Entwurf eines Gesetzes zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau der Tagesbetreuung und zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (Tagesbetreuungsausbaugesetz – TAG)

Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe

Stellungnahme als PDF


Vorbemerkung:

Die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ) begrüßt die konkreten Regelungen der Bundesre- gierung in dem Gesetzentwurf zum Tagesbetreuungsausbaugesetz vom 14. Juli 2004 für eine seit langem auch von der AGJ geforderte quantitative und qualitative Weiterentwicklung im Bereich der frühen Kindheit. Insbesondere die angestrebte Erweiterung des Platzangebotes für Kinder unter drei Jahren wird unterstützt. Die Neuregelungen sind ein wichtiger Beitrag für ein bedarfsgerechtes Angebot der Bildung, Erziehung und Betreuung für Kinder. Allerdings muss die unterschiedliche Behandlung bestimmter Altersgruppen bei der Zugangsberechtigung für vorhandene und neue Angebote langfristig ebenso wie die Vergabe nach Bedarfskriterien, die die Eltern eines Kindes betreffen und im Wesentlichen an arbeitsmarktpolitischen Erfordernissen ausgerichtet sind, überwunden wer- den, um eine ganzheitliche Bildung, Erziehung und Betreuung aller Kinder zu erreichen.

Bedeutsam für den weiteren fachlichen Diskurs des Tagesbetreuungsausbaugesetzes ist die Sicherstellung einer verlässlichen Finanzierungsgrundlage, mit der die mit der Umsetzung der Neurege- lungen verbundenen Mehrkosten aufgebracht werden können. Hier bedarf es einer dauerhaften Finanzierungsabsicherung seitens der Bundesregierung für die auf der kommunalen Ebene entstehenden Kosten.

Mit Blick auf die Passagen des Regierungsentwurfes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe stellt die AGJ fest, dass sie im Rahmen der hier vorgelegten Stellungnahme nur eine Be- wertung des Regierungsentwurfes zum Tagesbetreuungsausbaugesetz vornimmt. Die verschiedenen weitergehenden Bundesratsinitiativen, der Entschließungsantrag der Länder Nordrhein-Westfalen und Bayern sowie der Mehrheitsbeschluss der Jugendministerkonferenz (JMK) vom 13./14. Mai 2004 zum TAG werden in der vorgelegten AGJ-Stellungnahme nicht berücksichtigt.


1. Qualitätsorientierter und bedarfsgerechter Ausbau der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in Tagespflege

In der Begründung des Gesetzentwurfs wird die Notwendigkeit betont, Lücken im Leistungsangebot der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere im Bereich der Tagesbetreuung von Kindern zu schließen. Der Schwerpunkt des Gesetzentwurfs liegt entsprechend auf der Konkretisierung der Leistungen zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Tagespflege (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 i. V. m. §§ 22 bis 26 SGB VIII).

Aus Sicht der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe stellt der Ausbau eines verlässlichen und be- darfsgerechten Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsangebotes für Kinder von 0 bis 14 Jahren ei- ne vordringliche politische Aufgabe dar. Wichtigster Baustein einer differenzierten Infrastruktur für Eltern und Kinder ist die Überwindung des bisherigen quantitativen Versorgungsdefizits für unter Dreijährige in Kindertageseinrichtungen. Hier sind entsprechende Angebote, insbesondere in den Kommunen der alten Bundesländer, häufig unzureichend und regional sehr unterschiedlich ausgeprägt und die seit 1991 im SGB VIII enthaltene Verpflichtung, auch für Kinder unter drei Jahren ein bedarfsgerechtes Angebot vorzuhalten, noch nicht erfüllt.

Die AGJ betont jedoch ausdrücklich, dass die Erweiterung des Platzangebotes in Kindertageseinrichtungen nicht zu Lasten der bestehenden Kapazitäten in den neuen Bundesländern gehen darf, in denen die Angebotssituation für diese Altersgruppe nach wie vor ausgebauter und dichter ist als in den alten Ländern. Es ist notwendig, den Bestand an Einrichtungen zur Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern unter drei Jahren zu erhalten und gegebenenfalls auszubauen – unter anderem auch wegen der wieder ansteigenden Geburten.

