Mehr queer! Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Jugendalter. Queer-sensibles pädagogisches Handeln in der Jugendarbeit.

Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ[1]

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Abstract

Das Jugendalter ist eine Phase, in der junge Menschen ihre Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung erkunden, die Gestaltung von Beziehungen austarieren und Identitätsentwürfe für sich entwickeln. Obwohl die gesellschaftliche Akzeptanz für queere Identitäten wächst, erfahren viele junge queere Menschen immer noch alltäglich Herausforderungen und Diskriminierung. Denn die gesellschaftlichen Rollenvorstellungen sind oft stereotyp und führen zu sozialem Anpassungsdruck und der Angst vor Ablehnung bei queeren jungen Menschen. Insbesondere die Familie, die Schule/Ausbildungsorte und der Freundeskreis sind wichtige Orte für das Aufwachsen junger Menschen und in dieser Hinsicht genauer zu betrachten. Coming-Out-Prozesse variieren stark und finden zu verschiedenen Zeitpunkten statt. Für queere junge Menschen ist der gesamte Prozess mit vielen Verunsicherungen, Ängsten und Ungewissheiten verbunden und es braucht vorhandene Ansprechpersonen, Informationen sowie Unterstützung und Begleitung. 

Die Jugendarbeit sowie weitere Beratungsstellen können in dieser Zeit und darüber hinaus ein wichtiger Raum hierfür sein. Dabei nimmt die Jugendarbeit junge Menschen mit ihren Bedürfnissen und Interessen wahr. Die Begleitung der Entwicklung von Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung ist ein integraler Bestandteil des Auftrags und Selbstverständnisses der Jugendarbeit. Dennoch fehlt es teilweise in der Jugendarbeit noch an der Auseinandersetzung mit queeren jungen Menschen und ihren spezifischen Bedarfen und Bedürfnissen und am Selbstverständnis als queer-sensibler Ort. 

Im vorliegenden Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ wird die Bedeutung der Anliegen und Interessen von queeren jungen Menschen für die Praxis der Jugendarbeit betont und konkrete fachliche Erfordernisse zur Weiterentwicklung von Angeboten unter Berücksichtigung eines queer-sensiblen Ansatzes in der Jugendarbeit formuliert.
Neben den Ausführungen zu Identitätsarbeit als Entwicklungsaufgabe in der Jugendphase, beschreibt das Papier die Herausforderungen, denen queere junge Menschen in dieser Phase gegenüberstehen. Darauffolgend geht das Papier auf den Anspruch einer queer-sensiblen Jugendarbeit ein und setzt den Fokus auf eine diversitätsbewusste Haltung, queer-sensibles Handeln in der Jugendarbeit, queere junge Menschen als Zielgruppe, Räume und Angebote sowie die Beteiligung und den Schutz queerer junger Menschen. 

Abschließend formuliert die AGJ fachliche Erfordernisse an die verschiedenen Ebenen der Jugendarbeit: Die AGJ betont die Notwendigkeit, Diversität in der Jugendarbeit zu fördern und sich für queere junge Menschen zu öffnen. Dies erfordert die Entwicklung einer queer-sensiblen Haltung bei Fachkräften, die Einbindung von queeren Jugendlichen als Zielgruppe sowie die Schaffung und Weiterentwicklung von inklusiven Angeboten. Zudem ist es wichtig, tragfähige Netzwerke zu entwickeln, Diskriminierung wahrzunehmen und Schutzkonzepte zu implementieren, um queeren Jugendlichen eine sichere Umgebung zu bieten. Die Beteiligung queerer junger Menschen ist für all das die Grundlage.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung
Identitätsarbeit als Entwicklungsaufgabe in der Jugendphase
Herausforderungen queerer junger Menschen in der Identitätsentwicklung
     Im Freund*innenkreis
     In der Familie
     In der Schule und Ausbildung
     In Freizeit und Jugendarbeit
Queer-sensible Jugendarbeit
     Diversitätsbewusste Haltung
     Queer-sensibles Handeln in der Jugendarbeit
     Queere junge Menschen als Zielgruppe
     Räume und Angebote
     Beteiligung queerer junger Menschen
     Schutz queerer junger Menschen
Fachliche Erfordernisse
     Diversität fördern
     Haltung weiterentwickeln
     Queere junge Menschen als Zielgruppe verstehen
     Angebote weiterentwickeln
     Beteiligung ermöglichen
     Tragfähige Netzwerke entwickeln
     Diskriminierung wahrnehmen und bearbeiten
     Schutzkonzepte umsetzen

Einleitung

Das Jugendalter ist eine Lebensphase, in der erste eigenständige Identitätsentwürfe entwickelt und ausprobiert werden. Ein zentraler Bereich ist dabei die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsidentität, der sexuellen Orientierung sowie den persönlichen Wünschen bei der Gestaltung von Beziehungen und dem Erleben von Intimität in Partner*innenschaften. Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt im Jugendalter ist gesellschaftlich immer weniger Tabuthema. Rund 11 Prozent der 14-bis 29-Jährigen[2] beschreiben sich in Deutschland als queer[3]. Eine queere Identität bringt für viele junge Menschen im Alltag jedoch immer noch viel zu häufig Herausforderungen und abweisende oder gar feindselige Reaktionen mit sich. Zugleich steigt die Zahl der als queerfeindlich registrierten Straftaten weiter an.[4] Der Umgang mit der Angst vor Ablehnung, erlebter oder befürchteter Diskriminierung sowie Ängste vor einem Coming-Out prägen den Alltag queerer junger Menschen.

Die Jugendarbeit bietet Räume, an denen sich junge Menschen begegnen, ihre Belange einbringen, sich selbst organisieren, Vielfalt erleben und mit Konflikten umzugehen lernen. Die Angebote der Jugendarbeit richten sich an alle jungen Menschen und orientieren sich an ihren Bedarfen und Interessen. Junge Menschen werden hier mit ihren Themen ernst genommen, in ihrer Entwicklung begleitet und bei einer selbstbestimmten Gestaltung ihres Lebens unterstützt. Für queere junge Menschen stellt es eine Herausforderung dar, geeignete Orten zu finden, an denen sie ihre spezifischen Identitätsentwürfe und Bedürfnisse offen thematisieren können und dafür Anerkennung finden. Es gehört zu dem Auftrag und dem Selbstverständnis der Jugendarbeit, die Entwicklung von Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung zu begleiten. Das schließt ein, dass sie sich ebenfalls als ein Ort für queere junge Menschen begreift und ihre spezifischen Interessen und Themen sensibel aufgreift sowie den Schutz vor Diskriminierungen bietet.

