Jugendgerechte Bildungslandschaften in ländlichen Räumen schaffen

Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

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„‚Aufwachsen auf dem Land‘ – Für viele klingt das nach Idylle, nach Weite und Natur. Andere denken an Krise, an ‚ausgeblutete‘ Orte und Perspektivlosigkeit. Zwischen diesen zwei Polen bewegt sich die Diskussion über ländliche strukturschwache Regionen.“[1]

Das Aufwachsen junger Menschen findet im Rahmen individueller Voraussetzungen, insbesondere aber auch der sozial geprägten Strukturen ihrer Lebenswelt statt. Dieser lebensweltliche Erfahrungshintergrund hängt maßgeblich davon ab, unter welchen regionalen Bedingungen er entsteht. Es macht einen Unterschied in Bezug auf die zur Verfügung stehenden Angebote und Räume für junge Menschen, ob sie auf dem Land oder in der Stadt, in einer strukturschwachen Region oder einer prosperierenden aufwachsen, und wirkt sich somit auch auf die dementsprechenden alltäglichen Möglichkeiten und Herausforderungen aus.

Insbesondere der 15. Kinder- und Jugendbericht [2] hat ein differenziertes Bild der Alltagswelten und Herausforderungen junger Menschen beschrieben und stellt fest: „Bedingungen des Aufwachsens und der sozialen Teilhabe für junge Menschen unterscheiden sich zum Teil deutlich zwischen Ost- und Westdeutschland, städtischen und ländlichen Räumen sowie ökonomisch starken und schwachen Regionen. Dies betrifft zunächst die allgemeine Bedeutung von Jugend sowie den Anteil junger Menschen aus gesellschaftlichen Minoritäten“.[3]

Der Blick auf die Lebenswelten von jungen Menschen und die regionalen Spezifika ihrer Lebenswelten wird jedoch vernachlässigt. Gleichzeitig wird das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen aus einem überwiegend urbanen Blickwinkel betrachtet, und der Fokus auf die Lebenswelt sowie die Perspektiven der jüngeren Bevölkerung auf dem Land beziehungsweise in strukturschwachen Regionen kommen zu kurz.

Ebenso lassen Diskurse über Bedürfnisse und Bedarfe von Jugendlichen in den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe den ländlichen Raum oft außen vor und werden vorwiegend mit Fokus auf den städtischen Raum geführt. Dabei lebt etwa ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland in ländlich geprägten Regionen. Dies sollte Grund genug sein, sich eingehend mit der Frage ihrer Lebensbedingungen und Teilhabechancen auseinanderzusetzen.

Kinder- und Jugendarbeit [4] ist mit ihren außerschulischen Bildungsangeboten, Freizeit- und Gestaltungsmöglichkeiten relevant in Hinsicht auf die Lebensbedingungen und Teilhabechancen junger Menschen. In ländlichen Räumen sieht sich die Jugendarbeit jedoch einem Veränderungsdruck mit Blick auf die Ausgestaltung der Angebotslandschaft gegenüber, der zum Beispiel durch den demografischen Wandel und die Digitalisierung bedingt ist.

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ will mit diesem Positionspapier die besonderen Bedingungen des Aufwachsens in ländlichen Räumen aus einer kinder- und jugendpolitischen Perspektive thematisieren. Ein Augenmerk liegt hier unter anderem auf den Herausforderungen und Potentialen ländlicher Räume und dem Beitrag der Kinder- und Jugendarbeit. Zudem wird das Thema „Bildungslandschaften“ in diesem Kontext fachpolitisch erneut thematisiert und aktualisiert.

Kinder- und Jugendarbeit als Teil von jugendgerechten Bildungslandschaften

Insbesondere Jugendarbeit kann in ländlichen Regionen Orte, (Frei-)Räume und Gelegenheiten bieten, wo junge Menschen sich treffen, Interessen entdecken und Freizeit gemeinsam gestalten können. Als Teil eines funktionierenden Gemeinwesens ist die Jugendarbeit ein wichtiger Akteur non-formaler und informeller Bildung. Jugendverbände und -vereine, offene Jugendtreffs und -zentren, Angebote der kulturellen und der politischen Jugendarbeit sowie im Sport tragen hierzu bei. Jugendarbeit ist somit ein unverzichtbarer Teil von Bildungslandschaften [5] – auch und insbesondere in ländlichen Räumen.

