Können Jugendhilfeforschung, Sozialberichterstattung und Jugendhilfeplanung einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit leisten?

Diskussionspapier des AGJ-Fachausschusses „Qualifizierung, Forschung, Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe“

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Problemlage

Soziale Gerechtigkeit durch politische Entscheidungen herbeizuführen, psychosoziale Unterstützungssysteme bereit zu halten sowie allgemein einen bedarfsgerechten Ausbau von sozialen und kulturellen Infrastrukturen herzustellen, scheint in modernen Gesellschaften den staatlichen und intermediären Organisationen immer weniger zu gelingen. Das gilt sowohl für den gesamtstaatlichen Rahmen wie auch, in unterschiedlichem Ausmaß, für die regionale Ebene. Das Armutsrisiko selbst für Mittelschichtangehörige steigt (vgl. Vogel 2004) und die Arbeitslosenquote verharrt auf hohem Niveau. Bezogen auf Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Familien zeigen sowohl nationale Erhebungen und Berichte als auch internationale Vergleiche (UNICEF 2005), dass der Anteil an Kindern, die in Deutschland unter finanziellen Armutsbedingungen aufwachsen, für eine der sozialen Verantwortung sich verpflichtet fühlende Gesellschaft erschreckend hoch ist. Vor diesem Hintergrund haben sich die Mitglieder des AGJ-Fachausschusses „Qualifizierung, Forschung, Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe“ mit der Frage auseinander gesetzt, inwiefern Jugendhilfeforschung, Sozialberichterstattung und Jugendhilfeplanung ganz allgemein sowie speziell bezogen auf die Lebenssituation von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit leisten kann.

Aufklärung über soziale Lagen – die Funktion von Jugendhilfeforschung und Sozialberichterstattung in der politischen Entscheidungsfindung

Mit der Trias Jugendhilfeforschung, Sozialberichterstattung und Jugendhilfeplanung werden drei unterschiedliche, jedoch eng miteinander verbundene Aspekte von Steuerung angesprochen. Jugendhilfeplanung regt zu spezifischen Forschungsfragen an und basiert unter anderem auf den Ergebnissen von Jugendhilfeforschung und Sozialberichterstattung. Jugendhilfeplanung ist demgegenüber Teil der fachlichen und politischen Bewertung von Forschungsergebnissen vor Ort und damit Grundlage für Entscheidungen, welche die Erreichung des Ziels der sozialen Gerechtigkeit näher oder auch in weite Ferne rücken lassen.

Im Folgenden wird vor allem der Beitrag der Sozialberichterstattung und der Jugendhilfeforschung betrachtet. Diese können als solche keine soziale Gerechtigkeit herstellen, denn Sozialberichterstattung ist ihrem paradigmatischen Kern nach beschreibend und nicht ge-
staltend. Somit bedarf es zum Erreichen sozialer Gerechtigkeit politischer Entscheidungen und Festlegungen, beispielsweise durch die Steuerpolitik, durch die politische Festlegungen zur Zahlung von Transferleistungen, durch die Sozialgesetzgebung oder das Arbeitsrecht, und somit auch der Konkretisierung des grundgesetzlich verankerten Grundsatzes „Eigentum verpflichtet“. Sozialberichterstattung per se beinhaltet keine Möglichkeit, strukturelle Bedingungen auszuhebeln, die soziale Ungerechtigkeit und deren Folgen hervorbringen.

Gleichwohl sollte Soziale Gerechtigkeit als „sinnstiftende Utopie“ für die Jugendhilfeforschung und -planung sowie Sozialberichterstattung nicht vergessen werden, zumal dann, wenn über diese planerischen und beobachtenden Instrumente empirische Befunde sowie empirisch und theoretisch abgesicherte respektive begründete Prognosen gewonnen werden, die die Grundlagen für strukturbildende Entscheidungen liefern  und damit dazu beitragen, soziale Ungleichheiten zuvergrößern oder auch zu verringern. Damit Sozialberichterstattung[1] dieses Ziel erreichen kann, bedarf es Forschungsstrategien, forschungsethischer Grundsätze und der Selbstverpflichtung, die die Seriosität und Plausibilität für den Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in Politik und Praxis sichern.