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ beleuchtet mit diesem Positionspapier die Relevanz der Bedarfe, Interessen und Belange queerer junger Menschen für die Praxis der Jugendarbeit, den Umgang mit Diskriminierungen und setzt sich mit bestehenden und neuen Handlungskonzepten auseinander. Anhand konkreter fachlicher Erfordernisse thematisiert das Papier die Weiterentwicklung von Angeboten der Jugendarbeit auf der Grundlage einer queer-sensiblen Sozialpädagogik. 

Identitätsarbeit als Entwicklungsaufgabe in der Jugendphase

Die Jugendphase hat eine besondere Bedeutung in der Entwicklung junger Menschen. Sie geht einher mit einer kritischen Auseinandersetzung mit der Umwelt, einer zunehmenden Verselbständigung und Selbstpositionierung. Bisher erlebte Lebensmodelle und Wertevorstellungen werden hinterfragt und neue Erfahrungen in den Prozess der Persönlichkeitsentwicklung integriert. Diese Identitätsarbeit vollzieht sich über Selbstnarrationen und eine Aushandlung von Konflikten in verschiedenen Teilbereichen. Die sexuelle Identität stellt dabei einen wesentlichen Bestandteil der eigenen Identitätskonstruktion dar. Sie bezeichnet sowohl das geschlechtliche Selbstverständnis[5] als auch die sexuelle Orientierung.[6]

Die Entwicklung eigenständiger Identitätsentwürfe wird neben biologischen und psychischen Prozessen auch durch die Interaktion mit anderen Menschen geprägt. Unter anderem beeinflussen die soziale Herkunft, das familiäre Umfeld sowie Gruppenzugehörigkeiten unter Gleichaltrigen die Perspektiven der persönlichen Identitätsentwicklung. Das persönliche Selbstkonzept beruht dabei auf einem immer wieder neu herzustellenden Kohärenzgefühl, durch das die eigene Identität trotz erlebten Veränderungen und Widersprüchen als stimmig empfunden wird. Auch wenn in modernen Gesellschaften vielfältige Selbstpositionierungen möglich sind, haben tradierte gesellschaftliche Normierungen einen besonders wirkmächtigen Einfluss auf die Entwicklung persönlicher Lebensentwürfe. Insbesondere Heteronormativität, die auf der eindeutigen Zuordnung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht und dem ausschließlichen Begehren zwischen Mann und Frau beruht, prägt als soziale Norm das Aufwachsen junger Menschen. Subtil vermittelt sich diese Norm im alltäglichen Leben unter anderem über Werbung, Kleidung, die Aufteilung von Sportteams, in Videospielen oder die zur Auswahl stehenden Toilettenbereiche. 

Die Pluralisierung von Lebensvorstellungen und ihre zunehmende Sichtbarkeit ermöglichen es jungen Menschen, sich mit vielfältigen Entwürfen auseinanderzusetzen und sich diese in Bezug auf ihr eigenes Leben handelnd zu erschließen. Gleichzeitig stellt diese Pluralisierung geradezu einen Positionierungszwang im Rahmen der eigenen Identitätsarbeit her, der nur über eine aktive und bewusste Entscheidung gelöst werden kann und einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen oder im persönlichen Umfeld verankerten Werte- und Normvorstellungen bedarf. Eine besondere Herausforderung besteht für junge Menschen dann, wenn ihre persönlichen Vorstellungen keine soziale Anerkennung finden oder offene Ablehnung erfahren.

Herausforderungen queerer junger Menschen in der Identitätsentwicklung

Auch wenn in den letzten Jahrzehnten gesellschaftliche Veränderungen zu beobachten sind, die beispielsweise über die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, die Diskussion um das Selbstbestimmungsgesetz oder die Aufnahme von vielfältigen Geschlechtsidentitäten in das Kinder- und Jugendhilfegesetz schrittweise eine Anerkennung von Vielfalt und Selbstpositionierungen fördern, gehen Abweichungen von cis-heteronormativen[7] Selbstkonzepten für junge Menschen immer mit besonderen Herausforderungen einher. Es kann davon ausgegangen werden, dass zwischen 7% und 11% der Gesamtbevölkerung sich einer sexuellen Identität jenseits heteronormativer Vorstellungen zugehörig fühlen.[8] In einer europäischen Erhebung aus dem Jahr 2016[9] identifizierten sich 11% der befragten 14- bis 29-Jährigen in Deutschland als lesbisch, schwul, bisexuell oder trans*. Gleichzeitig deuten Erhebungen[10] darauf hin, dass sich trennscharfe sexuelle Orientierungen nicht mit dem subjektiven Erleben junger Menschen decken müssen und die Übergänge zwischen ihnen verschwimmen. Auch wenn eine umfassende statistische Datenlage fehlt, bieten diese Werte einen Anhaltspunkt für die Ausdifferenzierung sexueller und geschlechtlicher Identitätsentwürfe junger Menschen.

Der Prozess des eigenen Bewusstwerdens, der Entwicklung und dem öffentlichen Benennen einer sexuellen Identität, die von heteronormativen Geschlechterrollen abweicht, wird als Coming-Out bezeichnet. Hierbei lässt sich das innere Coming-Out als persönliche Selbstvergewisserung der eigenen sexuellen Identität von dem äußeren Coming-Out unterscheiden, in dessen Verlauf das soziale Umfeld in Kenntnis gesetzt wird bzw. die sexuelle Identität öffentlich ausgelebt wird. Dieses öffentliche Einstehen wird auch als Going Public[11] bezeichnet. Für queere junge Menschen ist der gesamte Prozess mit vielen Verunsicherungen, Ängsten und Ungewissheiten verbunden. Auch wenn es mittlerweile Rollenvorbilder gibt, die über Medien ein öffentliches Bewusstsein für queere Lebenswelten schaffen, sind die gesellschaftlich vermittelten Rollenvorstellungen nach wie vor sehr stereotyp und führen im persönlichen Umfeld häufig zu pauschalen und abwertenden Einstellungen. Insbesondere in der Familie, in der Schule und im weiteren Freundeskreis erleben queere junge Menschen einen sozialen Anpassungsdruck und haben Angst vor Ablehnung.