Das Konzept der Bildungslandschaft beruht auf einem erweiterten Bildungsverständnis, das formale, non-formale und informelle Bildungsprozesse miteinander verbindet.[6] Lokale beziehungsweise regionale oder kommunale Bildungslandschaften sind mehr als nur Netzwerke verschiedener Akteure in einer Bildungsregion. Die Bildungslandschaft ist bewusst geplant, gesteuert und langfristig angelegt. Unterschiedliche Bildungsorte und -angebote einer Region (im Sinne eines lokal begrenzten Raumes) sind aufeinander abgestimmt und miteinander verknüpft. Bildungsakteure aus verschiedenen Feldern (Kita und Schule, Jugend-, Kultur- und Sozialbereich) gehen eine Verantwortungsgemeinschaft ein, um diese Koordination zu realisieren und die Angebote und Räume der Bildungslandschaft allen Kindern und Jugendlichen zugänglich zu machen.

An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff Bildungslandschaft tendenziell inflationär eingesetzt und nicht selten für Konstellationen gebraucht wird, die der zuvor beschriebenen Idee nicht oder nur teilweise gerecht werden. In einigen Fällen wird das Bildungsangebot einer Kommune oder Region kurzerhand zur Bildungslandschaft „erklärt“ – ohne dass es Verbindungen oder Kooperationen zwischen den Bildungsorten und -akteuren gibt, oder auch dann, wenn diese nur vereinzelt vorhanden sind. In anderen Fällen bestehen zwar Kooperations- und Vernetzungsprozesse, es fehlt jedoch an einer planvollen, zentralen und langfristigen Steuerung, Zusammenarbeit und Verantwortungsübernahme und an einer Abstimmung der Angebote. Außerdem finden sich Konzeptionen, in denen weniger die Interessen und Bedarfe der Kinder und Jugendlichen im Mittelpunkt stehen als vielmehr Marketinginteressen und Standortfaktoren.[7] Dieses Papier geht hingegen von der Idee der Bildungslandschaft im oben genannten Sinne aus.

Entsprechend müssen jugendgerechte Bildungslandschaften folgenden Kriterien gerecht werden:

Jugendarbeit als Teil von Bildungslandschaften – Akteure in einer Bildungslandschaft sind neben Schule und Kita vor allem Akteure der Kinder- und Jugendhilfe bzw. der Jugendarbeit. Angebote der Jugendarbeit sind somit ein unverzichtbarer Teil von Bildungslandschaften. Hinzu kommen weitere Akteure aus dem Kultur- und Bildungsbereich und aus dem Sport, insbesondere auch Vereine und Initiativen.

Partizipation – Um die Bedarfsgerechtigkeit der Angebote zu gewährleisten, werden Kinder und Jugendliche der Region und ihre Interessenvertretungen kontinuierlich am Entwicklungsprozess und an der Ausgestaltung von Bildungslandschaften beteiligt.

Entwickelte Kooperationsbeziehungen – Akteure sind vernetzt und kooperieren, möglichst verbindlich, also vertraglich fixiert, miteinander, um abgestimmte Bildungsangebote zu unterbreiten, die sich gegenseitig ergänzen.

Transparenz – Es besteht ein datenbasierter Überblick über wichtige, aber auch periphere Bildungsakteure in der Region und deren Angebote, wobei ein breiter Bildungsbegriff zugrunde gelegt wird. Es erfolgt eine datenbasierte Erfassung von Bildungsbedarfen beziehungsweise -bedürfnissen sowie ein regelmäßiges Bildungsmonitoring, auf dessen Basis die Angebote und Strukturen kontinuierlich weiterentwickelt werden.

Strategische Ziele – Entscheidungsträgerinnen und -träger in Kommunen und Landkreisen betrachten sich als bildungspolitische Akteure und entwickeln gemeinsam mit relevanten Akteuren realistische bildungsbezogene Zielsetzungen auf der Basis eines breiten Bildungsbegriffes, der non-formale und informelle Bildung ausdrücklich einbezieht.

