„Jugend braucht mehr! – Eigenständige Jugendpolitik voranbringen und weiterdenken“

Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Positionspapier als PDF

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ äußert sich in diesem Positionspapier zu aktuellen jugendpolitischen Entwicklungen, bekräftigt die Notwendigkeit einer Eigenständigen Jugendpolitik und plädiert für die Weiterentwicklung und Umsetzung einer kohärenten Politik, die gute Rahmenbedingungen für die Lebensphase Jugend schafft. Das Papier beinhaltet eine Reflexion aktueller jugendpolitischer Herausforderungen und schärft den Blick für Jugendpolitik als Gegenwarts- und Zukunftspolitik. Die Ziele und vielfältigen Handlungsfelder für die Eigenständige Jugendpolitik werden auf einen aktuellen Stand gebracht, vielfältige Bemühungen und Aktivitäten verschiedener politischer Ebenen werden abgebildet. Das Papier verdeutlicht die thematische Bandbreite der Eigenständigen Jugendpolitik als gesellschaftspolitisches Handlungsfeld und unterstreicht zugleich die jugendpolitische Dimension aller Politikfelder. Die AGJ benennt Forderungen an die politischen und gesellschaftlichen Akteur*innen, deren Handeln Einfluss auf die Lebenslagen von jungen Menschen hat und fordert eine jugendgerechte Politik auf allen staatlichen Ebenen ein. Die AGJ fordert Politik und Gesellschaft auf, die Herausforderungen und die konkreten Bedürfnisse von Jugendlichen in ihren Debatten und im Handeln stets zu berücksichtigen. Dazu zählt die Verankerung von wirksamen Partizipationsmöglichkeiten. Die AGJ will dafür sensibilisieren, dass sowohl den politischen Akteur*innen auf unterschiedlichen Ebenen (Bund, Länder, Kommunen) als auch den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe eine aktive Rolle bei der Umsetzung der Ziele Eigenständiger Jugendpolitik zukommt und will so ein Bewusstsein für die jeweilige Verantwortung schaffen. Um zu weiteren fachlichen Diskursen anzuregen, setzt sich die AGJ in diesem Positionspapier mit der Rolle der Kinder- und Jugendhilfe als Akteurin Eigenständiger Jugendpolitik auseinander und fordert dazu auf, Reflektionen zur eigenen Ausgestaltung und Umsetzung jugendpolitischer Anforderungen aufzunehmen.[1]

I. Einführung und Grundannahmen Eigenständiger
Jugendpolitik

Die Eigenständige Jugendpolitik wurde entwickelt, um Politik und Gesellschaft eine Orientierung bei der Gestaltung der Lebensphase Jugend zu bieten – und zwar anhand der Interessen und Bedürfnisse der Jugend selbst. Im Mittelpunkt steht die Eigenständigkeit des Jugendalters – Jugendliche und junge Erwachsene sind keine großen Kinder, sondern haben ganz eigene Herausforderungen zu bewältigen und stellen eigene Erwartungen an ihre Umwelt und Lebenswelt. Entsprechend braucht es Rahmenbedingungen, die allen Jugendlichen ein gelingendes Aufwachsen in der Gesellschaft ermöglichen. Jugend wird dabei verstanden als der Lebensabschnitt in einer Altersspanne von 12-27 Jahren[2] in welchem die Herausforderungen der Qualifizierung, Verselbstständigung und Selbstpositionierung bewältigt werden müssen. Eigenständige Jugendpolitik ist jedoch nicht nur Politik für die gegenwärtigen Bedürfnisse junger Menschen, sondern mit ihr werden auch Zukunftsthemen und Perspektiven für ein selbstbestimmtes, erfülltes Leben in den Blick genommen.[3] Der Politikansatz einer Eigenständigen Jugendpolitik ist zudem anschlussfähig an die UN-Kinderrechtskonvention, insbesondere Art. 12, welcher sowohl die Beteiligung junger Menschen als auch die Berücksichtigung ihrer Interessen im Verwaltungshandeln verankert. Eigenständige Jugendpolitik meint folglich eine ressortübergreifende Politik orientiert an den Interessen und Bedürfnissen junger Menschen, die Jugendliche – so umfassend wie möglich – selbst an den politischen Prozessen beteiligt.

Die Motivation und Bereitschaft Jugendlicher selbst, an der Gestaltung von Gesellschaft zu partizipieren ist unbestritten, ihnen werden jedoch in unterschiedlichem Maße Mitwirkungsmöglichkeiten zugestanden. Jugendliche, die Diskriminierungen erfahren, sehen sich besonders hohen Hürden gegenüber. Akteur*innen der Jugendpolitik, die Allen Zukunftsperspektiven eröffnen wollen, sind gefordert diese Ausschlüsse aufzudecken und abzubauen. Aufgrund der unterschiedlichen Gründe für diese Ausschlüsse und ihrer Ausformungen fordert dies ein Zusammenwirken vieler Akteur*innen und ein ressortübergreifendes Handeln.

Der 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung wirft die Frage auf, wie Jugend in unserer Gesellschaft ermöglicht werden kann. Jugendliche und junge Erwachsene werden beim Aufwachsen durch eine Vielzahl von Politiken und Institutionen sozial integriert. Dabei folgen diese Institutionen sehr unterschiedlichen Grundsätzen und Zielen, die nicht immer ein umfassendes Bild von Jugend als Orientierungslinie aufweisen.[4]

Zuletzt hat sich die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ im Jahr 2011 zur Eigenständigen Jugendpolitik aus Sicht der Jugendhilfe geäußert.[5] Über das Projekt „Zentrum Eigenständige Jugendpolitik“ war die AGJ zudem bis 2014 maßgeblich an der Entwicklung ihrer Leitlinien, Grundsätze und Ziele beteiligt. Seither hat sich die Eigenständige Jugendpolitik als Ansatz für zahlreiche praktische Umsetzungen bewährt und weiterentwickelt.[6] Doch im politischen Handeln der letzten zehn Jahre wurde auch deutlich, dass die Interessen und Bedürfnisse junger Menschen bei politischen und gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen nicht genügend berücksichtigt werden. Vor diesem Hintergrund betont die AGJ zum Ansatz Eigenständiger Jugendpolitik folgende Grundannahmen:

  • Die Lebensphase Jugend unterscheidet sich fundamental von Kindheit und Erwachsenenalter und benötigt deshalb eine Eigenständige Jugendpolitik.
  • Mit dem Politikansatz der Eigenständigen Jugendpolitik sollen die Lebenslagen und Zukunftsperspektiven aller Jugendlichen verbessert werden.