Die AGJ teilt die Sichtweise der Bundesregierung, dass eine quantitative Erweiterung des Platzangebotes auch aus familien-, frauen- und beschäftigungspolitischen Gründen dringend erforderlich ist, da das Versorgungsdefizit insbesondere die Arbeitsmarktperspektiven der Mütter belastet, die aufgrund der fehlenden und zum Teil zeitlich unzureichend angelegten Angebote keine geeignete Beschäftigung finden oder ihre Erwerbstätigkeit reduzieren bzw. beenden müssen. Ebenso werden ihnen der Wiedereinstieg und die Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen erschwert. Dennoch hat sich ein bedarfsgerechtes Angebotssystem aus Sicht der AGJ primär am Wohl des Kindes und an dessen Recht auf Bildung und ganzheitliche Förderung zu orientieren. Die Vergabe von Plätzen an- hand von Bedarfskriterien, die primär an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes orientiert sind, ist perspektivisch abzulehnen. Nach dem TAG ist zentrales Kriterium für die Inanspruchnahme eines pädagogischen Angebotes für Kinder unter drei Jahren die Erwerbstätigkeit beider Elternteile oder des alleinerziehenden Elternteils und gibt damit dem Betreuungsbedarf Vorrang vor Bildung. Diese Regelung kann daher, mit Blick auf die, auch vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geforderte Einheit von Bildung, Erziehung und Betreuung, allenfalls eine Übergangsregelung sein.

Der notwendige Ausbau des Platzangebotes im Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsbereich soll nach den Regelungen des TAG parallel durch institutionelle Angebote und die Tagespflege erfol- gen. Es ist beabsichtigt, die Pflege durch Tagesmütter und -väter mit einer qualitativen Weiterent- wicklung und der Anbindung an die Jugendämter aufzuwerten und zu einem gleichrangigen Angebot zu machen.

Die im TAG enthaltenen Bestrebungen, die Tagespflege zu qualifizieren, sind zu begrüßen. Zugleich gilt es aber, auf Qualitätsunterschiede zwischen der Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen und der Betreuung und Erziehung im Rahmen der Tagespflege hinzuweisen. Dies liegt an der derzeitig höchst unterschiedlichen Qualität in der Tagespflege, die sehr stark von der jeweiligen Betreuungssituation und den individuellen Ressourcen der Tagesmütter bzw. -väter abhängt.

Zur Weiterentwicklung der Tagespflege sieht das TAG des Weiteren vor, dass die Jugendämter selbst laufende Geldleistungen an die Tagespflegepersonen zahlen, deren Höhe nicht bundeseinheit- lich festgelegt wird. In diesen Geldleistungen sollen, neben dem Sachaufwand für das zu betreuende Kind und der Anerkennung der Erziehungsleistung der Tagespflegeperson, auch die Kosten einer Unfallversicherung und ein Zuschuss zur Alterssicherung der Tagespflegeperson enthalten sein. Diese Neuregelungen werden von der AGJ grundsätzlich begrüßt, da es sich bei der Tagespflege

zur Zeit um private Dienstleistungsverhältnisse zwischen Eltern und Tagesmüttern bzw. -vätern handelt, die zwar ggf. vom Jugendamt bezuschusst werden, von der Sozialversicherungspflicht jedoch ausgenommen sind.

Problematisch ist aus Sicht der AGJ die in § 22 a SGB VIII enthaltene Verpflichtung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe, anderweitige Betreuungsmöglichkeiten in Ferienzeiten von Tagesein- richtungen und in Ausfallzeiten von Tagespflegepersonen (§ 23 Abs. 4 SGB VIII) bereit zu halten. Mit einer solchen gesetzlich verankerten Verpflichtung, die aus Sicht der AGJ dem Landesgesetz- geber vorbehalten sein und nicht in das SGB VIII aufgenommen werden sollte, wären nicht nur neue Kosten für die Jugendämter, sondern vor allem Schwierigkeiten bei der erforderlichen Be- darfsplanung verbunden. Um Bedarfe der Eltern in Ferien- und Ausfallzeiten Rechnung zu tragen und möglichst kurze Schließzeiten zu gewährleisten, sollten verstärkt Kooperationsvereinbarungen zwischen Einrichtungen im Sozialraum geschlossen werden. Zur Gewährleistung einer kontinuierli- chen Tagespflege ist die Anbindung von Tagespflegepersonen an Einrichtungen der Kindertages- betreuung erforderlich. Ohne eine solche Anbindung sind Ausfallzeiten der Pflegepersonen, insbe- sondere in strukturschwachen Gebieten mit sehr begrenzten Angeboten, nur schwer auszugleichen.