Besonderheiten ländlicher Räume berücksichtigen – Insbesondere für ländliche Räume kommen die Herausforderungen hinzu, Mobilitätsvoraussetzungen der Bildungsbeteiligung zu schaffen, die Sicherung von Bildungsstandorten und die Einbeziehung weiterer Akteure zu gewährleisten sowie das Verfügbarmachen digitaler Bildungsinhalte und -formate voranzutreiben.

Ländliche Räume als Bildungslandschaften

Warum brauchen wir Bildungslandschaften insbesondere in ländlichen Räumen und worin bestehen möglicherweise spezifische Anforderungen?

Jugendlicher Alltag ist zunehmend „scholarisiert“ – das bedeutet, schulische Belange, der Schulbesuch und schulische Themen bestimmen den Alltag zunehmend. Jugendliche verbringen mehr Zeit in der Schule und haben in ländlichen Regionen lange Wege dorthin zu bewältigen. Dies führt zu geringeren Zeitressourcen und knapper werdenden Freiräumen für alles andere, was nicht „Schule“ ist. Angebote, die non-formale und informelle Bildungsgelegenheiten schaffen, müssen deshalb dort sein, wo sich junge Menschen aufhalten bzw. dort, wo sie sie erreichen können. Dies ist dann nicht notwendigerweise der Heimatort (der für die Jugendlichen „zuständig“ ist), sondern es kann auch der Ort sein, an dem Jugendliche zur Schule gehen oder auch die Schule selbst. Daraus ergibt sich in der Folge eine veränderte Relevanz und Rolle von Schule als Ort der Vergemeinschaftung von Kindern und Jugendlichen. Dies führt dazu, dass Schule – zwar nicht im rechtlichen Sinne, aber faktisch – eine „Mitverantwortung“ für ein umfassendes Bildungsangebot trägt, das über ihren eigenen Auftrag hinausgeht und das einer Abstimmung mit anderen Bildungsakteuren bzw. Bildungsträgern im Umfeld der Schule und innerhalb einer Bildungslandschaft bedarf.
Zudem können Bildungslandschaften in ländlichen Räumen einen wichtigen Beitrag zu einer durch Bildung unterstützten Stärkung von Chancengleichheit erbringen und günstige Voraussetzungen für die Sicherung gesellschaftlicher Teilhabe bieten. Sie fördern dann Bildungsgerechtigkeit, wenn es gelingt, zur Entfaltung von Talenten sowie zur Vermittlung von Kompetenzen und Erfahrungen unabhängig von der sozialen Herkunft der Lernenden beizutragen. Dies ist jedoch voraussetzungsvoll:

Um junge Menschen bei ihren Entwicklungsherausforderungen bestmöglich zu unterstützen, sind alle Akteure und Institutionen in einer verantwortlichen Rolle aufgefordert, einen Rahmen sowie entsprechende Angebote zu schaffen – und dies, innerhalb einer Bildungslandschaft, gemeinsam und abgestimmt. Das Recht junger Menschen auf Entwicklung und Förderung hin zu einer eigenständigen und sozial verantwortlichen Persönlichkeit sollte handlungsleitend für Bildungslandschaften sein. Bildungslandschaften sind daher so zu gestalten, dass Kinder und Jugendliche Gelegenheiten und Räume vorfinden – und dazu gehören auch Freiräume, in denen sie ihre Persönlichkeit entwickeln, ihre Positionen sowohl bestimmen als auch zum Ausdruck bringen und in denen sie Gemeinschaft mitgestalten können. Dies ist Auftrag und alltägliches Geschäft von Jugendarbeit. Denn hier können junge Menschen selbstbestimmt Räume erobern, mitgestalten und mitbestimmen. In Bildungslandschaften eingebettet, bietet dies für junge Menschen das Potenzial, bedarfsgerechte Angebote vorzufinden und ihren Alltag anregend gestalten zu können.