II. Anfänge, Entwicklungen und jugendpolitische Erfolge

Ausgangspunkte Eigenständiger Jugendpolitik

Impulse für eine Politik mit Fokus auf die Zukunftsperspektiven junger Menschen wurden bereits 2005 mit dem Europäischen Pakt für die Jugend gesetzt, hier mit Schwerpunkt auf Mobilität sowie berufliche und soziale Eingliederung.[7] Auch der 2005 im Bundeskabinett verabschiedete Nationale Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland griff explizit die Lebenswelten und Interessen Jugendlicher auf, wie etwa Bildung, Beteiligung oder Gesundheit.[8] Die Notwendigkeit einer Eigenständigen Jugendpolitik wurde in Deutschland in den von der AGJ veranstalteten Nationalen Konferenzen zur Jugendpolitik 2007/08 erörtert. Ankerpunkte für die weiteren Diskussionen waren 2009 die Stellungnahme des Bundesjugendkuratoriums „Zur Neupositionierung von Jugendpolitik – Notwendigkeit und Stolpersteine“ sowie die Verankerung Eigenständiger Jugendpolitik im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP 2009. Der Deutsche Bundesjugendring benannte 2011 grundlegende thematische Zugänge zur Eigenständigen Jugendpolitik und bewertete die Potentiale und Herausforderungen bei ihrer Entwicklung. Betont wurde die zentrale Forderung, dass Jugendpolitik über einzelne Ressorts wie auch über nationale Ebenen hinaus gedacht werden müsse.[9] Auch die AGJ plädierte 2011 für einen Politikansatz für die Lebensphase Jugend und benannte die zu dieser Zeit vordringlichsten Themenfelder: Jugendarmut, Übergänge, Anerkennung nonformalen Lernens, Interkulturalität, Integration/-Inklusion, Zeitautonomie, Jugendpolitik für alle Jugendlichen.[10] Im selben Jahr folgte die Gründung des Zentrums Eigenständige Jugendpolitik bei der AGJ – in einem umfänglichen Dialogprozess wurden hier exemplarisch die Themen Bildung, Beteiligung und Übergänge zwischen Schule und Beruf vertieft. Auch die Bedeutung des Zusammenarbeitens unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Akteur*innen in einer Allianz für Jugend wurde breit debattiert. Die Diskurse und Erkenntnisse wurden in der Veröffentlichung „Eigenständige Jugendpolitik – Dialogprozess, Leitlinien, Herausforderungen“ festgehalten.[11] Auch wurde bereits die Notwendigkeit eines Jugend-Checks als Sensibilisierungsinstrument für politische Maßnahmen der Regierung erörtert. Der DBJR hielt diese und weitere Forderungen für eine gute und bedarfsgerechte Jugendpolitik als Position 2014 fest.[12] Im AGJ-Projekt „Koordinierungsstelle ‚Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft‘“ stand 2015-2018 zudem die Erprobung und Auswertung kommunaler Strategien der Eigenständigen Jugendpolitik im Mittelpunkt. Dabei wurden zahlreiche Erfahrungen zum ressortübergreifenden Arbeiten, zu Jugendbeteiligungskonzepten, zur Jugendberichter-stattung sowie zu den unterschiedlichen Rollen von Fachkräften, Jugendlichen, Politik und Verwaltung im Zusammenspiel für jugendgerechte Kommunen gesammelt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.[13]

Strategien der Bundespolitik

Eigenständige Jugendpolitik war in den 2010er-Jahren zentraler Bezugspunkt für zahlreiche jugendpolitische Initiativen. Drei aufeinanderfolgende Bundesregierungen haben die Eigenständige Jugendpolitik befördert, sie als Politikfeld entwickelt (2012-2014) und in den Jugendstrategien des Bundesjugendministeriums „Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft“ (2015-2018) sowie der Jugendstrategie der Bundesregierung „In gemeinsamer Verantwortung: Politik für, mit und von Jugend“ (seit 2019) zur Grundlage für ihre Handlungsziele genommen. Dabei war bzw. ist die Wirkung sowohl auf Bundesebene als auch – in Projekten und Einzelvorhaben – auf kommunaler Ebene spürbar. Auch auf die Demografiestrategie, auf die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung sowie den 14. und den 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung nahm die Eigenständige Jugendpolitik als Bezugsrahmen Einfluss. Der Innovationsfonds des Bundesjugendministeriums förderte zudem in zwei Perioden 2013-2019 jeweils über 40 Projekte aus fünf Handlungsfeldern der Jugendhilfe, welche die praxisbezogene Weiterentwicklung Eigenständiger Jugendpolitik voranbrachten.

Aktivitäten auf Landesebene und in Kommunen

Neben einem Beschluss des Bundesrats [14] verfolgten auch einzelne Bundesländer bereits Umsetzungen Eigenständiger Jugendpolitik, so zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen („Einmischende Jugendpolitik“, seit 2012), Rheinland-Pfalz („Jung. Eigenständig. Stark.“ sowie ein kommunales Praxisentwicklungsprojekt, seit 2014), Sachsen-Anhalt (Beschluss des Landtags 2012 [15]) oder Thüringen (Beteiligungsstrategie sowie Reform des Kinder- und Jugendhilfe-Ausführungsgesetzes, kommunales Praxisentwicklungsprojekt, seit 2019).

