen den Kindern erweiterte Bildungs- und damit auch Lebenschancen. Dies gilt insbesondere auch für Kinder, die in der Familie nicht die erforderliche Unterstützung erfahren.


Eltern einbeziehen

Nicht allein für das Kind, sondern auch für die Eltern ist der Eintritt in das Schulleben eine wichtige Schwelle, die gemeistert werden muss. Die Mütter und Väter werden Eltern eines Schulkindes und übernehmen damit eine neue Rolle, die mit vielfältigen Erwartungen und Handlungsanforderungen verknüpft ist. Teilweise müssen Eltern erst an diese neue Rolle herangeführt und für Bildungsprozesse interessiert werden. Für einige von ihnen ist die Einschulung (zumindest beim ersten Kind) mit gemischten Gefühlen verbunden, die zwischen Stolz auf ihr Schulkind und Unsicherheit über die optimale Vorbereitung auf den Schulstart und den weiteren Bildungsweg des Kindes schwanken. Neben der Auseinandersetzung mit der eigenen Funktion und Bedeutung müssen sie zugleich ihr Kind beim Wechsel zwischen Kindertageseinrichtung und Schule begleiten. Übergänge bilden somit eine Herausforderung für die ganze Familie.

Welche Übergänge die Familien genau zu bewältigen haben, hängt von den individuellen Bildungsverläufen, den Entscheidungen der Eltern und der regionalen Ausprägung des Angebotsspektrums ab. Bevor die Kinder den Übergang von der Tagesbetreuung in die Grundschule durchlaufen, stehen ihnen unterschiedliche Bildungsgelegenheiten zur Verfügung, die – in Abhängigkeit von der Betreuungsdichte und den Betreuungspräferenzen der Eltern – in Anspruch genommen werden. Je nachdem, über welche institutionellen Vorerfahrungen das Kind und die Eltern verfügen, unterscheiden sich die jeweiligen Voraussetzungen, Erfahrungen und Bedingungen für die Bewältigung der Übergangssituation.

Damit der Übergang zwischen Kindertageseinrichtung und Schule für die Familien nicht zum Bruch, sondern zur Brücke zwischen den zwei Bildungsbereichen wird, muss er von den Pädagoginnen und Pädagogen beider Bereiche – den sozialpädagogischen Fachkräften[2] sowie den Lehrerinnen und Lehrern – gestaltet werden. Dies erfordert, dass die verschiedenen Berufsgruppen mit den Eltern und Kindern vertrauensvoll kooperieren und miteinander in einen ko-konstruktiven Prozess treten, um gezielt und verbindlich tragfähige Übergangsszenarien zu entwickeln, die an den heterogenen Bildungsverläufen ansetzen. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass die Eltern – ebenso wie die Kinder – verlässliche Beziehungen zu den beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen brauchen und bereits auf eigene Erfahrungen zurückgreifen können, wenn sie zur Kindertageseinrichtung oder in die Schule kommen.

Je besser es den Pädagoginnen und Pädagogen gelingt, das jeweilige Kind in seinem familialen Lebenskontext zu sehen, den Austausch mit den Müttern und Vätern zu gestalten sowie die Eltern in der Übergangsphase zu begleiten und zu unterstützen, um so eher können die (werdenden) Schülerinnen und Schüler von der Grundschule profitieren. Information und Entwicklungsgespräche auf der Basis einer gleichberechtigten Bildungs- und Erziehungspartnerschaft sind dabei eine wichtige Grundlage zur Gestaltung der Zusammenarbeit. Transparenz über Ziele, Inhalte, Form und Organisation der Kooperation geben den Eltern Orientierung darüber, worauf die Arbeit von Kindertageseinrichtung und Schule im Einzelnen basiert.

Die AGJ unterstreicht den hohen Stellenwert der Zusammenarbeit mit den Familien sowie die Notwendigkeit einer umfassenden Partizipation der Eltern bei der Gestaltung des Übergangs zwischen Kindertageseinrichtung und Grundschule. Sie erachtet es dabei als unerlässlich, gleichberechtigte Bildungs- und Erziehungspartnerschaften, wie sie im Kita-Bereich angewendet werden, weiter zu realisieren und sie in der Schule konsequent fortzusetzen. Zur Begleitung, Bildung und Unterstützung der Eltern ist darüber hinaus die Familienbildung als Schnittstelle zwischen Kindertageseinrichtungen und Grundschulen stärker einzubeziehen. Die bisherigen Aktivitäten einer verstärkten Zusammenarbeit mit diesem Bildungsbereich in Familienzentren und an (Ganztags-)Schulen sollten weiter ausgebaut und auch im Hinblick auf die Gestaltung der Übergangssituationen genutzt werden.


Strukturen herstellen – Kooperationskultur aufbauen

Die Zusammenarbeit zwischen Kindertageseinrichtung und Grundschule sowie die Gestaltung der Übergangsphase erfordert den Aufbau geeigneter Strukturen und die Schaffung einer angemessenen Kooperationskultur. Die Kooperation kann nur erfolgreich sein, wenn jenseits der einzelnen Bildungseinrichtung förderliche Rahmenbedingungen auf lokaler und überregionaler Ebene zur Verfügung gestellt und finanziell abgesichert werden.