Generell durchleben queere Menschen Prozesse ihres Coming-Outs in sehr unterschiedlichen Formen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Insbesondere bei inter- und trans*-Personen setzt der Bewusstwerdungsprozess oft deutlich früher ein als bei lesbischen, schwulen, pan-sexuellen oder bi-sexuellen Personen. Manche queere junge Menschen verzichten auch aus Angst vor Ablehnung und Ausgrenzung auf eine Offenbarung nach außen. Für andere ist die sexuelle Orientierung nicht in allen Kontexten relevant und sie entscheiden sich bewusst in einigen Lebensbereichen, ihre Queerness nicht öffentlich zu machen, zu zeigen und zu thematisieren. Wieder andere machen ihre Queerness durch Praktiken wie Händchenhalten oder eine andere Art der Präsentation öffentlich, aber nicht zwingendermaßen durch ein verbalisiertes Coming-Out. Einen fundierten Überblick über die Prozesse des Coming-Outs gibt hier die Studie „Coming-out – und dann…?!“ von Claudia Krell und Kerstin Oldemeier[12] aus der im Weiteren einige Befunde einfließen werden. Die Studie ist von 2015 und um ein aktuelles Bild zu zeichnen, bräuchte es neuere Zahlen und Untersuchungen zu jungen queeren Menschen und ihrem Empfinden. Denn in den letzten Jahren ist in einigen Bereichen einiges an Sensibilisierung im Umgang mit dem Thema Queerness und queeren jungen Menschen geschehen, wodurch die Zahlen sich ggf. verändert haben könnten. 

Im Freund*innenkreis 

Häufig vertrauen sich queere junge Menschen zuerst einer oder mehrerer Personen aus dem engeren Freund*innenkreis an. Dies sind Personen, denen sie stark vertrauen und von denen sie sich eine wohlwollende und bestärkende Reaktion erhoffen. Mehrheitlich erfahren sie über Freund*innen in ihrem engen Umfeld Akzeptanz und wertvolle Unterstützung. Dennoch erleben sie ebenfalls Formen des sozialen Gruppendrucks, der aus generellen Ansichten, abwertenden Kommentaren und cis-geschlechtlichen, heteronormativ geprägten Selbstinszenierungen innerhalb der Peer Group entsteht. Dabei spielt auch eine Rolle, ob junge Menschen in großstädtischen oder eher ländlich geprägten Regionen aufwachsen und inwiefern das eigene Umfeld durch weltanschauliche Einstellungen, beispielsweise durch religiöse Zugehörigkeiten, geprägt ist. Sie machen im Freund*innenkreis sowohl die Erfahrung, dass ihre sexuelle Orientierung zu stark betont wird als auch, dass ihre geschlechtliche Identität nicht angemessen mitgedacht wird.

Queere junge Menschen suchen darüber hinaus auch Anschluss an queere Communities, der häufig über das Internet erfolgt. Hier können sie sich zu ihren Fragen, Themen und Sorgen austauschen, Freund*innenschaften schließen, sich gemeinsam organisieren und Freizeit gemeinsam gestalten. Hier können sie auch entscheiden, sich anonym Wissen zu erschließen und Kontakte zu anderen zu entwickeln. Die Sichtbarkeit queerer Lebensthemen im Internet ermöglicht es ebenfalls, eigene Gefühle und Lebensvorstellungen zuzulassen und konkrete Zukunftsentwürfe zu entwickeln. Da Kontakte in digitalen Räumen und sozialen Medien mit einer geringeren Verbindlichkeit als im direkten sozialen Umfeld einhergehen, können sich jedoch auch Gefühle der Vereinsamung einstellen. Gleichzeitig ist das Internet auch ein Raum, in dem irreführende und falsche Informationen geteilt werden sowie offen Ablehnung und Hass erfahren wird. Expert*innen sprechen von einer wachsenden Welle des Hasses und der Dämonisierung, die sich gegen queere Menschen im Netz richten.[13] Dies zeigt z. B. auch eine aktuelle Forsa-Studie, die nach Personengruppen fragte, gegen die sich Hass im Internet richtet. Hier sagten 36 %[14] der Befragten, dass ihnen Hasskommentare gegen Angehörige der queeren Community aufgefallen sein.[15] 

In der Familie

Die Familie spielt beim Aufwachsen junger Menschen eine große Rolle und ist als erste Sozialisationsinstanz oft Wertekompass, Orientierungsrahmen und im besten Fall ein Ort, an dem Akzeptanz und Unterstützung erlebt wird. Sie ist einerseits wertvolle Ressource, aber auch mit einer besonderen Angst vor Ablehnung verbunden. So gaben 69% der lesbischen, schwulen, bisexuellen und orientierungs*diversen Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie 77% der trans* und gender*diversen Jugendlichen und jungen Erwachsenen[16] an, dass die Ablehnung der eigenen Familie bei einem äußeren Coming-Out für sie an zweiter Stelle ihrer Befürchtungen steht. Hierbei spielen die Sorge vor Unverständnis, Ablehnung, Kontaktabbrüchen und die bestehende materiellen Abhängigkeit eine besondere Rolle. 

Der Zeitpunkt der ersten Gespräche im familiären Rahmen ist unterschiedlich. Er hängt davon ab, wann sich die jungen Menschen selbst ihrer sexuellen Identität bewusst werden und wie Themen der geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt in der eigenen Familie behandelt werden. Je stärker cis-heteronormative Vorstellungen vermittelt werden oder andere Lebensentwürfe abgelehnt werden, umso schwieriger gestaltet sich dieser Prozess. Queere junge Menschen erleben darin vielfältige Konflikte, da sie das Bedürfnis haben, über ihre Gefühle zu sprechen und verletzende Erfahrung einer persönlichen Ansprache zu vermeiden, die sich nicht mit ihrer sexuellen Identität deckt. Die eigene Identität innerhalb der Familie verstecken zu müssen, führt zu psychischem Druck und einer ständigen Sorge, dass das vermeintliche Anderssein in einem unpassenden Augenblick entdeckt wird.

Die Erfahrungen in der Familie sind sehr unterschiedlich. Oft entwickeln sich Situationen entlang der bisher gemachten Beziehungserfahrungen bzw. den bereits bestehenden Belastungen im Zusammenleben. Dennoch geben 44 Prozent[17] der nicht heterosexuellen Jugendlichen und jungen Erwachsenen an, dass sie Abwertung, positive Diskriminierung, Drohungen oder Übergriffe als Diskriminierungsformen in der Familie selbst erlebt haben. 79%[18] der trans* und gender*diversen Jugendlichen und jungen Erwachsene geben an, dass sie in der engeren Familie vor allem die Erfahrung gemacht haben, mit ihrer geschlechtlichen Identität nicht ernst genommen zu werden. 61% erlebten, dass ihre geschlechtliche Identität absichtlich ignoriert wurde.[19] 