So setzen die Länder in ihrer Unterschiedlichkeit eigene Schwerpunkte: es werden gezielt inhaltliche Impulse in der Jugendarbeit gesetzt (Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen), Strukturen für Jugendliche geöffnet (Sachsen-Anhalt, Thüringen), die Datenbasis über die Lebensphase Jugend im Land verbessert (Rheinland-Pfalz, Thüringen), Regierung und Jugendliche zur gemeinsamen ressortübergreifenden Arbeit vernetzt [16] (Sachsen-Anhalt), Interministerielle Arbeitsgruppen initiiert (Sachsen) und jugendbezogene Förderprogramme aufgesetzt. In Mecklenburg-Vorpommern befasste sich der Sozialausschuss des Landtags von 2018 bis 2019 in einer achtteiligen Anhörungsreihe mit dem Thema „Jung sein in Mecklenburg-Vorpommern“. Darüber hinaus finden sich Bezugspunkte zur Eigenständigen Jugendpolitik in zahlreichen Beschlüssen und Maßnahmen, in einer zunehmenden Jugendberichterstattung, in der gestiegenen Bedeutung von Jugendbeteiligung in den Kommunalordnungen und einer wachsenden Bereitschaft, direkt mit Jugendlichen in den politischen Austausch zu treten. Auch aus der Zivilgesellschaft heraus – hier insbesondere aus den Jugendringen und Jugendverbänden – wurden Vorhaben auf Grundlage der Eigenständigen Jugendpolitik entwickelt. So hat etwa der Bayerische Jugendring mit den Kampagnen #junggerecht und „Jugendgerechtigkeit als Standortfaktor“ insbesondere die kommunalen Akteur*innen in den Blick und in die Pflicht genommen. In Sachsen diskutiert die AG Eigenständige Jugendpolitik – ein Zusammenschluss unterschiedlichster jugendpolitischer Akteur*innen – in den Gesprächsreihen von #lassunsreden seit 2015 zahlreiche Aspekte von landes- und kommunalpolitischer Bedeutung. Bundesweit machen sich zahlreiche Kommunen für die Berücksichtigung jugendlicher Interessen in Planungsprozessen stark und haben dazu etwa repräsentative Beteiligungsformate etabliert.

  • In den Entwicklungsschritten wird deutlich, dass die Eigenständige Jugendpolitik ein Prozess ist, der zu seiner Entfaltung das Handeln vieler Akteur*innen, Entscheidungsträger*innen und das Zusammenspiel verschiedener politischer Ebenen und Ressorts notwendig macht.
  • Die AGJ hat den Anspruch, die Entwicklung und Umsetzung Eigenständiger Jugendpolitik voranzubringen und übernimmt Verantwortung in der Begleitung und Reflexion der Umsetzung auf verschiedenen Ebenen.

III. Thematische Bandbreite Eigenständiger
Jugendpolitik

Jugendbeteiligung

Die Umsetzungsformen Eigenständiger Jugendpolitik decken eine große inhaltliche Bandbreite ab. Der Aspekt „Jugendbeteiligung“ ist dabei auf allen Ebenen unverzichtbar. Jugendliche wollen mitgestalten – und viele Akteur*innen gehen mit einer großen Ernsthaftigkeit auf Jugendliche zu, wollen ihre Meinung einholen und Strukturen zur dauerhaften Mitsprache schaffen. Insbesondere auf kommunaler Ebene ist eine große Vielfalt an Beteiligungsformaten zu erleben, welche auf hauptamtliche Unterstützung aus den Strukturen der Jugendarbeit und zum Teil auf eigene Budgets vor Ort zurückgreifen können. Zudem bietet die kommunale Lebenswelt die konkretesten Mitwirkungsmöglichkeiten. Klassische Beteiligungs- und Organisationsformen wie Jugendringe und Jugendverbände, aber auch Jugendabteilungen im Vereinssport, werden dabei als Ansprechpartner*innen teilweise übergangen bzw. bringen sich selbst gelegentlich nicht aktiv als Gestaltungspartner*innen in kommunale Prozesse ein, obschon Jugendbeteiligungsformen wie Jugendparlamente, Jugendverbände, Schüler*innen-vertretungen und auch Interessenvertretungen Jugendlicher aus stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe gewinnbringend ihre unterschiedlichen Perspektiven auf ihre Kommunen verbinden könnten. Neben dem rechtlichen Rahmen von Beteiligung ist das Wissen um mögliche Formen der Selbstvertretung von Interessen ausschlaggebend für die Jugend. Dazu sollen Akteur*innen der Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit ihrem Auftrag entsprechend gezielt Jugend unterstützen, über Beteiligungsmöglichkeiten aufklären, diese mitentwickeln und von Jugend ausgestalten lassen. Für erfolgreiche Partizipationsprozesse müssen wichtige Qualitätskriterien wie Freiwilligkeit, Ernsthaftigkeit und Wirksamkeit mitgedacht werden.[17] Junge Menschen zeigen sich solidarisch miteinander – bei zahlreichen Beteiligungsangeboten wird immer wieder die Forderung laut, auch den von mehrfachen Ausschlüssen betroffenen Jugendlichen die volle Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Inklusion wird nicht nur für die Angebote der Jugendhilfe [18] eingefordert, sondern auch für die Beteiligungsstrukturen und -angebote der Politik.

Auf Landes- und Bundesebene sind Jugendringe und -verbände traditionell mitwirkende Akteur*innen. Daneben wurden verschiedene weitere Arten von Beteiligungsformaten etabliert, wie Jugendforen, Beiräte oder projektbezogene Gremien. Gleichzeitig werden Partizipationsprozesse und -strategien durch oftmals landesweit tätige Servicestellen für Beteiligung unterstützt und beispielsweise hinsichtlich Qualitätsstandards beraten. Auf Bundesebene initiierte das Bundesjugendministerium begleitend zur eigenen Jugendstrategie sowie zur Jugendstrategie der Bundesregierung mit den JugendPolitikTagen 2017 und 2019, mit Jugendkonferenzen sowie Jugend-Audits unterschiedliche Formate, in denen sich Jugendliche mit der Politik der Bundesebene auseinandersetzen können. Das Bundesumweltministerium hat Jugendliche über einen Jugendbeirat in die Erstellung der jüngsten BMU-Jugendstudie[19] eingebunden. Der Anspruch und die Notwendigkeit, Jugend auf Bundesebene umfassend zu beteiligen spiegelt sich nicht zuletzt in der Bekundung der Bundesregierung wider, welche in der Präambel zu ihrer Jugendstrategie formuliert ist: „Gute Politik für Jugend machen, gemeinsam mit Jugend Politik gestalten und offen sein für selbstbestimmte Politik von Jugend.“[20] Insbesondere auf Landes- und Bundesebene fehlen trotz verschiedener Ideen und Aktivitäten aber häufig noch grundlegende und verankerte Umsetzungsansätze, wie eine langfristige und wirksame Einbindung junger Menschen jenseits von Anhörungen gelingen könnte, die gleichzeitig die Interessen aller jungen Menschen vertreten kann. Daher müssen die Leerstellen in Bezug auf wirksame Beteiligungs-möglichkeiten kritisch reflektiert und im politischen Raum ein Selbstverständnis von Partizipation beziehungsweise von der Notwendigkeit von Beteiligungsanlässen etabliert werden.