Neben den der Sozialberichterstattung immanenten Schwierigkeiten, sich auf die Frage sozialer Gerechtigkeit auszurichten, besteht auch die Herausforderung, die Frage nach sozialer Gerechtigkeit in den Fokus der öffentlichen Diskussion zu rücken. Dies ist zu leisten angesichts eines gesellschaftlichen Klimas, in welchem soziale Risiken eher als individuelles denn als ein strukturelles Probleme begriffen werden (vgl. Vogel 2004; Kessl/Otto 2005), das ist bedeutsam wie kompliziert angesichts des Paradigmenwechsel vom “sorgenden“ zum „gewährleistenden“ Staat. Wie schwer sich Sozialberichterstattung damit tut, öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen, verdeutlicht allein die eher geringe Resonanz, die gegenwärtig der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung oder die internationale Vergleichsstudien zur Kinderarmut im Kontrast etwa im Vergleich mit der Rezeption der PISA-Studie genießt. Im Diskussionspapier zum 12. Deutschen Jugendhilfetag “LEBEN LERNEN“ konkretisierte die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe ihre diesbezügliche Position, indem sie der Herstellung von sozialer Gerechtigkeit für das Aufgabenfeld der Jugendhilfe eine hohe Bedeutung zuschrieb. Von den ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen, die Kinder und Jugendliche in ihren Familien und in ihrer Umgebung vorfinden, hängt nach wie vor wesentlich ab, wie Kinder und Jugendliche aufwachsen und welche Chancen sich ihnen eröffnen. Soziale Ressourcen konkretisieren sich insbesondere in der für das Aufwachsen unerlässlichen „Für-Sorge“. Sorgetätigkeit – „care“ – wird vielfach nicht als besonders wertvolle Ressource wahrgenommen, da sie als quasi selbstverständliche, überwiegend von Frauen erwartete Leistung erbracht wird und im deutschen Sprachgebrauch eine eher konservative Werteorientierung suggeriert. Demgegenüber wird hier unter Fürsorge die engagierte Sorge um den Nächsten und um das lebensweltliche Netzwerk verstanden, die ihren Stellenwert zuweilen erst dann offenbart, wenn sie „versagt“ und die Kultur des Sorgens implodiert (vgl. Brückner/Thiersch 2005).

Weiterentwicklung der Jugendhilfeforschung und Anforderungen an die Sozialberichterstattung

Aus der Perspektive der Mitglieder des Fachausschusses ergeben sich aus den skizzierten Überlegungen eine Reihe von Anforderungen an die Weiterentwicklung der Jugendhilfeforschung und der Sozialberichterstattung, der sich auf die Lebenssituation von Kindern, Jugendlichen und Familien bezieht.

1. Die bisher mehr oder weniger unverbunden nebeneinander stehenden Einzelberichte und Studien, beispielsweise zur Gesundheitssituation von Kindern, zur Armut, zum Jugendhilfebedarf, zu Bildungschancen, zu beruflichen Chancen, zur Mobilität, zu Gewalterfahrungen, zu Genderfragen, zu gesellschaftlichen Teilhabechancen sollten zukünftig deutlicher und systematischer aufeinander bezogen werden, um Problemlagen in ihrem vollen Umfang angemessen beschreiben zu können.

2. Die inzwischen in vielen Studien nachgewiesene regionale Disparität sowohl hinsichtlich der Bedingungen des Aufwachsen im Allgemeinen (vgl. Alt 2005) als auch im Hinblick auf die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe im Speziellen (vgl. van Santen u. a. 2003) zwingt dazu, Sozialberichterstattung und Jugendhilfeforschung sowohl kleinräumig, also auf der Ebene von Kommunen oder gar einzelnen Quartieren, als auch überregional und regional vergleichend durchzuführen. Zur Verdeutlichung der Notwendigkeit eines solchen Vorgehens sei hier auf die Auswirkungen demographischer Veränderungen hingewiesen. Nicht nur in den neuen Bundesländern gibt es das Phänomen der schrumpfenden Städte und Regionen. Auch in den westlichen Bundesländern sind etliche Regionen von den Folgen der demographischen Entwicklung betroffen. Eine Abnahme der Bevölkerungszahlen insgesamt und der Anzahl von Kindern und Jugendlichen birgt gegenwärtig massiv die Gefahr eines Abbaus von Infrastruktur in sich, wie die Pläne zur Schließung von Schulen in Sachsen anzeigen. Die Auswirkungen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien wären dementsprechend gravierend.

