Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe zu den gemeinsamen Herausforderungen von Schule und Jugendhilfe bei der Umsetzung des Investitionsprogramms „Zukunft Bildung und Betreuung“

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Die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ) begrüßt das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“, mit dem die Bundesregierung den Anstoß für die Schaffung bedarfsorientierter Angebotsstrukturen und die qualitative Weiterentwicklung im Ganztagsschulbereich gibt. Das Programm eröffnet die Chance zur Qualitätsverbesserung unseres Bildungssystems und zur Qualifizierung künftiger Generationen. Die Gestaltung einer modernen Infrastruktur und die Stärkung kindlicher Bildungsprozesse sind wichtige politische Aufgaben der Zukunft, mit denen neue Wege zur Unterstützung und Förderung von Kindern und Familien erschlossen werden.

Basierend auf den Empfehlungen des AGJ-Fachausschusses „Kindheit, Familie, Deutsches Natio- nalkomitee für frühkindliche Erziehung“, die in Kooperation mit dem AGJ-Fachausschuss „Jugend, Bildung, Beruf“ entwickelt wurden, hat sich der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe mit der Umsetzung des Investitionsprogramms „Zukunft Bildung und Betreuung“ auseinandergesetzt.

Die AGJ unterstützt den Vorstoß der Bundesregierung zum quantitativen und qualitativen Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen und Ganztagsangeboten an Schulen in Ost- und Westdeutschland als wichtigen Schritt zur Verbesserung unseres Bildungssystems. Nach den Empfehlungen des Forums Bildung ist es erforderlich, Ganztagsangebote an allen Schulformen und in zumutbarer Entfernung für alle Kinder zu schaffen, die unter methodischen, erzieherischen sowie zeitlich-organisatorischen Aspekten erheblich zur notwendigen Qualitätsverbesserung der schulischen Bildung beitragen.

Entscheidend für den Erfolg des Programms der Bundesregierung sind jedoch der Rückgriff auf bestehende pädagogische Konzepte und eine angemessene personelle Ausstattung seitens der zuständigen Länder. Die AGJ geht davon aus, dass sich die Entwicklung der Schule zu ganztägigen Lern- und Lebensräumen zunehmend an Zielen, Inhalten, Lernformen und Methoden der Jugendhilfe ausrichten muss.

Dies erfordert auch eine systematische und rechtlich verbindliche partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendhilfe. Voraussetzung hierfür ist, dass die im KJHG enthaltene Verpflichtung für die Jugendhilfe, mit anderen gesellschaftlichen Bereichen zu kooperieren, auch für den schulischen Bereich rechtlich verbindlich ausgestaltet werden sollte. Bislang haben erst einige Länder entsprechend notwendige Verpflichtungen in ihren Landesschulgesetzen festgeschrieben. Es sollten daher alle Länder diese Verpflichtung zur Kooperation in ihren entsprechenden Gesetzen aufnehmen.

Die  AGJ  plädiert  mit   großem   Nachdruck   dafür, neue Ganztagsschulen und Ganztagsangebote an Schulen nicht überstürzt und durch Anordnung einzurichten, sondern sie sorgfältig und un- ter Einbeziehung aller Beteiligten und unter Berücksichtigung der pluralen Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe zu entwickeln.


1. Pädagogische Konzeptionen gemeinsam entwickeln und erproben

In der Ganztagsschule wird die klassische Arbeitsweise des lehrplanbezogenen Unterrichts verän- dert und erweitert um Angebote der Freizeitgestaltung, der Erziehung und Betreuung. Es gibt mehr Zeit für Bildung in Projekten, in altersgemischten Gruppen und für besondere Zielgruppen, vor allem auch für benachteiligte Kinder und Jugendliche. Wie die inhaltliche, zeitliche und räumliche Gliederung des Lernens über den ganzen Tag verteilt wird, muss unter Beteiligung der Pädagoginnen und Pädagogen sowie der Schülerinnen und Schüler und deren Eltern verabredet und erprobt werden. Ganztagsangebote für Kinder und Jugendliche müssen nicht nur an dem Ort der Schule angesiedelt sein, sondern sollten auch andere Lernorte und Erfahrungsfelder mit umfassen. Die zentrale Frage muss lauten: Wie konzipieren und gestalten wir für Kinder, Jugendliche und Familien ein neues und besseres Bildungs-, Betreuungs-, und Erziehungsangebot? Die Konzeptionsentwicklung nur als Frage der Schulentwicklung zu begreifen, wäre zu kurz gedacht. Es geht um eine neue Qualität einer umfassenden und lebensweltorientierten Pädagogik, indem Unterricht und Freizeit, formelle, nichtformelle und informelle Bildung miteinander verwoben werden.