Bildungspolitik und Jugendpolitik

Der Bereich der formalen Bildung mit Schule, Berufsausbildung und Studium ist für das Leben (fast) aller Jugendlichen strukturgebend und prägt die meisten ihrer Lebensbereiche. Daneben gibt es aber vielfältige weitere Lebenswelten und diverse Orte nonformaler Bildung. Im Sinne einer kohärenten Jugendpolitik ist es geboten, dass jugendpolitische und bildungspolitische Akteur*innen und Entscheidungsträger*innen einen Austausch auf Augenhöhe führen und ebenenübergreifend fortlaufend zusammenwirken. Denn zweifellos ist Bildungspolitik unverzichtbarer Bestandteil einer Jugendpolitik, die jungen Menschen Perspektiven auf ein gelingendes Leben in der Gesellschaft eröffnen will. Dies gilt umso mehr, wenn formale Qualifizierungswege immer größere Teile des Tagesablaufs junger Menschen einnehmen.[21] Planungen im Sinne eines Kooperationsgebots müssen daher gemeinsam gedacht und umgesetzt werden, damit nonformale und formale Bildungsbereiche zusammenwachsen, das schließt die Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe mit ein.

Im Diskurs um jugendgerechte Bildungspolitik muss aus der Perspektive Jugendlicher auch eine Lebensweltorientierung berücksichtigt werden, die neben der Bedeutung von Bildung für die Chancengerechtigkeit auch die Relevanz von Freiräumen deutlicher werden lässt. Zudem muss den oftmals geringen Mitwirkungsmöglichkeiten in der Schule entgegengewirkt werden. Dazu bedarf es vor Ort wirksamer Beteiligungskonzepte[22], die auch strukturell verankert sein müssen.

Freiräume junger Menschen

Das Bestreben nach ausreichend Freiräumen ist bereits in den Leitlinien Eigenständiger Jugendpolitik verankert und bleibt an vielen Orten konkrete jugendpolitische Herausforderung. Durch die Brille der Eigenständigen Jugendpolitik wird deutlich, dass die Schaffung von Freiräumen einen wertvollen Beitrag in der politischen Gestaltung der Jugendphase leistet, denn Jugendliche können sich hier ungestört von den zahlreichen Anforderungen der Erwachsenenwelt aufhalten und entfalten. Freiräume und -zeiten sind unerlässliche Pausen, um sich den stetig wachsenden Erwartungen zu entziehen und sich selbstbestimmt dem eigenen Leben zu widmen. Auch wenn die Rahmenbedingungen in Städten und ländlichen Räumen[23] sehr unterschiedlich sind, ist die Freiraumthematik im gesamten Bundesgebiet aktuell.[24] Bei der Diskussion zur Ausgestaltung des Bildungssektors und des institutionellen Gefüges des Aufwachsens wird diese Perspektive junger Menschen noch nicht ausreichend berücksichtigt.

Gesetzesfolgenabschätzung

Mit der Einrichtung des Kompetenzzentrums Jugend-Check in Trägerschaft des Deutschen Forschungsinstituts für Öffentliche Verwaltung wurde 2017 die langjährige Forderung nach einer Politikfolgenabschätzung für die junge Generation umgesetzt. Heute gibt es zu jugendrelevanten Vorhaben der Bundesregierung eine kompetente Einschätzung der zu erwartenden Folgen für Jugendliche, welche die Abgeordneten in ihrer Entscheidungsfindung im Sinne der Jugend unterstützt.[25] Gleichzeitig ist die Wirkung auf die Gesetzgebungs-prozesse noch nicht umfänglich messbar – und es bedarf für die Wirksamkeit des Jugend-Checks als Sensibilisierungsinstrument auch künftig das enge Zusammenwirken aller politisch Verantwortlichen. Darüber hinaus ist die Strategie einer Sensibilisierung von Entscheidungs-träger*innen für die lebensweltlichen Belange Jugendlicher ein Ansatz, der auch bei Maßnahmen von Ländern oder Kommunen aufgegriffen werden sollte. Im Sinne eines Handelns für Jugend ist es erstrebenswert, das Instrument auch auf andere Ebenen zu übertragen.

Jede Gesellschaftspolitik ist Jugendpolitik

Bei gesamtgesellschaftlichen Politikthemen sind Jugendliche oft besonders betroffen. So ist beispielsweise eine kostengünstige, fahrrad- und fußgängerfreundliche Verkehrsinfrastruktur mit funktionierendem ÖPNV für Jugendliche wichtiger als für Altersgruppen, welche über andere Ressourcen und Zugänge für individuelle Mobilität verfügen. Dabei zeigt sich am Beispiel Mobilität, dass hier bedarfsgerechte Angebote wiederum nicht ausschließlich Jugendlichen zugutekommen, sondern auch andere Bevölkerungsgruppen wie Senior*innen, Familien mit kleinen Kindern und von Armut betroffene Personen gleichermaßen profitieren. Ähnliche Bezüge zur Lebensphase Jugend finden sich in vielen Politikbereichen, wie etwa der Gesundheits-, Umwelt-, Arbeitsmarkt- oder der Kulturpolitik.

Eigenständige Jugendpolitik will Jugendlichen Unterstützung und Anerkennung geben und ihnen Freiräume und freie Zeiten zur Entwicklung einer eigenständigen, gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit bieten. Sie richtet sich an alle Jugendlichen, will Perspektiven und Teilhabemöglichkeiten für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung ermöglichen, faire Chancen bei ungleichen Ausgangslagen bieten, jugendliche Mitbestimmung unterstützen, die gesamte Gesellschaft in die Gestaltung einbeziehen und die Potentiale und Chancen Jugendlicher in der Gesellschaft stärken. So steht es in den Leitlinien und Grundsätzen Eigenständiger Jugendpolitik.