In der Schule und Ausbildung

Junge Menschen verbringen einen großen Teil ihrer Zeit in Bildungsinstitutionen. Hier entwickelt sich eine Vielzahl an sozialen Kontakten und Freundschaften. Dabei erleben queere junge Menschen oft frühzeitig, dass ihre Geschlechtsidentität nicht den Erwartungen anderer entspricht. Innerhalb des Klassenverbandes oder in anderen Gruppenkonstellationen machen sie Erfahrungen, in denen cis-heteronormative Vorstellungen unhinterfragt präsentiert werden und andere sexuelle Identitäten Ablehnung erfahren. Oft vermittelt sich dies bereits über beleidigende Schimpfwörter oder Witze über queere Menschen. Das ist auch dann der Fall, wenn dies nicht direkt auf die eigene Person bezogen ist. Neben dem Verhalten der Gleichaltrigen verstärkt sich dies auch durch die Reaktionen von Lehrkräften, wenn stereotype Geschlechterrollen reproduziert werden und die Vielfalt sexueller Identitäten nicht ernst genommen oder bei diskriminierenden Witzen mitgelacht wird.[20] 

So erleben junge Menschen teilweise jahrelang Diskriminierungen und Mobbing, bereits bevor überhaupt eine eigene Selbstpositionierung gefunden ist. In der Studie aus 2015 geben 56% der jungen Menschen an, dass sie in Bildungsinstitutionen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung „beschimpft, beleidigt, lächerlich gemacht“ wurden. Rund 35% der queeren jungen Menschen berichten davon, sich ausgegrenzt zu fühlen. Auch Beschimpfungen, Drohungen bis hin zu physischer Gewalt sind Erfahrungen, denen sich queere junge Menschen häufiger ausgesetzt sehen. Dies führt dazu, dass der Schulbesuch mit Angsterfahrungen besetzt sein kann und das Selbstbewusstsein, die Konzentration im Unterricht und die schulischen Leistungen leiden können. Ein Resultat dessen kann sein, dass sie dem Unterricht fernbleiben, um diskriminierende Erfahrungen zu vermeiden. Der psychische Druck bewirkt, dass sich mehr als die Hälfte mit deprimierenden Gefühlen konfrontiert sieht, ein erhöhtes Risiko für Substanzmittelmissbrauch entsteht und ein Drittel von ihnen Suizidgedanken entwickelt. Jedoch ist festzustellen, dass sich in den letzten Jahren einiges im Kontext Schule zum Positiven verändert hat und das Thema in Lehrer*innenfortbildungen, Schulkultur, Workshops etc. sichtbarer ist. Aktuellere Zahlen zu Diskriminierungserfahrungen wären wichtig, um diese gefühlten positiven Entwicklungen statistisch zu überprüfen. 

Im Bereich der Berufswahl und Ausbildung bzw. des Studiums setzen sich diese Konflikte fort. Die Berufswahl ist stark verknüpft mit gesellschaftlich vermittelten Geschlechterrollen. So ist oft bereits die Entscheidung für einen Beruf nach eigenen Wünschen und Vorstellungen konfliktbeladen. Ablehnungsverhalten und Diskriminierung sind Erfahrungen, die innerhalb der Ausbildungsklassen, der Studiengruppen und des Kollegiums am eigenen Arbeitsplatz weiterhin erlebt werden. 

In Freizeit und Jugendarbeit

Neben der Familie, Bildungsinstitutionen und dem Freundeskreis sind Orte und Gelegenheiten, die junge Menschen in ihrer Freizeit nutzen, wichtig für ihre Persönlichkeitsentwicklung. Sie gehen ihren Interessen und Freizeitvorstellungen nach, entdecken neue Hobbys und erleben sich in frei wählbaren sozialen Situationen. Queere junge Menschen suchen Räume, in denen sie ihre Freizeit frei gestalten und Anerkennung ihrer Persönlichkeiten finden können. Gleichzeitig führen erlebte Belastungssituationen und besondere Herausforderungen bei der selbstbestimmten Lebensgestaltung zu einem Bedarf an Austausch und Unterstützung zu spezifischen Fragestellungen. Aufgrund von erfahrener Ablehnung und Diskriminierung wünschen sie sich eine sichere Umgebung, in der eine Offenheit zur Vielfalt sexueller Identitäten besteht. Dies können einerseits Angebote sein, die sich explizit an queere junge Menschen richten und spezifische Lebensthemen und Identitätsentwürfe aufgreifen. Andererseits können es auch Orte sein, die eine Offenheit für alle junge Menschen repräsentieren. 

Über den Austausch und die Vernetzung im Internet sowie soziale Medien sind spezifische Angebote für queere junge Menschen gut bekannt. Dennoch geht die Recherche oft mit einem erhöhten Aufwand und einer Überwindung einher, die auch von der Angst begleitet sein kann, bei der Suche oder über den Browserverlauf von Familie oder Peers „entdeckt“ zu werden. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass spezifische Angebote für queere junge Menschen regional unterschiedlich verteilt sind und diese in Großstädten eher gefunden werden können. In ländlichen Regionen sind diese jedoch meist nicht vorhanden. Eine Erreichbarkeit der nächstgelegenen Angebote über den öffentlichen Nahverkehr ist dabei oft mit zusätzlichen Einschränkungen verbunden. 

In Freizeitangeboten, die sich an alle jungen Menschen richten, besteht für queere junge Menschen das Risiko, dass erneut ablehnendes Verhalten, Ausgrenzung und Diskriminierung erlebt werden und sich als Erfahrung verdichten. Da sich die Jugendphase auch durch Gruppenzugehörigkeiten und Abgrenzungsverhalten auszeichnet, durch das junge Menschen eigene Identitätsentwürfe entwickeln, sind Orte der Freizeitgestaltung auch immer Orte der konflikthaften Aushandlung von Interessen, Bedürfnissen und Vorstellungen. Dabei führen Unwissen, unbewusst übernommene Einstellungen und eigene Unsicherheiten schnell dazu, dass eine erlebte Andersartigkeit als Bedrohung wahrgenommen wird oder eine eigene Anerkennung durch die Gruppe über eine Abwertung anderer gesucht wird. 

Queer-sensible Jugendarbeit

Jugendarbeit hat nach § 11 SGB VIII den gesetzlichen Auftrag, jungen Menschen Angebote zur Verfügung zu stellen, die sie in ihrer Entwicklung fördern und Teilhabe durch eine umfassende Beteiligung ermöglichen. Für viele junge Menschen bietet sie persönlichkeitsstärkende Erlebnisse, Erfahrungen der Selbstwirksamkeit sowie eine erste eigene Beteiligung an demokratischen Entscheidungsprozessen. Sie orientiert sich an den Interessen, Bedürfnissen und Wünschen der jungen Menschen und verpflichtet sich zu den Strukturmerkmalen der Offenheit, Freiwilligkeit und Niedrigschwelligkeit. Die Zugänge für alle jungen Menschen und ihre Möglichkeiten zum Mitmachen sollen dabei so einfach wie möglich sein. Mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz sind neben der expliziten Verpflichtung auf eine inklusive Ausgestaltung von Jugendarbeit auch die Lebenslagen von queeren jungen Menschen hervorgehoben worden. Unter der Grundidee der Gleichberechtigung von jungen Menschen ist in § 9 SGB VIII die Anforderung an alle Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe verankert, die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen, Jungen, transidenten, nichtbinären und intergeschlechtlichen jungen Menschen zu berücksichtigen.