Die AGJ fordert, die Erfahrungen und Angebote der Träger der freien und öffentlichen Jugendhilfe in die pädagogische Konzeptentwicklung und Gestaltung der Ganztagsschule und der Ganztagsangebote an Schulen einzubeziehen. Ein qualifiziertes Ganztagsangebot, das Lern-, Förder- und Freizeitangebote als Gesamtkonzept integriert, eröffnet die Möglichkeit, Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Hierbei sind vorliegende wissenschaftliche Erkenntnisse und konzeptionelle Ansätze aus Forschungs- und Modellprojekten zu berücksichtigen.


2. Kooperationen von Schule und Jugendhilfe verbindlich regeln

Das neue Ganztagsangebot ist, auch wenn es überwiegend am Ort der Schule angesiedelt ist, keine ausschließlich schulische Einrichtung, zu der von Fall zu Fall andere Personen und Organisationen hinzugezogen werden. Es beruht auf einem abgestimmten, gemeinsam entwickelten Konzept der Kooperation von Schule und Jugendhilfe. Die Jugendämter und die Träger der freien Jugendhilfe sollten in die Arbeit der Schulmitwirkungsgremien einbezogen werden. Auch kann nicht der einzelnen Schule oder dem Schulträger alleine überlassen werden, wie und mit welchen Kooperationspartnern sie ihr Ganztagsangebot entwickelt. Hier kann eine entsprechende Verankerung in Schulmitwirkungsgesetzen helfen.

Die AGJ sieht in dem Abschluss von Rahmenvereinbarungen zwischen allen Beteiligten eine wichtige Grundlage für das gemeinsame pädagogische Handeln. Hierzu zählen auch Verab- redungen über fachliche Standards. Um dies erreichen zu können, sollten die Kommunen ihre Koordinierungsfunktion zur Entwicklung und Steuerung von Ganztagsangeboten wahrneh- men und den gemeinsamen Schulentwicklungs- und Jugendhilfeplanungsprozess vorantreiben, organisieren und die Entscheidungen insbesondere mit Blick auf die Eltern transparent machen.


3. Pädagogische Professionen neu definieren

Der Ausbau von Ganztagsschulen und der Ganztagsangebote an Schulen ist auch eine Herausforderung für die in Schule und Jugendhilfe beschäftigten Pädagoginnen und Pädagogen.

Für Lehrerinnen und Lehrer bedeutet er u.a. andere Präsenzzeiten an der Schule, für das Personal der Jugendhilfe wird die Schule zum Arbeitsplatz. Beide Gruppen sind gefordert, im Interesse der Kinder und Jugendlichen zusammen zu arbeiten. Damit diese Zusammenarbeit gelingt, muss gegenseitiges Vertrauen in die jeweilige professionelle Kompetenz der beiden Berufsgruppen entstehen.

Die AGJ empfiehlt, an Schulen, die ein Ganztagsangebot in Kooperation von Schule und Jugendhilfe aufbauen wollen, den beteiligten Teams, zumindest in der Anfangszeit, eine externe Begleitung und Beratung zu ermöglichen. Fortbildungsangebote sind weiter zu entwi- ckeln und dabei insbesondere interdisziplinär auszurichten.

Jede/r Berufsangehörige muss diejenigen Qualifikationen und Kompetenzen in vollem Umfang ein- setzen können, die ihre/seine Profession ausmachen. Dabei ist zu beachten, dass die Berufsgruppen, insbesondere die sozialpädagogischen Professionen und Lehrerinnen und Lehrer zur Gewährleistung der Arbeitsqualität angemessene Arbeitsbedingungen je nach den spezifischen Rahmenbedingungen ihrer Tätigkeit vorfinden.


4. Qualität evaluieren

Zur Qualitätssicherung und Weiterentwicklung der Qualität der Ganztagsschulen und der Ganztags- angebote an Schulen ist es erforderlich, die Strukturen und Prozesse der pädagogischen Arbeit in regelmäßigen Abständen zu evaluieren. Dabei können sich themen- und zielgruppenspezifische Reflexionen mit Gesamtberichterstattungen abwechseln.