Ländliche Räume und Jugendarbeit

Ist die Rede von ländlichen Räumen, haben viele Menschen schnell ein Bild im Kopf, welches meist zwischen klischeehaften positiven und negativen Vorstellungen schwankt. Dabei stellt die AGJ fest, dass ländliche Räume definitorisch und konzeptuell kaum einheitlich zu fassen sind. Im Positionspapier „Anders als Ihr denkt!“ Ländliche Räume als Gestaltungsaufgabe für die Sozialen Dienste und erzieherischen Hilfen beschreibt die AGJ ländliche Räume folgendermaßen:

„Raum ‚auf dem Land‘, also die ländlichen Räume umfassen den weit überwiegenden Teil der Fläche Deutschlands. […]. 30 bis 50 Prozent der Bevölkerung [leben] in ländlichen Räumen. ‚Dörfer und kleinere Städte prägen ländliche Räume ebenso wie Land und Forstwirtschaft, eine vergleichsweise geringe Bevölkerungs- und Siedlungsdichte sowie eine lockere Bebauung‘. Das Thünen-Institut hat einen Landatlas erstellt und differenziert auf einem Kontinuum von mehr oder weniger stark ausgeprägter Ländlichkeit zwischen ländlichen und nicht-ländlichen Räumen anhand von Merkmalen wie beispielsweise Siedlungsstruktur, Landnutzung und Lage im Raum.“[8] Ländliche Räume sind zudem heterogen, und selbst kleinräumige Vergleiche zwischen benachbarten Dörfern bringen starke Kontraste zum Vorschein. Diese zeigen sich zum Beispiel bei den kulturellen Aktivitäten, der allgemeinen Entwicklungsdynamik und weiteren Merkmalen.[9]

Es kann zudem festgestellt werden, dass sich ländliche Räume in bevölkerungsärmeren Regionen von denjenigen in zuzugsstarken, demografisch stabilen Regionen stark unterscheiden. Besondere Beachtung verdienen in Hinsicht auf die Teilhabechancen junger Menschen periphere, strukturschwache ländliche Räume mit einer geringen Bevölkerungsdichte und einer Lage fernab von wirtschaftlich starken Zentren.[10] Aufgrund dieser Unterschiedlichkeit wird im vorliegenden Papier von „ländlichen Räumen“ gesprochen.

In ländlichen Räumen ist Jugendarbeit ebenso wie die jungen Menschen selbst herausgefordert, mit meist schwierigen Mobilitätsvoraussetzungen umzugehen. Zudem sieht sie sich der Situation ausgesetzt, dass durch den demografischen Wandel weniger Menschen in ihren Angeboten ankommen und weniger hauptamtliches Personal in den Einrichtungen zu finden ist. Die Gefahr besteht, dass „wenn die Anzahl der Kinder und Jugendlichen in Jugendhäusern/-zentren oder die Anzahl der Engagierten in Jugendverbänden sinkt, […] die Notwendigkeit dieser Angebote infrage gestellt [wird].“[11] Dies kann sich nachteilig auf die bisherigen Inhalte und Prinzipien der Jugendarbeit auswirken. Wenn Angebote also nicht mehr wohnortnah, sondern beispielsweise an größeren Schulzentren angesiedelt werden, verändert dies die Ausrichtung und den Kontext, in dem Jugendarbeit tätig ist.[12]

Deinet[13] misst zum Beispiel der offenen Jugendarbeit in ländlichen Räumen vor allem eine sozialräumliche Funktion zu, die „darin besteht, Spacing [14], Bewegung, Veränderung, Verknüpfung von Räumen zu fördern“. Er beschreibt weiter, dass dies jedoch über die im engeren Sinne pädagogischen Maßnahmen und Projekte zur Gestaltung des Nahraums hinausgehe, und sich die Diskussion zum Beispiel auch auf die Erweiterung von Handlungsräumen und Mobilität durch den öffentlichen Personennahverkehr erstrecken müsse.