Die AGJ schlägt weiterhin vor, in die Auflistung des § 24 Abs. 3 Nr. 1 a SGB VIII auch schulische Bildungsgänge einzubeziehen.


2. Besserer Schutz von Kindern und Jugendlichen bei Gefahren für ihr Wohl

Mit der Einführung eines § 8 a SGB VIII wird der Schutzauftrag der Jugendämter gegenüber Kindern und Jugendlichen aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes konkretisiert. Die Arbeitsge- meinschaft für Jugendhilfe begrüßt die ausdrückliche Normierung des Schutzauftrages im SGB VIII, durch die die Position des Jugendamtes geklärt wird und die ein sofortiges Tätigwerden auch gegenüber den Personensorgeberechtigten ermöglicht.
Die AGJ schlägt allerdings eine Konkretisierung in § 8 a Abs. 2 SGB VIII vor. Hier sollte klargestellt werden, dass es sich bei den genannten Vereinbarungen um solche nach den §§ 77, 78 b SGB VIII handeln muss. Des Weiteren sollte die Reichweite der Neuregelung und deren Adressatenkreis konkretisiert werden. In den einzelnen Absätzen des § 8 a SGB VIII werden neben den Jugendäm- tern auch die Träger der freien Jugendhilfe und deren Fachkräfte als Adressaten genannt. Diese sol- len nach Abs. 2 sicherstellen, dass ihre Fachkräfte den Schutzauftrag gemäß § 8 a Abs. 1 SGB VIII erfüllen.

Ausdrücklich begrüßt wird die stärkere Berücksichtigung des Kindeswohls beim Sozialdatenschutz (§§ 62-65 SGB VIII). Die erweiterten Möglichkeiten der Informationsbeschaffung in Fällen, in de- nen Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vorliegen, unterstützen die Realisierung des Schutzauftrages des Jugendamtes.

Gegen die Neuregelung der Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen gemäß § 42 SGB VIII und die damit verbundene Aufhebung des § 43 SGB VIII bestehen keine Bedenken. Mit der ange- strebten Änderung werden bisher bestehende Unklarheiten bei der Inobhutnahme beseitigt und die vielfach bereits gängige Praxis in Jugendämtern gesetzlich normiert. Die AGJ regt jedoch im Inte- resse einer einvernehmlichen Hilfeplanung an, in § 42 Abs. 2, S. 1 SGB VIII eine Einbeziehung der Personensorge- oder Erziehungsberechtigten aufzunehmen. Bedenken bestehen jedoch mit Blick auf die Neufassung des § 42 Abs. 4 SGB VIII und die dort geregelte Beendigung der Inobhutnahme nach Nr. 2 (Ende der Inobhutnahme mit Entscheidung über die Gewährung von Hilfen nach dem SGB VIII). Hier sollte klargestellt werden, dass erst mit Einsetzen der konkreten vom Familienge- richt entschiedenen bzw. im Hilfeplanverfahren festgelegten Maßnahme die Inobhutnahme endet.

Zustimmung seitens der AGJ findet die Intention des neu eingeführten § 72 a SGB VIII. Die dort geregelte Sicherstellung der persönlichen Eignung der Fachkräfte ist eine von Fachleuten seit lan- gem geforderte Grundvoraussetzung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen und Diensten der Kinder- und Jugendhilfe.