Die AGJ empfiehlt, im Zusammenhang mit der Erarbeitung „Nationaler Bildungsstandards“ für Ganztagsschulen und der Ganztagsangebote an Schulen Anforderungen, die sich aus dem besonderen pädagogischen Profil dieser Schulform ergeben, zu berücksichtigen, wie sie z.B. bereits im Rahmen der „Nationalen Qualitätsinitiative im System der Kindertageseinrichtungen“ erprobt werden.


5. Finanzierung dauerhaft absichern

Die vom Bund für die Jahre 2003 bis 2007 zugesicherten 4 Milliarden Euro erlauben Investitionen für die Errichtung neuer und - vor allem in den neuen Bundesländern – für den qualitativen Ausbau bestehender Ganztagsschulen und der Ganztagsangebote an Schulen. Die Länder, Gemeinden und Träger haben darauf hingewiesen, dass die Frage der Personalkosten wie auch der Folgekosten ungeklärt ist. Diese Unsicherheit darf nicht dazu führen, dass der personelle Ausbau auf unterstem finanziellen Niveau mit befristeten Arbeitsverhältnissen begonnen wird. Mit baulichen Investitionen, die in 4 Jahren wegen fehlender Folgefinanzierung nicht mehr genutzt werden können, ist niemandem gedient.

Die AGJ fordert deshalb, bereits jetzt Vereinbarungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden zur Ganztagsschulfinanzierung zu treffen.

Bei einer Integration von  Angeboten  der  Jugendhilfe  in  die  Ganztagsschule  muss  sicher gestellt werden, dass es allen Kindern und Jugendlichen, unabhängig von der finanziellen Lage ihrer Eltern, ermöglicht wird, die Ganztagsschule und die Ganztagsangebote an Schulen in vollem Umfang zu besuchen. Solange diese Angebote noch nicht kostenfrei zur Verfügung

gestellt werden, müssen Möglichkeiten, wie differenzierte Elternbeiträge und Beitragsbefreiungen für die außerunterrichtlichen Angebote genutzt werden.


6. Belange von Eltern, Kindern und Jugendlichen berücksichtigen

Die AGJ weist ausdrücklich darauf hin, dass Kinder, Jugendliche und Eltern in die Bedarfsermittlung einzubeziehen sind und dass Bedarf sich nicht im zeitlichen Umfang des Bildungs-, Betreu- ungs- und Erziehungsangebots gemäß den Arbeitszeiten von Eltern erschöpft. Hauptkriterium für ein bedarfsgerechtes Angebot sind in erster Linie die Bildungs- und Freizeitinteressen der Kinder. Orte für Schulkinder müssen sich als Anlaufstelle für die Belange von Kindern und Jugendlichen eignen, sie müssen Raum und Unterstützung für die Entwicklung einer Kultur bieten, die die Kinder und Jugendlichen selbst gestalten. Es sollten altersgerechte Kinderwelten sein, die Kindern und Jugendlichen ermöglichen, entsprechend ihren Bedürfnissen und ihrem Entwicklungsstand ein- und auszugehen und gleichzeitig Eltern die Sicherheit geben, dass ihre Kinder verlässlich betreut und in ihrer Entwicklung gefördert werden.

Die AGJ empfiehlt, dass Ganztagsschulen und Ganztagsangebote an Schulen als Bildungs-, Begegnungs- und Freizeitorte konzipiert werden. Bei den jeweils anstehenden Planungsprozessen und Entscheidungen auf der kommunalen Ebene sind die Belange von Kindern, Jugendlichen und Eltern stärker zu berücksichtigen. Dazu bedarf es verbindlicher Strukturen und Formen der Partizipation von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern. Bei der Ausgestaltung der Ganztagsschulen und der Ganztagsangebote an Schulen sind sie in die Bedarfsermittlung einzubeziehen und in allen Phasen der sozialräumlich orientierten Planung frühzeitig zu beteiligen. Aus der Perspektive von Eltern und Schulkindern ist es unerlässlich, dass sie an einem ausgewiesenen Ort transparent über das Angebotsspektrum beraten und über die Anmeldeverfahren informiert werden.


Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe Berlin