Für die Erweiterung und Planung dieser Handlungsräume ist die Jugendhilfeplanung zuständig. Denn ein Ziel der Jugendhilfeplanung ist es, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien zu erhalten und zu schaffen (§ 1 SGB VIII) und ein bedarfsgerechtes Angebot rechtzeitig und ausreichend bereitzustellen (§ 79 SGB VIII). Jugendhilfeplanung ist gem. § 80 SBG VIII eine kommunale Pflichtaufgabe für alle Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe, allerdings wird sie lokal, je nach Themenstellung und Ressourcenausstattung sehr unterschiedlich intensiv umgesetzt. Insbesondere in ländlichen Räumen erfährt die Jugendhilfeplanung zum Teil noch unzureichend Berücksichtigung. Je nach Größe und sozialräumlicher Heterogenität des ländlichen Raumes besteht eine komplexe Ausgangslage an Bedarfen der dort lebenden jungen Menschen sowie an Interessen und Handlungsmöglichkeiten in den kreisangehörigen Gebietskörperschaften. Dabei bringen die Mobilitätsbedürfnisse junger Menschen die Herausforderung mit sich, dass deren Lebensweltbezüge nicht an der Landkreis- bzw. Gemeindegrenze enden und somit auch Planungsprozesse an vielen Stellen über diese Grenzen hinausdenken und eine Abstimmung mit angrenzenden Gebietskörperschaften einschließen müssen.

Jugend in ländlichen Räumen

Empirische Regionalstudien werfen ein Schlaglicht darauf, inwiefern Jugendliche in ihren alterstypischen Entwicklungsschritten unter den in ländlichen Räumen vorzufindenden Rahmenbedingungen eingeschränkt oder unterstützt werden. Neben der Bewältigung ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung müssen junge Menschen einen Prozess der Verselbstständigung unter anderem durch den Aufbau eigener Sozialbeziehungen vollziehen. Doch gerade in peripheren ländlichen Regionen finden sie wenige Gleichaltrige am Wohnort vor, sodass die Gefahr einer Vereinzelung bis hin zur Verhäuslichung besteht. Umso wichtiger sind bei eingeschränkten Mobilitätsvoraussetzungen virtuelle Begegnungsräume, deren Funktionalitäten hängen jedoch stark von der Infrastruktur der Datennetze ab, die in ländlichen Räumen oft nur ungenügend ausgebaut sind.

Eine weitere Begleiterscheinung der peripheren Lage vieler ländlicher Regionen zeigt sich im Alltag junger Menschen in Bildungsinstitutionen darin, dass ihre Tagesabläufe durch umfangreiche Fahrzeiten zum Teil stark verdichtet sind und sie über vergleichsweise wenig Freizeit verfügen.[15]

Gleichzeitig bieten ländliche Räume für Jugendliche auch erweiterte Entfaltungsmöglichkeiten. So bestehen hier auf der einen Seite gegenüber städtischen Siedlungsräumen besondere Gelegenheitsstrukturen der Raumaneignung und Naturerfahrung sowie der Nutzung von Gestaltungsfreiräumen. Diese günstigen Voraussetzungen äußern sich bei den Jugendlichen in einer hohen Verbundenheit mit ihrer Heimatregion.[16] Auf der anderen Seite bestehen die Potenziale ländlicher Räume für Jugendliche auch in den zur Verfügung stehenden ungenutzten kommunalen Liegenschaften.[17]

In Hinsicht auf die Entwicklungsherausforderung der Selbstpositionierung sind das Erproben von unterschiedlichen Lebensentwürfen und die Auseinandersetzung mit persönlichen Interessen und Zielen – den eigenen und denen anderer Menschen – von zentraler Bedeutung. Auch ehrenamtliches/bürgerschaftliches Engagement spielt eine wichtige Rolle. Hier erleben Jugendliche jedoch in ländlich geprägten Regionen vielfach, dass sie mit ihren von lokalen Mehrheitsmeinungen abweichenden Einstellungen, Orientierungen und Lebensentwürfen im Gemeinwesen auf Ablehnung stoßen.[18]

Auch sehen sich Jugendliche – gegenüber ihren Gleichaltrigen aus städtischen Räumen – viel stärker mit der Herausforderung konfrontiert, dass ihre Berufswahl in hohem Maße an die Entscheidung geknüpft ist, ihren Wohnort verlassen zu müssen [19] – ein Schritt, der ihnen angesichts der meist ausgeprägten Identifikation mit der Herkunftsregion oft nicht leicht fällt.[20] Fragen nach der Aussicht auf eine Ausbildungsstelle, Studienangebote, einen Arbeitsplatz, einen sicheren Lebensort und eine anregende Umgebung bestimmen die Phase im Übergang von der Schule in den Beruf stärker als in urbanen Räumen.