3. Die Entwicklung und der Ausbau einer Längsschnittperspektive ist für die Beurteilung, inwiefern die Versuche erfolgreich waren, ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit zu erreichen, weiterhin erforderlich. Erst durch eine Einordnung beobachtbarer Verteilungen von Teilhabechancen, finanziellem Wohlstand oder beispielsweise von Gesundheitsbelastungen lassen sich Trends zum „Besseren“ oder „Schlechteren“ beschreiben. Damit längsschnittorientierte Auswertungen möglich werden, muss Forschung auch weiterhin unabhängig von tagespolitischen Schwerpunktsetzungen operationalisiert werden können. Ansonsten ist zu befürchten, dass es zukünftig keine methodisch sinnvoll auswertbaren Datenreihen mehr geben wird. Insofern sind auch Initiativen zu einer Vereinheitlichung der Datenerfassung in der Kinder- und Jugendhilfe im Kontext der Bemühungen zur Vereinfachung der Sozialberichterstattung überaus hilfreich, zumal dann, wenn sie eine regionalspezifische – und damit planungsrelevante – Kontextualisierung erfahren.

4. In den Projekten der Kinder- und Jugendhilfeforschung selbst sollten vor dem Hintergrund der hier beschriebenen Erwartungen

  • die Akzentuierung des sozialpolitischen Charakters und der  sozialpolitischen Auswirkungen der Bildungspolitik, in dem die Reproduktion sozialer Ungleichheit durch das Bildungssystem und die Möglichkeiten der Sensibilisierung für und der Abschwächung von solchen Effekten untersucht und bearbeitet werden,
  •  die Auswirkungen des oben angesprochenen Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik auf die Jugendhilfe,
  • der Stellenwert von „Sorgetätigkeit“, und hierbei insbesondere im Zusammenhang mit der Qualifikation des Personals und der ihm entgegengebrachten Wertschätzung,
  • die Bedeutung der Infrastrukturangebote der Kinder- und Jugendhilfe als wichtiger Einflussfaktor auf das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen und
  • die Evaluation von Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe – insbesondere im Hinblick       auf ihre langfristigen Effekte –

eine stärkere Beachtung und Berücksichtigung erfahren, zumal dann, wenn diese sich der Realisierung von mehr sozialer Gerechtigkeit verpflichtet fühlen.


Hannover, Juni 2005


Literatur

[1]    Hierzu werden in diesem Zusammenhang auch alle empirischen Erhebungen bzw. sekundäranalytischen Auswertungen im Kontext der lokalen und überregionalen Sozialplanung gezählt.
Christian Alt (Hrsg.) (2005): Kinderleben - Aufwachsen zwischen Familie, Freunden und Institutionen. Bd. 1: Aufwachsen in Familien. Wiesbaden.
Margrit Brückner/Hans Thiersch (2005): Care und Lebensweltorientierung. In: Werner Thole u.a. (Hrsg.) (2005): Soziale Arbeit im öffentlichen Raum. Wiesbaden, S. 137-150.
Fabian Kessl/Hans-Uwe Otto (2005): Soziale Arbeit angesichts neo-sozialer Transformation: In: Werner Thole u.a. (Hrsg.) (2005): Soziale Arbeit im öffentlichen Raum. Wiesbaden, S. 55-62.
Eric van Santen/Jasmin Mamier/Liane Pluto/Mike Seckinger/Gabriela Zink (2003): Kinder- und Jugendhilfe in Bewegung - Aktion oder Reaktion? Eine empirische Analyse. München.
UNICEF (2005): Child Poverty in Rich Countries. Innocenti Report Card No.6. UNICEF Innocenti Research Centre. Florence.
Vogel,    Bernhard    (2004):    Nachmittag    des    Wohlfahrtsstaats.    Zur    politischen    Ordnung gesellschaftlicher Ungleichheit. In Mittelweg 2004, Heft 4, S. 36-55.