Einrichtungen der Jugendarbeit bieten damit vielfältige Potenziale für die selbstbestimmte Freizeitgestaltung queerer junger Menschen. Dennoch können das Image von Einrichtungen, die bisher vertretenen Besucher*innengruppen, eine mangelnde Adressierung von queeren jungen Menschen und Erfahrungen gruppendynamischer Prozesse und Konflikte vor Ort Gründe dafür sein, die Angebote nicht wahrzunehmen. Es muss der Anspruch der Jugendarbeit sein, sich derartiger Ausgrenzungs- und Verdrängungsprozesse immer wieder bewusst zu werden und neben den Bedürfnissen aller Besucher*innen vor allem auch diejenigen besonders in den Blick zu nehmen, die mit den Angeboten bisher nicht erreicht werden konnten und eine besondere Vulnerabilität aufweisen. In diesem Sinn ist es eine fachliche Anforderung, das eigene Handeln in der Jugendarbeit vor dem Hintergrund einer queer-sensiblen Weiterentwicklung zu reflektieren und queere junge Menschen mit ihren Bedürfnissen als Zielgruppe zu berücksichtigen.

Diversitätsbewusste Haltung

Eine diversitätsbewusste Haltung setzt voraus, dass Pluralität wahrgenommen, anerkannt und wertgeschätzt wird. Für eine lebensweltorientierte Jugendarbeit, die sich parteiisch für die Bedürfnisse und Vorstellungen junger Menschen einsetzt, ist die Förderung subjektiver Identitätsvorstellungen und Ausdrucksweisen eine notwendige Voraussetzung. Das schließt die Begleitung von Selbstkonzepten ausdrücklich ein, die jenseits einer gesellschaftlich geprägten Heteronormativität entwickelt werden und deshalb in besonderer Weise mit Verunsicherungen und negativen Erfahrungen einhergehen. Es ist verständlich, wenn auf Seiten der Fachkräfte Unsicherheiten im Umgang mit queeren Lebenswelten bestehen, gerade wenn ein Zugang zu diesen im persönlichen Lebensbereich bisher nicht besteht. Neben der Wissensaneignung zu sexuellen Identitäten, queeren Alltagserfahrungen, gesellschaftlichen Entwicklungen und fachspezifischen Konzepten sind Interessenvertretungen und Fachstellen für die Anliegen queerer junger Menschen eine wichtige Unterstützung, um die fachliche Haltung weiterzuentwickeln und sich kritisch mit heteronormativen Vorstellungen auseinanderzusetzen. Über Weiterbildungen lassen sich neben der Wissensanreicherung auch sexualpädagogische Methoden, ein kritischer Blick auf bestehende Methoden kennenlernen und ausprobieren, um die eigene Handlungssicherheit in Situationen zu erhöhen, in denen junge Menschen Aspekte sexueller Identitäten in die Räume der Jugendarbeit einbringen. Diese sind auch geeignet, um mögliche persönliche Hemmnisse zu überwinden und sich anzueignen, wie man explizit über Sexualität, sexuelle Praktiken, Geschlechtsorgane und deren Funktionen sowie homoerotische Gedanken und Gefühle mit jungen Menschen in jugendgerechter Weise sprechen kann. Dies setzt sowohl eine Eigenverantwortung der Fachkräfte voraus, sich in diesem Bereich Wissen aneignen zu wollen, als auch Träger, die Haupt- und Ehrenamtliche durch zur Verfügung gestellte Ressourcen und Eigeninitiativen darin unterstützen. Letztlich ist es erforderlich, queere junge Menschen als Zielgruppe in den pädagogischen Konzepten zu verankern. Eine diversitätsbewusste Haltung setzt zusätzlich voraus, dass Fachkräfte vor diversitätsfeindlichen Haltungen und Anfeindungen durch ausreichende Maßnahmen der Träger geschützt werden.

Queer-sensibles Handeln in der Jugendarbeit

Jugendarbeit lebt von den Interaktionen und den Aushandlungsprozessen zwischen den anwesenden Personen. Junge Menschen präsentieren und inszenieren sich in den Räumen der Jugendarbeit, die im Fachdiskurs deshalb auch als „Arena“ beschrieben werden. Dies umfasst auch die Inszenierung einer sexuellen Identität im Kontext von bestehenden Gruppenzugehörigkeiten und Abgrenzungen. Gleichzeitig sind auch hauptamtliche und ehrenamtliche Akteur*innen selbst Teil der Interaktionen und prägen als teilweise selbst queere Rollenvorbilder mit ihren Lebensentwürfen und ihrem Handeln die Wahrnehmung von jungen Menschen und ihre Handlungsmöglichkeiten. Das bedeutet auch, dass neben der Reflexion der eigenen Einstellungen und des eigenen fachlichen Handelns auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsidentität, Rollenvorstellungen und sexuellen Orientierung notwendig ist, um junge Menschen in diesen zentralen Lebensthemen begleiten zu können. Ein sensibles Gespür für Situationen, Gesprächsführung und die Wirkung des eigenen Handelns sind von zentraler Bedeutung, da die Auseinandersetzung mit Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen sowie die (teil-)öffentliche Verständigung dazu mit einer großen Verunsicherung und Schamgefühlen einhergehen kann. Umso wichtiger ist es für junge Menschen zu erleben, dass ihnen Fachkräfte begegnen, die ihnen ehrlich interessiert und wohlwollend zuhören sowie ein Gefühl der Sicherheit und Vertraulichkeit vermitteln. Eine diversitätssensible Haltung bedeutet dabei auch, zwar Aspekte von Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen immer mitzudenken, junge Menschen jedoch nicht darauf zu reduzieren und sie selbst entscheiden zu lassen, an welchen Stellen sie dies einbringen möchten. 