Die nicht nur für junge Menschen wichtigen Strukturen der Daseinsvorsorge, die Zugänge zu (Aus-)Bildung und Arbeit, die Mobilitätsvoraussetzungen, die Chancen auf Teilhabe und digitale Zugänge sowie die Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung sind in ländlichen Räumen und insbesondere in ländlichen strukturschwachen Räumen geringer als in urbanen Regionen.

Aus der Perspektive einer Ermöglichung bundesweit gleichwertiger Lebensbedingungen ist festzustellen, dass die bildungsbezogenen Teilhabechancen junger Menschen in den ländlicheren Siedlungsräumen deutlich niedriger sind. Dies ist vielfach auf strukturelle Rahmenbedingungen vor Ort, wie zum Beispiel fehlende weiterführende Bildungsangebote, zurückzuführen.[21] Dadurch werden soziale Ungleichheiten in Bezug auf Bildungsteilhabe noch zusätzlich verstärkt.[22]

Handlungsaufforderungen und Positionen für den weiteren Prozess

Die AGJ formuliert folgende Handlungsaufforderungen und Positionen, die im Kontext von Bildungslandschaften und Jugendarbeit im ländlichen Raum Beachtung finden sollten, um die Bildungsteilhabe junger Menschen dort zu stärken:

  • Der Jugendarbeit kommt die wichtige Aufgabe zu, sog. „dritte Orte", also Begegnungsstätten, die für die Entstehung und Aufrechterhaltung eines Gemeinwesens unverzichtbar sind [23], für Jugendliche vorzuhalten bzw. zu schaffen. Diese können auch virtuelle Orte sein, die ebenfalls von der Jugendarbeit angeboten und besetzt werden müssen, um die Fläche der ländlichen Räume abzudecken.
  • Jugendarbeit sollte zudem bei der Etablierung und Entwicklung von Bildungslandschaften stärker selbst federführend die Initiative ergreifen, um sich parteilich für die Wahrnehmung der Belange von Kindern und Jugendlichen einzusetzen und einer Fixierung an administrativen Territorialgrenzen entgegenzuwirken.
  • Im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfeplanung sind die Stärkung von Bildungsteilhabe junger Menschen und die dazu notwendige Koordination unter den regionalen Bildungsakteuren mitzuberücksichtigen.
  • Bildungslandschaften sollten ihrerseits gerade in ländlichen Räumen alle relevanten Partnerinnen und Partner einer Region kooperativ einbeziehen. Dies gilt insbesondere für den Einbezug der Jugendarbeit. Jugendarbeit kann in Bildungslandschaften darauf Einfluss nehmen, dass Jugendliche nicht nur als Ressource bzw. Investitionsobjekt (mit Blick auf Fachkräfte/Steuerzahler/Kaufkraft) für die Region wahrgenommen werden, sondern die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen selbst in den Mittelpunkt gestellt werden.
  • Systematische Bestandserhebungen und Bedarfsanalysen unter Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse von jungen Menschen sind eine wichtige Grundlage für die örtlichen Planungs- und Entscheidungsprozesse sowie die Ausdifferenzierung der Angebotsstrukturen. Soweit erforderlich sollten die Planungsprozesse nicht an Gemeinde- oder Landkreisgrenzen haltmachen.
  • In diesen Prozessen gilt es auch, die Beteiligung aller Akteure im Feld der Jugendarbeit (zum Beispiel anerkannte Träger der Jugendhilfe, Verbände, Schulen, Vereine) und der Jugendlichen selbst möglichst frühzeitig sicherzustellen. Dies kann in ganz unterschiedlichen Formaten, wie zum Beispiel Befragungen, Experten-Hearings, Runde Tische, Planungsgespräche, Arbeitskreise etc., erfolgen.
  • Gleichzeitig ist ein stärkeres Engagement von Akteuren der Jugendarbeit im Rahmen von Ganztagsschulkonzepten in ländlichen Räumen wünschenswert, um an Bildungszielen gestaltend mitzuwirken und Angebote an den Orten zu verankern, an denen sich junge Menschen ohnehin aufhalten und ihnen diese Orte auch als gestaltbare Freiräume zur Verfügung zu stellen.
  • Angesichts dieser Ziele müssen auch die strukturellen Voraussetzungen für die Erweiterung von Bildungsteilhabe auf dem Land geschaffen werden. Dies schließt einerseits den Ausbau von schnellem Internet in ländlichen Räumen ein, um zum Beispiel als Ergänzung zu „klassischen“ Ansätzen der Jugendarbeit auch virtuelle Jugendarbeit anbieten zu können. Andererseits ist auch die finanzielle Ausstattung für die unmittelbare Arbeit mit jungen Menschen, insbesondere für mobile sowie offene Angebote der Kinder- und Jugendarbeit, sicherzustellen.