  • Die AGJ stellt sich weiter hinter diese Leitlinien Eigenständiger Jugendpolitik und begrüßt die diversen jugendpolitischen Bemühungen auf Bundesebene, in den Ländern, den Kommunen und im europäischen Kontext.
  • Zahlreiche thematische Handlungsfelder wurden in den letzten Jahren bearbeitet. Es bleibt jedoch weiterhin eine große Herausforderung, Akteur*innen in der Breite von Politik und Verwaltung für die legitimen Interessen und Bedürfnisse Jugendlicher zu sensibilisieren und dazu zu bewegen ihr Handeln konsequent daran auszurichten.

IV. Weiterentwicklungsmöglichkeiten Eigenständiger
Jugendpolitik

Neue Partner*innen und Handlungsfelder

Die Eigenständige Jugendpolitik ist in den Strukturen der öffentlichen und freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe entstanden. Dieses Handlungsfeld hat sie zunächst nur in einigen wenigen konkreten Vorhaben verlassen. Maßgebliche Papiere, konkrete Umsetzungen, zentrale Veranstaltungen kommen bis heute überwiegend aus dem Ressortbereich Jugend und der Kinder- und Jugendhilfe. Es gelingt nur langsam, weitere Akteur*innen wie Wirtschaft, Medien und Wissenschaft sowie andere Politikbereiche und andere Felder der Zivilgesellschaft für die Eigenständige Jugendpolitik zu gewinnen und ihre Ziele strukturell im Handeln aller Akteur*innen zu verankern. Dazu gehören die Anpassung rechtlicher Rahmungen, die weitere Öffnung für die Mitwirkung junger Menschen, das Mitdenken der besonderen Betroffenheit junger Menschen durch das eigene Handeln, sowie der Wille, die eigene Macht mit Jugendlichen zu teilen, auch wenn es hier bereits ermutigende Beispiele gibt wie zum Beispiel die Stärkung der Beteiligungsrechte auf örtlicher Ebene in Schleswig-Holstein. Die Akteur*innen der Eigenständigen Jugendpolitik sind gefordert, weitere Partner*innen aktiv zur Mitwirkung einzuladen und für die Anliegen Eigenständiger Jugendpolitik zu begeistern.[26] Als hilfreich haben sich die Ansätze bewährt, welche sowohl die Relevanz von Jugendlichen als betroffene Gruppe politischen Handelns aufzeigten als auch Formate, bei welchen politische und gesellschaftliche Akteur*innen mit Jugendlichen ins Gespräch kommen konnten, um Jugendinteressen zu verdeutlichen.

Mit der Einrichtung einer Interministeriellen Arbeitsgruppe auf Bundesebene und der Entwicklung einer Jugendstrategie der Bundesregierung wurden Fach- beziehungsweise Handlungsebenen strukturell aktiviert, die die Bearbeitung einer neuen Themenvielfalt ermöglichen. Auch die entsprechenden Schritte, die in den Bundesländern bisher dazu gegangen wurden, zeigen dies. Die AGJ bestärkt die verantwortlichen Akteurinnen und Akteure in ihrem Bestreben ressortübergreifend und auch jenseits des originär jugendpolitischen Bereichs den Ansatz der Eigenständigen Jugendpolitik aufzugreifen und voranzubringen.

Jugend beansprucht eine lebenswerte Zukunft

Eine Umsetzung Eigenständiger Jugendpolitik zielt darauf ab, sowohl das Leben der Jugendlichen im Hier und Jetzt zu verbessern als auch Perspektiven für eine lebenswerte Gesellschaft und Zukunft zu eröffnen. Dafür liefert das vielfältige Engagement Jugendlicher zahlreiche Anhaltspunkte und es zeigt Themenfelder auf, die der jungen Generation besonders wichtig sind. Dazu zählen etwa Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, Reformen im Bildungssektor, das Engagement gegen undemokratische Tendenzen sowie für eine nachhaltige Entwicklung. Damit geraten auch die Interessen für nachfolgende Generationen in den Blick. Besonders umfängliche öffentliche Aufmerksamkeit erlangten in den letzten Jahren insbesondere die von jungen Menschen initiierten Proteste und Schulstreiks für eine nachhaltige Klimapolitik. Dieses wachsende politische Engagement spiegelt sich in Jugendstudien und Beteiligungsergebnissen wider. Damit haben die Jugendlichen auch die Jugendpolitik nachdrücklich zur Befassung mit klimapolitischen Fragen aufgefordert. Die Jugendhilfe findet sich in ihren unterschiedlichen Strukturen in die Proteste eingebunden: Träger und Einrichtungen der Jugendarbeit stellen Ressourcen bereit, um die Klimaproteste zu unterstützen, viele engagierte Jugendliche bringen Know-How aus der Jugendverbandsarbeit in die Bewegung ein, zahlreiche Organisationen erklärten sich zudem mit den Protesten solidarisch.

Jugendgerechte Gestaltung der digitalen Welt

Eine jugendgerechte Gesellschaft muss auch digitale Zugangs- und Gestaltungsgerechtigkeit mitdenken. Die junge Generation nutzt digitale Kanäle mit großer Selbstverständlichkeit, aber schlechte Internetverbindungen, insbesondere im ländlichen Raum, trennen Jugendliche von ihren Peers und dem Rest der Welt. Es zeigt sich auch, dass weder Schulen noch Hochschulen bisher ausreichend darauf vorbereitet sind, ihre Arbeit im virtuellen Raum zu erbringen und die Bildungspolitik darauf nur in einem gewissen Umfang Lösungen im Sinne junger Menschen finden kann – und dass die Möglichkeiten zur Nutzung der digitalen Angebote ungleich verteilt sind, weil beispielsweise digitale Teilhabe im Kontext formaler Bildung unter anderem vom Zugriff auf verfügbare Endgeräte abhängt.[27]