Queere junge Menschen als Zielgruppe

Jugendarbeit richtet sich an alle jungen Menschen. Dennoch sind bewusste Entscheidungen notwendig, um queere junge Menschen mit den Angeboten anzusprechen und ihnen den Zugang zu erleichtern. In der öffentlichen Darstellung von Einrichtungen ist es wichtig, dass sich queere junge Menschen angesprochen fühlen. Das kann über diversitätsorientierte Beiträge auf Social Media, über die Verwendung einer gendergerechten Sprache, die Verwendung von Pride Flags und Symbolen der queeren Community sowie die Hinweise auf eigens für diese Zielgruppe entwickelten Angebote geschehen. Gleichzeitig sind bestehende Zugangsbarrieren und Hemmfaktoren zu reflektieren und die derzeitige Nutzung der Räume und Angebote hinsichtlich einer immer wieder neu herzustellenden Offenheit für alle junge Menschen zu hinterfragen. In diesem Sinn sind queere junge Menschen als eine besondere Zielgruppe der Jugendarbeit zu verstehen, für die geeignete Zugangsmöglichkeiten zu entwickeln sind. Hierbei sollten queere junge Menschen selbst eingebunden sein und die Expertise bestehender Fachstellen genutzt werden.

Räume und Angebote

Auch bei der Gestaltung der Räume sollte Wert darauf gelegt werden, dass Vielfalt erkennbar wird und queere junge Menschen Anhaltspunkte finden, dass eine Offenheit für die Diversität von Selbstkonzepten besteht. Dies kann sich unter anderem an Sanitäranlagen für alle Geschlechter, queer-sensibler Zimmeraufteilung bei Freizeiten, Rückzugsräumen, Pride-Flags, sichtbarem Infomaterial etc. äußern. Je eher sich queere junge Menschen in der Gestaltung und den Nutzungsmöglichkeiten wiederfinden, umso eher werden sie sich die Räume ebenfalls aneignen und sich während des Besuchs wohlfühlen. Die Sichtbarkeit vielfältiger Lebensentwürfe wird auch die Thematisierung queerer Realitäten mit den jungen Menschen fördern und Gesprächsanlässe schaffen, die sich im Rahmen heteronormativer Identitätsentwürfe positionieren. Dadurch kann eine Ausgangslage geschaffen werden, um eine Offenheit für Diversität nicht nur äußerlich zu präsentieren, sondern zum Gegenstand der inhaltlichen Arbeit vor Ort zu machen. 

Angebote zur Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsidentität, sexuellen Orientierungen und gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen sind mittlerweile in vielen Einrichtungen der Jugendarbeit etabliert. In ihnen können ganz gezielt Impulse gesetzt werden, sich mit Lebensthemen queerer junger Menschen zu beschäftigen und eigene Perspektiven zu erweitern. Gleichzeitig lassen sich Angebote explizit für queere Menschen schaffen, in denen sie sich in einem geschützten Rahmen zu ihren Erfahrungen, Fragen und Herausforderungen austauschen können. Über eine Zusammenarbeit mit Trägern von Angeboten für queere junge Menschen können Kooperationen gestaltet werden, durch die junge Menschen auch andere Anlaufpunkte kennenlernen, um sich vertiefend mit der Entwicklung ihrer sexuellen Identität zu beschäftigen. Über Kontakte zu spezifischen Beratungsstellen können sie Unterstützung in Lebensentscheidungen finden, die über den Kompetenzbereich der Jugendarbeit hinausgehen und eine intensive persönliche Begleitung erfordern.

Die Aushandlung, welche Angebotsformen sinnvoll sind, ob sich diese dezidiert an queere junge Menschen richten oder für alle Besucher*innen offenstehen und ob es besonderer Räum- und Möglichkeiten bedarf, in denen sich eine Untergruppe junger Menschen mit besonderem Schutz- oder Rückzugsbedarf geschützt aufhalten können, ist jeweils mit den jungen Menschen unter Berücksichtigung ihrer heterogenen individuellen Bedürfnisse zu führen. Dabei können ganz unterschiedliche, zu den jeweiligen Ausgangsbedingungen passende Lösungen gefunden werden, die so lange Bestand haben, bis sich die Bedürfnisse der jungen Menschen verändern. Diese Veränderbarkeit ist auch dann beizubehalten, wenn erste Umsetzungsversuche nicht gelingen oder junge Menschen widersprüchliche Wünsche äußern.

Beteiligung queerer junger Menschen

Beteiligung ist ein Kernmerkmal von Jugendarbeit. Es wird im gesetzlichen Auftrag bereits hinsichtlich der Vorhaltung von Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten, der Befähigung zu Selbstbestimmung und der Anregung zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und sozialem Engagement differenziert und damit die Beteiligung als Pflicht vorgegeben. Die Bedeutung der Jugendarbeit für die Demokratiebildung ist groß und Jugendarbeit ist eine pädagogische Organisation, die Kinder und Jugendliche in schwierigen Lebensverhältnissen nicht als defizitär und hilfsbedürftig thematisiert, sondern als eigensinnig und fähig zur Selbst- und Mitbestimmung sowie zur politischen Einmischung.[21]

Die Realisierung von Mitgestaltungsrechte und die Möglichkeiten einer freien, selbstbestimmten Entfaltung, schließt die Beteiligung von jungen Menschen mit spezifischen Bedürfnissen ein. In diesem Sinne sind Beteiligungsprozesse so zu gestalten, dass sich queere junge Menschen einbringen und ihre Bedürfnisse zur Geltung kommen können. Das umfasst neben der o.g. Gestaltung und Nutzung der Räume, die Angebote und Themensetzungen der Einrichtung sowie die Regeln des Zusammenseins. Die Fachkräfte müssen zugleich signalisieren, auch in Bezug auf die eigene Arbeit offen für kritisches Feedback zu sein.

Einzelnen Aspekten in der praktischen Umsetzung von Angeboten und Abläufen kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Hierzu lassen sich beispielsweise gemeinsam zu treffende Entscheidungen aufführen, wie die passenden Toilettenräume zur Verfügung gestellt werden können, mit welchen statistischen Kategorien eine Teilnahme erhoben wird, wie Schlafsituationen bei Übernachtungen und mehrtägigen Ausfahrten organisiert werden können, wie sich Verunsicherungen der Besucher*innen auffangen und begleiten lassen sowie eine Isolation und Ausgrenzung queerer junger Menschen verhindert werden kann. Hierbei braucht es Entschlossenheit, gemeinsam im Prozess zu lernen und schrittweise passende Lösungen zu finden, die von Zeit zu Zeit hinterfragt und verändert werden können.