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 12./13. Dezember 2019


Fußnoten

[1] Beierle und andere (2016): Jugend im Blick – Regionale Bewältigung demografischer Entwicklungen. Abschlussbericht. München: DJI.
[2] Deutscher Bundestag (2017): 15. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen
und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland.
[3] Ebenda, S. 192.
[4) Im Folgenden Jugendarbeit
[5] Die AGJ orientiert sich in diesem Papier an der Definition von „lokalen Bildungslandschaften“ von Dr. Anja Durdel und Peter Bleckmann: „‚Lokale Bildungslandschaften‘ sind langfristige, professionell gestaltete, auf gemeinsames, planvolles Handeln abzielende, kommunalpolitisch gewollte Netzwerke zum Thema Bildung, die – ausgehend von der Perspektive des lernenden Subjekts – formale Bildungsorte und informelle Lernwelten umfassen und sich auf einen definierten lokalen Raum beziehen.“
Vgl. Dr. Anja Durdel und Peter Bleckmann (2009): Lokale Bildungslandschaften. Perspektiven für Ganztagsschulen und Kommunen. Wiesbaden: VS Verlag, S. 12.
[6] Ebenda
[7] Vergleich Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (Hg.) (2020): Bildungslandschaften. Perspektiven von Kinder- und Jugendarbeit. Arbeitshilfe. Berlin. (im Erscheinen) Autor*innen: Gumz, Heike; Hübner, Kerstin.
[8] AGJ-Positionspapier (2019): „Anders als Ihr denkt!“ Ländliche Räume als Gestaltungsaufgabe für die Sozialen Dienste und erzieherischen Hilfen.
[9] Stein/Scherak (Hg.) (2018): Kompendium Jugend im ländlichen Raum. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.
[10] Beierle/Tillmann/Reißig (2016), am angegebenen Ort.
[11] Bundesjugendkuratorium (2017): Kinder- und Jugendarbeit stärken.
[12] Ebenda
[13] Dr. Ulrich Deinet (2004): Zur Lage der Kinder- und Jugendarbeit in ländlichen Regionen.
[14] Damit ist die Gestaltung eigener Räume durch junge Menschen gemeint.
[15] Beierle und andere (2016): Jugend im Blick – Regionale Bewältigung demografischer Entwicklungen. Abschlussbericht. München: DJI.
[16] Katholische Landjugendbewegung Bayern (2020): Stadt. Land. Wo? Was die Jugend treibt. Abschlussbericht im Erscheinen
[17] BBSR (2017): Kommunale Wohnungsbestände in Deutschland. BBSR: Bonn, S. 34.
[18] Katholische Landjugendbewegung Bayern (2020): Stadt. Land. Wo? Was die Jugend treibt. Abschlussbericht im Erscheinen
[19] Vogelgesang/Kersch, L. (2016): Jung sein! Und das auf dem Land?, in: BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hg.): Landflucht? Gesellschaft in Bewegung. Stuttgart: Franz Steiner, S. 201-218.
[20] Katholische Landjugendbewegung (2019): am angegebenen Ort
[21] Reißig/Tillmann (2017): Bildungsteilhabe junger Menschen in ländlichen Räumen, in: DDS Nr. 109, Heft 4, S. 308-321.
[22] Fischer uund andere (2018): Soziale Disparitäten am Übergang in Sekundarstufe II und die Bedeutung der Distanz zur nächstgelegenen weiterführenden Schule, in: Sixt und andere (Hg.): Bildungsentscheidungen und lokales Angebot. Waxmann: Münster, S. 139-166.
[23] Nach dem Konzept von Oldenburg, vgl. Faber/Oswalt (2013): Raumpioniere in ländlichen Regionen. Spektor: Dessau-Roßlau.