Es besteht bisher eine sichtbare Lücke zwischen jugendlichen Ausdrucksformen im Netz und Entgegnungen der Erwachsenenwelt auf neue Kommunikationswege. Auch gelingt es im gesellschaftlichen Diskurs kaum, jugendliche Expertise im Netz konstruktiv aufzunehmen oder mit Jugend in einen Dialog zu treten. Zudem haben Jugendliche selbstverständlich auch digitale Rechte, wurden jedoch trotz ihrer hohen Affinität zur digitalen Welt bislang kaum bei der Gestaltung der entsprechenden Gesetzgebung berücksichtigt, wie sich an den massiven Protesten gegen die sogenannten „Upload-Filter“ im Rahmen der EU-Urheberrechtsreform gezeigt hat. Jugendliche müssen auch in digitalpolitische Debatten einbezogen werden, damit nicht an ihren Lebenswelten vorbei gesetzliche Maßnahmen ergriffen werden, die ihre Teilhabe an einer digitalen Gesellschaft zu behindern drohen. Deutlich wird, dass die Digitalisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen zu tiefgreifenden und auch strukturellen Veränderungen führt. Jenseits der Fragen von Medienkompetenz, Gefährdungen oder Jugendschutz-Bedarfen sind damit große Chancen für die nonformalen und formalen Bildungsbereiche verbunden – dementsprechend ist die Gestaltung des digitalen Raums nicht ohne Jugend möglich. Diskurse zur Eigenständigen Jugendpolitik müssen sich daher der Netzpolitik als Teil der jugendlichen Lebenswelten annehmen.

Evidenzbasierte Politik für Jugend

Trotz einer guten Jugendberichtstradition auf Bundesebene und in immer mehr Ländern und Kommunen ist ein politisches Handlungsdefizit entstanden und es fehlt die Bereitschaft, auf Grundlage dieser wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse über die Lebensphase Jugend Entscheidungen zu treffen. Dazu bräuchte es nicht zwingend eine stets aktuelle Datenlage: Die Problemlagen beispielsweise im Bereich Schulabbruch, Bildungsbiographien in Abhängigkeit vom Elternhaus und Jugendarmut sind seit langem bekannt – und seit langem weitgehend unverändert. Vielmehr braucht es eine Politik, die bereit ist, jugendpolitische Herausforderungen nicht nur evidenzbasiert festzustellen, sondern auch nachhaltig für Verbesserungen zu sorgen, um jungen Menschen eine Perspektive auf eine gelingende Zukunft zu geben. Querschnittsorientierte Ansätze im Zusammenhang mit der Jugendberichterstattung oder auch im Rahmen der Kooperation von Kinder- und   Jugendhilfe   und   Schule   befördern eine bewusste Öffnung für andere Politikbereiche.

Herausforderungen und Wirkungen der Covid-19-Pandemie

Ein Befund der pandemiebedingten gesellschaftspolitischen Entwicklungen aus dem ersten Halbjahr 2020 lautet: Jugendpolitik ist nicht krisensicher. Dies zeigt sich in den Prioritätensetzungen bei politischen Entscheidungen genauso wie in der ungleichen Berücksichtigung von Interessen verschiedener Gesellschaftsgruppen. Der Blick für Jugendinteressen blieb häufig außen vor, in einem dynamischen Geschehen welches Politikfelder über die Systemrelevanz abgrenzte. Zu befürchten sind schwerwiegende Folgen, welche die Covid-19-Pandemie für die soziale und wirtschaftliche Teilhabe junger Menschen an der Gesellschaft haben wird. Noch unerforscht sind zum einen die psychischen Folgen in der Entwicklungsphase Jugend, etwa durch Existenzängste und Kontaktbeschränkungen.[28] Aus vergangenen Krisen wie der Finanzkrise 2009 ist bekannt, dass junge Menschen in Übergängen, wie beispielsweise beim Eintritt in das Erwerbsleben, besonders gefährdet sind und dies negative Auswirkungen auf ihre gesamte Erwerbsbiographie, ihre Gesundheit und ihre private Zukunftsplanung haben kann.[29]

Auch die Strukturen der Jugendarbeit wie Jugendverbände und -einrichtungen sind in besonderem Maße, zum Teil existenzgefährdend, durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie betroffen. Hier zeigt sich besonders, dass eine auskömmliche Absicherung der Strukturen der Jugendhilfe unbedingt vonnöten ist.[30] Allerdings ist auch festzuhalten, dass der Bund und die Länder eine Reihe von Maßnahmen zur Sicherung der Strukturen der Jugendhilfe auf den Weg gebracht haben, was die AGJ ausdrücklich begrüßt. Gleichzeitig ist die existentielle Betroffenheit von jungen Erwachsenen außerhalb von Jugendhilfestrukturen äußerst besorgniserregend, etwa die Situation für Studierende.

Die Akteurinnen und Akteure Eigenständiger Jugendpolitik sind jetzt gefordert, jungen Menschen eine Plattform zur Formulierung und Vertretung ihrer Interessen zu bieten und zugleich die Notwendigkeit von Freiräumen auch jenseits von Bildung und Beruf zu stärken. Nach der Krise müssen die Perspektiven Jugendlicher gehört und in politische Konzepte einbezogen werden. Gleichzeitig ist nun verstärkt ein Generationendialog notwendig, der die in der Öffentlichkeit verbreiteten Zuspitzungen „Jung gegen Alt“ kritisch aufgreift und für realistische Bilder einer vielfältigen Jugendgeneration eintritt.

  • Für die Umsetzung der Eigenständigen Jugendpolitik muss ein größerer Akteur*innenkreis mobilisiert werden, um mit von allen anerkannten Instrumenten in die Breite der Gesellschaft wirken zu können.
  • Grundsätze Eigenständiger Jugendpolitik müssen einen selbstverständlichen Eingang in alle politischen Ressorts finden.
  • Neben einem verbesserten Jugendberichtswesen ist unbedingt eine höhere Bereitschaft zu evidenzbasiertem politischen Handeln notwendig.
  • Mit der Klimapolitik und der Digitalisierung sind zwei der größten politischen Themen unmittelbar relevant für die Gegenwart und Zukunft junger Menschen und somit Betätigungsfelder für die Eigenständige Jugendpolitik.
  • Auch braucht es politische Antworten auf drängende Probleme, die in Folge der Covid-19-Pandemie für die Perspektiven junger Menschen entstanden sind.