Schutz queerer junger Menschen

Queere junge Menschen sind häufiger von Ausgrenzungserfahrungen, Diskriminierung und Gewalt betroffen. Die Realisierung des Schutzauftrags ist in Angeboten und in Einrichtungen der Jugendarbeit – aber auch in allen anderen Einrichtungen und Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe – deshalb besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Eine Aushandlung unterschiedlicher Vorstellungen, Interessen und Ansichten verläuft in der Jugendarbeit oft über Konflikte und deren Bearbeitung. Dies ist auch dort zu erwarten, wo queere junge Menschen eine Nutzer*innengruppe darstellen und sie Teil des Aushandlungsprozesses sind. Es kann in der Jugendarbeit nicht das Ziel sein, Konflikte an sich zu vermeiden oder diese von vornherein ausschließen zu wollen. Sie stellen eine wertvolle Erfahrung bei der Entwicklung eigener Identitäten dar und ermöglichen eine gegenseitige Verständigung. Es ist jedoch darauf zu achten, dass diese sozialpädagogisch gerahmt werden und Regeln der gemeinsamen Aushandlung eingehalten werden, und hierdurch bei den jungen Menschen Vertrauen aufgebaut wird, so dass diese nicht in Anbetracht eines ggf. schwelenden Konflikts in den Rückzug gehen. Formen der Diskriminierung müssen sowohl als solche erkannt und benannt als auch aufgearbeitet werden. Junge Menschen brauchen die Sicherheit, dass sie sich mit ihrer Vulnerabilität vertrauensvoll an Fachkräfte wenden können und diese für eine sichere Umgebung sorgen. 

Es ist generell zu begrüßen, wenn Einrichtungen der Jugendarbeit flächendeckend jeweils eigene institutionelle Schutzkonzepte entwickeln. In der Arbeit mit queeren jungen Menschen sind diese insofern von besonderer Bedeutung, dass sie sich bei der Nutzung der Einrichtung wohlfühlen und die erforderlichen Vorkehrungen getroffen sind, um Schutz vor übergriffigen Verhaltensweisen zu bieten. Diese sollten neben einer grundsätzlichen Orientierung an den Einschätzungen und Wünschen der Besucher*innen sowie der Leitidee einer menschenrechtsorientierten Sozialen Arbeit[22] auch spezifische Bedürfnisse besonderer Besucher*innengruppen berücksichtigen. Die Erfahrungen, Sorgen und Wünsche queerer junger Menschen sind hier gleichberechtigt aufzunehmen und bei der Umsetzung der Schutzkonzepte zu beachten. Ergänzt werden diese durch sexualpädagogische Konzepte, die ebenfalls Schutzaspekte bei der Thematisierung von Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen beinhalten.

Fachliche Erfordernisse

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ leitet aus den oben ausgeführten Punkten folgende Erfordernisse ab, die von den verschiedenen Ebenen der Jugendarbeit zu realisieren sind: 

Diversität fördern

Diversität in der Jugendarbeit zu fördern und sich für queere junge Menschen zu öffnen, erfordert Strukturen innerhalb des Trägers, die dies unterstützen. Diversitätsorientierung ist eine Aufgabe, die als gesamte Organisation gedacht und als Organisationskultur gelebt werden muss. Im Rahmen einer Organisationsentwicklung und über Formen der externen Begleitung lassen sich Prozesse anregen, durch die ein Diversitätsbewusstsein entsteht, welches sich bis auf die Ebene der Arbeit mit jungen Menschen entfaltet. Zur Förderung von Diversität gehört auch, die Tätigkeit von Fachkräften jenseits cis-heteronormativer Vorstellungen in der Jugendarbeit zu begünstigen, die als Rollenvorbilder für queere junge Menschen von besonderer Bedeutung sind. In gesellschaftspolitischen Diskussionen sind Träger dazu angehalten, sich selbst zu positionieren und für Diversität einzusetzen.

Haltung weiterentwickeln

Queer-sensible Haltung sind bereits in der Ausbildung der Fachkräfte zu entwickeln. Darüber hinaus sind Fachkräften über ihre Träger Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, um die Entwicklung einer queer-sensiblen Haltung anhand berufsethischer Prinzipien in der Sozialen Arbeit über Fort- und Weiterbildungen abzusichern. Neben finanziellen und zeitlichen Ressourcen sind sie auch dazu anzuregen, sich im Bereich der sexuellen Identität junger Menschen und der sexualpädagogischen Arbeit in ihrem Arbeitsfeld auseinanderzusetzen. Über träger- oder teaminterne Workshops und Angebote kann der Austausch und die Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses gefördert werden. Ehrenamtliche sind in besonderer Weise darin zu unterstützen, sich mit der Vielfalt sexueller Identitäten und den besonderen Bedürfnissen queerer junger Menschen zu beschäftigen und in ihren Fragen und Unsicherheiten eine Begleitung zu erhalten.

Queere junge Menschen als Zielgruppe verstehen

Im Rahmen des gesetzlichen Auftrags und des fachlichen Selbstverständnisses der Jugendarbeit sind queere junge Menschen als Zielgruppe zu verstehen, in besonderer Weise zu adressieren und bei Entscheidungen konsequent mitzudenken. Dabei sind konkrete Ideen zu entwickeln, wie ihnen der Zugang zu den Angeboten erleichtert werden kann und wie ihre Perspektiven in die Ausgestaltung eingebunden werden können. Die Orientierung auf diese Zielgruppe soll Bestandteil des pädagogischen Konzepts sein.

Angebote weiterentwickeln

Angebote der Jugendarbeit müssen allen jungen Menschen offenstehen. Dazu zählen auch queere junge Menschen, deren Teilnahme an offenen Angebotsformen ebenso ermöglicht werden muss wie, ihre spezifischen Lebensthemen in eigens für sie umgesetzten Angeboten zu bearbeiten. Diese Angebote sollen mit ihnen gemeinsam entwickelt werden. Dabei kann ihnen auch eine Verantwortung für die Organisation und die Ausgestaltung übertragen werden.

Jugendarbeit fördert die Auseinandersetzung mit der eigenen sexuellen Identität. Dies ist mit geeigneten Angeboten zu untersetzen, die dies unterstützen und Heteronormativität hinterfragbar machen.

Beteiligung ermöglichen

Queere junge Menschen sind wie alle anderen jungen Menschen in der Jugendarbeit an allen sie betreffenden Entscheidungen zu beteiligen. Für Beteiligungsgelegenheiten bedeutet dies, dass sicherzustellen ist, dass ihre Perspektive gehört und angemessen berücksichtigt wird und die bestehenden Ressourcen genutzt und gefördert werden. 