3. Stärkung der fachlichen und wirtschaftlichen Steuerungskompetenz des Jugendamtes

Mit der Klarstellung in § 27 SGB VIII, dass Hilfen zur Erziehung auch weiterhin im Ausland er- bracht werden können, wenn im Hilfeplan und im Hilfeantrag die besondere Notwendigkeit der Auslandsmaßnahme dargelegt und der Ausschluss geeigneter Hilfen im Inland begründet werden, ist eine Forderung der AGJ im Hinblick auf Hilfen nach § 35 SGB VIII (siehe Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft  für  Jugendhilfe  zu intensivpädagogischen Maßnahmen im Ausland gemäß §35 SGB VIII, November 2003) erfüllt worden. Die AGJ teilt die Sichtweise, dass intensiv- pädagogische Hilfen im Ausland in Einzelfällen die notwendige und geeignete Hilfe darstellen, wenn die besonderen Rahmenbedingungen des Landes (z. B. Infrastruktur und Landschaft) verbun- den mit dem individuellen pädagogischen Konzept die Möglichkeit bieten, Kinder und Jugendliche zu erreichen, bei denen dies in Hilfesettings unter den Rahmenbedingungen des Inlands nicht ge- lingt bzw. gelungen ist. Die AGJ hat daher in ihrer o. g. Stellungnahme konkrete Vorschläge für ei- ne Qualifizierung der Angebote im Ausland gemacht. Für nicht erforderlich wird die in § 36 Abs. 3, S. 1 SGB VIII vorgesehene Einholung einer ärztlichen Stellungnahme vor Gewährung jeder Aus- landsmaßnahme erachtet. Die Notwendigkeit einer ärztlichen Stellungnahme kann und muss bereits nach geltender Rechtslage, insbesondere zur Abgrenzung von seelischer Störung und Krankheit, eingeholt werden, wenn dies im Hilfeplan für den Einzelfall so festgelegt wurde. Die Einführung einer generellen ärztlichen Stellungnahme ist daher nicht erforderlich.

Die Anpassung der Definition der seelischen Behinderung in § 35 a Abs. 1 SGB VIII, an diejenige in § 53 Abs. 2 SGB XII und die konkrete Beschreibung von Funktion und Auftrag der ärztlichen Stellungnahme im Rahmen des Entscheidungsprozesses nach § 35 a SGB VIII werden begrüßt. Die AGJ hat bereits im September 2003 in ihren Empfehlungen zur Anwendung des § 35 a SGB VIII die Entwicklung von Qualitätsstandards, die bei allen Gutachten im Rahmen des § 35 a SGB VIII einheitliche Anwendung finden, gefordert. Es wurde deutlich gemacht, dass die Erstellung dieser Gutachten medizinisch-psychologische, differentialdiagnostische Spezialkenntnisse und ein wissen- schaftliches Testverfahren voraussetzt. Die bisher oftmals sehr schwierige und aufwändige Prüfung, ob eine (drohende) seelische Behinderung bei einem Kind oder Jugendlichen gemäß § 35 a SGB VIII vorliegt, wird durch die o. g. Definitionsanpassung erleichtert.

Zu begrüßen ist ferner die Regelung, dass die Leistung nach § 35 a SGB VIII nicht von der Person, dem Dienst oder der Einrichtung, der die Person angehört, erbracht werden soll, die die Stellungnahme erstellt hat. Insbesondere die sich ausweitende Selbstbeschaffung im Bereich der Teilleis- tungsstörungen wird dadurch erschwert.

Positiv zu bewerten ist insofern auch die Einführung eines § 36 a SGB VIII, mit dem die Selbstbe- schaffung von Leistungen nach dem SGB VIII nunmehr nur noch in Ausnahmefällen möglich sein soll.

4. Kostenbeiträge

Die Änderung des § 90 Abs. 1, S. 2 SGB VIII, die vorsieht, Kostenbeiträge, die für die Inanspruchnahme von Tageseinrichtungen und Tagespflege zu entrichten sind, nach Einkommensgruppen und nach der täglichen Betreuungszeit zu staffeln, wird mit Blick auf die angestrebte gleichwertige pro- zentuale Belastung der Familien bei der Aufbringung des Beitrages im Verhältnis zum Einkommen begrüßt.

Im Regierungsentwurf zu § 91 ff SGB VIII werden gestaffelte Kostenbeiträge für stationäre Hilfen vorgeschrieben, deren Festsetzung nach § 94 Abs. 4 SGB VIII-E durch Rechtsverordnung des zu- ständigen Bundesministeriums bestimmt wird.

Die Vereinfachung des Verfahrens der Beitragsberechnung wird von der AGJ begrüßt. Bei der Um- setzung der Regelungen muss aus Sicht der AGJ zwingend darauf geachtet werden, dass im Ergebnis gewährleistet bleibt, dass jungen Menschen weder notwendige Hilfen aus finanziellen Gründen vorenthalten werden, noch dass Kinder und Jugendliche aus finanziellen Motiven in stationäre Hilfen gebracht werden.

 

Berlin, im August 2004

Arbeitsgemeinschaft für  Kinder-und Jugendhilfe