V. Eigenständige Jugendpolitik als Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe

Die Kinder- und Jugendhilfe gestaltet die Lebensrealität junger Menschen in Deutschland maßgeblich mit und vertritt die Vielfalt der Interessen ihrer Zielgruppe im politischen Raum. Diese besondere anwaltschaftliche Funktion ist Teil ihres gesetzlichen Auftrags (§ 1 Abs. 3 Nr. 4 SGB VIII). Dabei ist die Jugendhilfe eine wichtige Stimme bei Beratungen zu Themen, die Jugendliche betreffen, sie ist Schnittstelle zwischen der Jugend und weiteren Teilen der Gesellschaft wie Schule, Berufswelt, Gesundheitswesen und kann damit neue Perspektiven auf Jugendliche in die Gesellschaft hineintragen. Die Jugendhilfe steht in der Verantwortung, die eigenen Jugendbilder für ihr politisches und alltägliches Handeln zu reflektieren, ihre Expertise selbstbewusst vorzutragen und gleichzeitig Jugend zu befähigen, ihre Interessen selbst zu vertreten. Sie muss dazu beitragen mediale oder politische Jugendbilder, die oft verkürzt, eindimensional und auf Probleme fokussiert sind, zu korrigieren und die Auswirkungen politischer Entscheidungen auf junge Menschen darzustellen. Jugendhilfe ist also in Bezug auf eine Eigenständige Jugendpolitik Gestalterin und wichtige Expertin und stellt die Interessen und Bedürfnisse ihrer Zielgruppen in den Mittelpunkt ihrer eigenen Arbeit.

Daraus folgt der politische Auftrag an die Jugendhilfe eine entsprechende jugendgerechte Politikgestaltung einzufordern, an der Seite junger Menschen für Veränderungen einzutreten und die institutionelle Gestaltung der Lebensphase Jugend kritisch zu begleiten.

Grundlage hierfür ist die umfassende Öffnung der Jugendhilfe für die Mitwirkung von Jugendlichen als ihr natürlicher Partner – im Sinne ihres gesetzlichen Auftrags. Strukturelle Neuerungen wie Jugendinteressensvertretungen der stationären Hilfen, Nutzer*innen-Plena in der offenen Arbeit oder die Einbindung Jugendlicher in die Jugendhilfeplanung sind Schritte in die richtige Richtung und können langfristig wirken, um die Leistungen und Angebote der Jugendhilfe noch besser an die Interessen und Bedürfnisse der Zielgruppe anzupassen. Damit wird auch der von der Eigenständigen Jugendpolitik eingeforderte Paradigmenwechsel vollzogen: weg von der Problemorientierung, hin zur Interessen- und Bedarfsorientierung.

  • Die Jugendhilfe ist zentrale Akteurin Eigenständiger Jugendpolitik und hat – nach innen und außen – durch ihre Träger und Fachkräfte einen Gestaltungsauftrag für verbesserte Lebenslagen junger Menschen.
  • Die AGJ will alle Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendhilfe dazu anregen, diese Anforderung in ihren jeweiligen Strukturen zu reflektieren und im Sinne ihres Auftrages nachzukommen.
  • Der gesetzliche Auftrag der Partizipation gilt für die gesamte Kinder- und Jugendhilfe und wird insbesondere in der Kinder- und Jugendarbeit realisiert. Jugendliche müssen diesbezüglich befähigt werden, ihre Interessen selbst zu vertreten.

VI. Forderungen und Positionierungen der AGJ

Politik für die Lebensphase Jugend

Jugend muss in der Vielfalt ihrer Lebenswirklichkeiten wahr- und ernstgenommen werden. Die Lebensphase Jugend braucht mehr Aufmerksamkeit von Politik und Gesellschaft.

  • Die AGJ setzt sich dafür ein, dass die Bedürfnisse und Interessen Jugendlicher im gesellschaftlichen Handeln und politischen Wirken Berücksichtigung finden und fordert die Weiterentwicklung und Stärkung jugendpolitischer Instrumente, wie Kinder- und Jugendberichte, Kinder- und Jugendpläne des Bundes und der Länder sowie der Jugendhilfeausschüsse.
  • Die AGJ fordert eine fortwährende, wirksame und ernstgemeinte Jugendbeteiligung auf allen staatlichen Ebenen, um eine auf die Bedürfnisse und Interessen von Jugendlichen ausgerichtete Politik etablieren zu können.
  • Die Corona-Krise hat die Brüchigkeit des Anspruches aufgedeckt, im Sinne junger Menschen zu handeln – die AGJ fordert folglich ein, weitreichende jugendrelevante Entscheidungen stets aus Sicht der Jugend heraus und mit Blick auf jugendliche Interessen zu denken. Die Eigenständige Jugendpolitik bietet in Krisenzeiten ausreichend Anknüpfungspunkte für jugendgerechtes Handeln, dies muss von den verantwortlichen Akteur*innen jedoch auch umgesetzt werden.
  • Die AGJ tritt für realistische Wahrnehmungen einer vielfältigen Jugend ein, kritisiert pauschale Jugendbilder in den öffentlichen Diskursen und regt dazu einen generationenübergreifenden Dialog an.

Jugendgerechte Politikkonzepte aller staatlichen Ebenen

Das Ziel einer umfassenden Jugendgerechtigkeit fordert eine reflektierte Berücksichtigung von Jugend und jugendlichen Lebenswelten in allen Politikfeldern und benötigt dementsprechend eine politische Prioritätensetzung. Die AGJ sieht weiteren Handlungsbedarf auf allen staatlichen Ebenen für die (Weiter-) Entwicklung einer kohärenten und umfassenden Eigenständigen Jugendpolitik.