Tragfähige Netzwerke entwickeln

Für die queer-sensible Weiterentwicklung der eigenen Einrichtung und besondere Unterstützungsbedarfe queerer junger Menschen braucht es ein tragfähiges Netzwerk mit Kooperationsbeziehungen zu spezifischen, gut ausgestatteten und flächendeckend verankerten Angeboten und Fachstellen in und außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe. Neben der Wissensvermittlung und der Unterstützung bei Entscheidungsprozessen sind sie eine wertvolle Ressource für eine mögliche Vermittlung von queeren jungen Menschen, deren Beratungsanliegen eine intensivere persönliche Begleitung erfordern, als dies im Kontext der Jugendarbeit möglich ist.

Diskriminierung wahrnehmen und bearbeiten

In Aushandlungsprozessen und Konflikten braucht es eine Achtsamkeit, um Diskriminierungen zu erkennen und als solche benennen zu können. Diskriminierungserfahrungen sind gemeinsam aufzuarbeiten und als Anlass zu nehmen, um unter Beteiligung der jungen Menschen geeignete Maßnahmen umzusetzen, durch die eine weitere Auseinandersetzung mit Vielfalt, Formen der diskriminierungsfreien Konfliktlösung und den Erfahrungen queerer junger Menschen im Alltag möglich werden. Dabei sind auch Mehrfachdiskriminierungen aufgrund verschiedener Gruppenzugehörigkeiten zu beachten.

Schutzkonzepte umsetzen

Institutionelle Schutzkonzepte sind für Einrichtungen der Jugendarbeit als erforderlicher Standard zu etablieren. In Schutzkonzepten müssen die spezifischen Bedürfnisse und Erfahrungen queerer junger Menschen in der Risiko- und Potenzialanalyse aufgenommen werden. Hier sind Präventions- und Interventionsmaßnahmen zu benennen, um queeren jungen Menschen eine sichere Umgebung zu bieten und adäquat auf entstehende Situationen reagieren zu können. Bei der Erarbeitung von Schutzkonzepten ist die Zusammenarbeit mit Fachstellen für junge queere Menschen sinnvoll und ratsam. Für die Arbeit an Schutzkonzepten sind zeitliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen.

 

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ 
Berlin, den 21./22.09.2023

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[1] Ansprechperson für dieses Positionspapier in der AGJ ist die Referentin des Arbeitsfeldes V „Jugend, Bildung, Jugendpolitik“ Eva-Lotta Bueren (eva-lotta.bueren@agj.de).

[2] DALIA RESEARCH (2016): Counting the LGBT population.

[3] In Deutschland wird queer als Sammelbezeichnung für Menschen verwendet, deren geschlechtliche Identität und/oder sexuelle Orientierung nicht der zweigeschlechtlichen, cis-geschlechtlichen und/oder heterosexuellen Norm entsprechen. Queer ist eine Selbstbezeichnung und stellt begrenzende Kategorien in Frage. 

[4] www.queer.de/detail.php und dserver.bundestag.de/btd/20/062/2006259.pdf (S. 36).

[5] Die Geschlechtsidentität bezeichnet das Empfinden eines Menschen, einem Geschlecht anzugehören. Dieses muss nicht notwendigerweise mit dem Geschlecht übereinstimmen, das sie bei der Geburt zugewiesen bekommen haben. (Quellen: www.fu-berlin.de/sites/diversity/diversity-dimensionen/geschlechtliche-identitaet/index.html; www.bundesverband-trans.de/).

[6] Die sexuelle Orientierung sagt aus, welches Geschlecht oder welche Geschlechter ein Mensch attraktiv findet. Dabei geht es für viele Menschen darum, zu wem sie sich sexuell hingezogen fühlen und in wen sie sich verlieben. Für manche ist das aber auch ein Unterschied: Ihre sexuelle Orientierung (zu wem sie sich sexuelle hingezogen fühlen) unterscheidet sich dann von ihrer romantischen Orientierung (in wen sie sich verlieben). (Quelle: genderdings.de/sexualitaet-und-liebe/sexuelle-vielfalt/).

[7] Der Begriff cis bedeutet, dass sich Menschen mit dem von außen bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht identifizieren. 

[8] DALIA RESEARCH (2016): Counting the LGBT population; Ipsos (2023): LGBT+ PRIDE 2023, www.ipsos.com/sites/default/files/ct/news/documents/2023-05/Ipsos%20LGBT%2B%20Pride%202023%20Global%20Survey%20Report%20-%20rev.pdf. 

[9] DALIA RESEARCH (2016): Counting the LGBT population; Oldemeier, Kerstin (2017): Heteronormativity: The Experiences of Young Lesbian, Gay, Bisexual, Trans* and Queer People. Forum Gemeindepsychologie. 22.

[10] YouGov 2015: d25d2506sfb94s.cloudfront.net/cumulus_uploads/document/7zv13z8mfn/YG-Archive-150813-%20Sexuality.pdf.

[11] Das Coming Out beschreibt den Prozess, in dem eine Person sich selbst über ihr Geschlecht und/oder sexuelle Orientierung bewusst wird (inneres Coming Out) und beginnt, mit anderen darüber zu sprechen (äußeres Coming Out/going public). Für das äußere Coming-Out hat sich die präzisere Bezeichnung „going public“ etabliert. Prozesse des „going public“ sind ein lebenslanger Prozess, da es oft in neuen sozialen Kreisen wiederholt werden muss. (Quelle unter anderem: queer-lexikon.net/2017/06/15/coming-out/).

[12] Krell, C., & Oldemeier, K. (2015). Coming-out – und dann?! Ein DJI-Forschungsprojekt zur Lebenssituation von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* Jugendlichen und jungen Erwachsenen. München: DJI.

[13] www.buzzfeed.de/news/hass-auf-die-lgbtqia-community-im-netz-nimmt-drastisch-zu-91753533.html

[14] Mehrfachnennungen waren in der Umfrage möglich. Politikerinnen und Politiker (57%), Menschen mit anderer politischer Einstellung (48%) sowie Geflüchtete (43%) wurden meist genannt. 

[15] www.medienanstalt-nrw.de/fileadmin/user_upload/forsa_Hassrede_2023_Ergebnisbericht.pdf.

[16] Krell, C., & Oldemeier, K. (2015). Coming-out – und dann?! Ein DJI-Forschungsprojekt zur Lebenssituation von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* Jugendlichen und jungen Erwachsenen. München: DJI. S. 79 ff. 

[17] Der lesbischen, schwulen, bisexuellen und orientierungs*diversen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Siehe ebd. S. 102.

[18] Ebd. S. 148 ff. 

[19] Ebd. S. 162.

[20] S. 173 Oldemeier.

[21] Scherr/ Sturzenhecker, 2014: 372 ff.

[22] Dazu z.B. www.dbsh.de/profession/haltung-der-profession.html.