Auf der Ebene der Bildungseinrichtungen erfordert die gelingende Gestaltung des Übergangs zwischen Kindertageseinrichtung und Grundschule die frühzeitige und kontinuierliche Zusammenarbeit aller Beteiligten, bei der die Mitwirkung und Unterstützung der Eltern (nicht erst im letzten Kindergartenjahr) unabdingbar sind. Um eine tragfähige und längerfristig angelegte Kooperation von Kinder- und Jugendhilfe und Schule zu fördern, haben sich, neben gemeinsamen Projekten, Kooperationsverträge zwischen Kindertageseinrichtung und Grundschule als hilfreich erwiesen. Notwendig sind aber auch aufeinander aufbauende, abgestimmte Bildungs- und Lehrpläne, die von den sozialpädagogischen Fachkräften und den Lehrerinnen und Lehrern gemeinsam weiter gestaltet und als verbindliche Grundlage der Zusammenarbeit genutzt werden können. 

Aus Sicht der AGJ ist die Verbesserung der sächlichen und vor allem personellen Rahmenbedingungen in den beteiligten Institutionen eine wichtige Voraussetzung für die gemeinsame Bildungsarbeit. Hierzu gehört auch die Herstellung von Gruppen- und Klassenstärken, die es den sozialpädagogischen Fachkräften und Lehrerinnen und Lehrern bei der Gestaltung der Übergangsphase erlauben, stärker an den individuellen Entwicklungs- und Bildungsprozessen des Kindes anzusetzen sowie diese gemeinsam mit den Eltern zu begleiten und zu unterstützen. Hierfür benötigen die Pädagoginnen und Pädagogen Zeit, um sich auf diese Aufgaben fachlich vorbereiten zu können.


Fachkräfte weiter qualifizieren

Intensität und Qualität der Zusammenarbeit hängt immer auch von den handelnden Personen ab. Erzieherinnen und Erzieher sowie Grundschulpädagoginnen und -pädagogen sind professionelle Lern- und Entwicklungsbegleitende, die in unterschiedlichen Ausbildungssystemen an Fachschulen/-akademien und Hochschulen qualifiziert werden. Um bereits im Vorfeld der Zusammenarbeit die Voraussetzungen für eine stärkere inhaltliche und personelle Verzahnung zwischen den beiden Bildungsbereichen zu verbessern, sollte das Thema „Übergang zwischen Kindertageseinrichtung und Grundschule“ schon in der Erzieherinnen- und Grundschul-lehrerausbildung fest verankert werden. Hierbei ist die Auseinandersetzung mit dem spezifischen Beitrag der Kinder- und Jugendhilfe und der Primarpädagogik zu Bildung und Erziehung, zu ihren Gemeinsamkeiten und Differenzen an den unterschiedlichen Lernorten gleichermaßen zu intensivieren, um den Schülerinnen, Schülern und Studierenden die Schnittstellen der verschiedenen Bildungsbereiche zu verdeutlichen und auf diese Weise zu gegenseitigem Respekt, höherer Wertschätzung und einem gemeinsamen Grundverständnis von Bildung beizutragen.

Die Kooperation zwischen Kindertageseinrichtungen und Grundschulen und die Gestaltung der Übergangsphase setzen aus Sicht der AGJ erweiterte fachliche und methodische Kompetenzen voraus, die in Ausbildung und Studium stärker vermittelt und im Rahmen von Fort- und Weiterbildung vertieft werden sollten. Gemeinsame Weiterbildungsveranstaltungen zwischen Fachkräften aus Kindertageseinrichtungen und Grundschulen (z.B. „Tandemfortbildungen“) müssen konzeptionell weiter entwickelt und ausgebaut werden, um die beidseitigen Verständigungs- und Kommunikationsprozesse sowie eine gleichgewichtige Kooperation zu fördern, anschlussfähige Bildungskonzepte zu erarbeiten und die Voraussetzungen für die gemeinsame Bildungsarbeit zu schaffen. Zusätzlich zu gemeinsamen Modulen in der Ausbildung bilden gegenseitige Hospitationen und Fachkräfteaustausch, Supervision zur Verbesserung der Kommunikationsstrukturen, die Begleitung des Kooperationsprozesses oder gemeinsamer Projekte durch Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sowie Weiterbildnerinnen und Weiterbildner (z.B. in Form prozessunterstützenden Coachings) Ansatzpunkte zur Qualifizierung der sozial- und schulpädagogischen Fachkräfte und eines gelingenden Übergangs.


Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 02./03. Dezember 2010

 

[1] vgl. hierzu etwa Griebel W./Niesel, R: Forschungsergebnisse und pädagogische Ansätze zur Ausgestaltung des Übergangs vom Kindergarten zur Grundschule. In: Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Auf den Anfang kommt es an: Perspektiven für eine Neuorientierung frühkindlicher Bildung, Berlin 2007, S. 191-251.
[2] Im Folgenden wird unter den Begriff der sozialpädagogischen Fachkraft gefasst: Erzieherinnen und Erzieher, Elementarpädagoginnen und -pädagogen; BA-/MA-Absolventinnen und -Absolventen, Sozialarbeiterinnen und -arbeiter, Sozialpädagoginnen und -pädagogen, Diplom-Pädagoginnen und -Pädagogen.