  • Aktuelle soziale Herausforderungen und Veränderungen in der Lebensphase Jugend müssen in die Jugendpolitik von Bund, Ländern, Kommunen und auf europäischer Ebene einfließen. Für eine verbindliche Umsetzung Eigenständiger Jugendpolitik sollte diese strukturell und gesetzlich verankert werden.
  • Die AGJ begrüßt den Kabinettsbeschluss zur Umsetzung der gemeinsamen Jugendstrategie der Bundesregierung im Sinne einer Ermöglichung kohärenter Jugendpolitik und entsprechende Initiativen in den Ländern für ressortübergreifendes Handeln.
  • Die AGJ regt an, im Sinne der Jugend auch kommunal fachbereichsübergreifende Strategien für Jugendpolitik zu entwickeln und in kommunalen Prozessen zu verankern.
  • Jugendpolitik in Europa muss aus Sicht der AGJ ebenfalls als Ressort- und Querschnittspolitik umgesetzt und zum Gestaltungsmerkmal eines gemeinsamen, solidarischen und sozialen Europas werden.[31]

Jugendpolitisches Handeln der Kinder- und Jugendhilfe

Den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe obliegt die Verantwortung, im Sinne der Jugend zu agieren, zu sensibilisieren und beständig ein jugendgerechtes Handeln einzufordern.

  • Die AGJ unterstreicht ein modernes Verständnis der Kinder- und Jugendhilfe und sieht diese als natürliche Partnerin bei der selbstbestimmten Durchsetzung von Interessen junger Menschen. Dabei sind alle Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe aufgefordert, diesen Auftrag wahrzunehmen und weiterzuentwickeln.
  • Die AGJ plädiert dafür, die Lebensphase Jugend bei der kommunalen Jugendhilfeplanung als eigenständige Phase stärker in den Blick zu nehmen und junge Menschen hieran umfassender zu beteiligen.
  • Die AGJ sieht es als dringend erforderlich an, die Strukturen der Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit zu sichern und – angesichts der derzeitigen Krise – grundlegend zu stabilisieren und (neu) zu verankern.

Eigenständige Jugendpolitik ist ein Prozess – die Diskurse um sie können daher nicht abgeschlossen werden. Die Realisierung braucht eine beständige Auseinandersetzung im politischen Raum sowie die Unterstützung und Aufmerksamkeit der gesamten Kinder- und Jugendhilfe.

 

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Berlin, 02./03. Juli 2020


Fußnoten:

[1] Ansprechperson für dieses Positionspapier ist die Koordinatorin des AGJ-Projektes jugendgerecht.de – Arbeitsstelle Eigenständige Jugendpolitik: Heidi Schulze (heidi.schulze@agj.de)
[2] Im Folgenden werden die Begriffe Jugendliche, junge Erwachsene, junge Menschen und Jugend für die Beschreibung der Lebensphase zwischen 12 und 27 Jahren genutzt.
[3] Vergleiche AGJ, 2019: Grundsätze und Leitlinien Eigenständiger Jugendpolitik
[4] BMFSFJ, 2017: 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, S. 76
[5] Vergleiche AGJ, 2011: „Eigenständige Jugendpolitik. Erste Einschätzungen der AGJ“
[6] Vergleiche AGJ, 2019: Faltblatt „Zeitstrahl: 10 Jahre Eigenständige Jugendpolitik“
[7] Vergleiche Europäische Union, 2004/2005: Kommission zu Europäischen Politiken im Jugendbereich (HTML)
[8] Vergleiche BMFSFJ, 2005: Nationaler Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland 2005-2010 (PDF).
[9] Vergleiche Deutscher Bundesjugendring, 2012: Einschätzung zur Eigenständigen Jugendpolitik (HTML).
[10] Vergleiche AGJ, 2011: „Eigenständige Jugendpolitik. Erste Einschätzungen AGJ“
[11] AGJ, 2014: Ergebnispublikation Eigenständige Jugendpolitik
[12] Deutscher Bundesjugendring, 2014: Position „Jugend braucht gute Jugendpolitik“ (HTML).
[13] AGJ, 2018: „16 Wege zu mehr Jugendgerechtigkeit – Gelingensbedingungen für jugendgerechte Kommunen“
[14] Bundesratsdrucksache 86/1/13, 2013
[15] Landtagsdrucksache des Landtags Sachsen-Anhalt, 2012, 6/1704
[16] KJR Sachsen-Anhalt, 2019: Projektdokumentation „Jugend Macht Zukunft“ (PDF).
[17] Vergleiche AGJ, 2018: Positionspapier: „Partizipation im Kontext von Kinder- und Jugendarbeit – Voraussetzungen, Ebenen, Spannungsfelder“
[18] Vergleiche AGJ, 2018: Positionspapier „Teilhabe: ein zentraler Begriff für die Kinder- und Jugendhilfe und für eine offene und freie Gesellschaft“
[19] Bundesumweltministerium, 2018: Jugendstudie „Zukunft? Jugend fragen!“ (PDF).
[20] Bundesregierung, 2019: Jugendstrategie „In gemeinsamer Verantwortung“, S. 6
[21] Vergleiche AGJ, 2019: Positionspapier „Kind- und jugendgerechte Ganztagsbildung.“
[22] Dazu weiterführend: Gerhartz-Reiter/Reisenauer (Hrsg.), 2020: Partizipation und Schule. Perspektiven auf Teilhabe und Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen
[23] Zu den Bedingungen des Aufwachsens in ländlichen Räumen vgl. AGJ, 2019: Positionspapier „Jugendgerechte Bildungslandschaften in ländlichen Räumen schaffen“
[24] Weiterführend zum Thema Freiräume vergleiche AGJ, 2016: Diskussionspapier „Freiräume für Jugend schaffen“
[25] Das KomJC veröffentlicht alle Jugend-Checks auf der Homepage www.jugend-check.de
[26] Vergleiche Bundesjugendkuratorium, 2019: Zwischenruf „Jugendstrategie der Bundesregierung in gemeinsamer Verantwortung“
[27] Vergleiche MPFS, 2020: Studie „Jugend Information Medien“ JIM Plus (HTML).
[28] Erste Einschätzungen liefert der Forschungsverbund Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit, 2020: „JuCo-Studie“ (HTML).
[29] Vergleiche Bundesjugendkuratoriums, 2020: Zwischenruf „Unterstützung von jungen Menschen in Zeiten von Corona gestalten!“
[30] Vergleiche AGJ, 2020: Zwischenruf „Wenn Kümmerer*innen selbst Hilfe brauchen… Die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Kinder- und Jugendhilfe“
[31] Vergleiche AGJ, 2019: Positionspapier „Umsetzung europäischer Jugendpolitik in Deutschland ab 2019“