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Neue Chancen für Kinder in Deutschland? Bewertung des deutschen Aktionsplans zur Umsetzung der EU-Kindergarantie

Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ [1]

Abstract

Positionspapier als PDF

Im Juli 2023 verabschiedete das Bundeskabinett den Nationalen Aktionsplan (NAP) „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ zur Umsetzung der Europäischen Kindergarantie, einer EU-Initiative zur Bekämpfung von Kinderarmut (wobei Personen bis 18 Jahre gemeint sind). Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zeichnet federführend für die Entwicklung des NAP verantwortlich. Der Verabschiedung des NAP ging ein Beteiligungsprozess zur Einbeziehung der Zivilgesellschaft voraus, der auch über die weitere Umsetzung der Kindergarantie andauern soll. 

Das BMFSFJ versteht den NAP als dynamisches Instrument, das kontinuierlich angepasst werden soll. Vor diesem Hintergrund bezieht die AGJ mit dem vorliegenden Positionspapier Stellung zur aktuellen Version des NAP. Zu diesem Zweck wird zunächst der Ursprung der Idee einer europaweiten Kindergarantie skizziert. Danach wird der NAP sowohl allgemein als auch unter besonderer Berücksichtigung der fünf Handlungsfelder der Kindergarantie bewertet. Zu diesen fünf Handlungsfeldern zählen frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung, Bildungsangebote und schulbezogene Aktivitäten, Gesundheitsversorgung, gesunde Ernährung und angemessener Wohnraum. Darüber hinaus kommentiert die AGJ die vorgesehene weitere Umsetzung der Kindergarantie in Deutschland, darunter das Monitoring und die Evaluation sowie die Beteiligung von (armutsbetroffenen) Kindern und Jugendlichen.

Insgesamt betrachtet bemängelt die AGJ mit Blick auf den NAP das Fehlen einer zukunftsorientierten und integrierten Gesamtstrategie zur ressort- und ebenenübergreifenden Bekämpfung von Familien- und daraus resultierender Kinder- und Jugendarmut. Eine solche Gesamtstrategie sollte auf eine armutssensible Infrastruktur abzielen und auch monetäre Leistungen umfassen. Ferner empfiehlt die AGJ eine konsequentere Berücksichtigung der Zielgruppen der Kindergarantie bei der Umsetzung von Maßnahmen in allen Handlungsfeldern sowie die Aufnahme von quantitativen und qualitativen Zielen in den NAP. Diese sollten mit Fristen, Daten und Indikatoren hinterlegt sein, um Fortschritte in der Reduzierung von Armut und sozialer Ausgrenzung messen zu können.

1. Politischer Kontext der Europäischen Kindergarantie 

Jedes vierte Kind in der EU ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht.[2] Entsprechend hat die Problematik der (Kinder-)Armut und die zu ihrer Bekämpfung notwendige Stärkung sozialer Infrastruktur auch auf europäischer Ebene an Relevanz gewonnen. So kündigte die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Jahr 2019 in ihren politischen Leitlinien für die Europäische Kommission 2019–2024 die Bekämpfung von Kinder- und Familienarmut durch eine Europäische Garantie für Kinder an, um sicherzustellen, dass „jedes Kind in Europa, das von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht ist, entsprechend den grundlegendsten Rechten Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung hat“ [3]. Ferner ist es eines der drei Kernziele im Rahmen des Aktionsplans zur Europäischen Säule sozialer Rechte, die Zahl der Kinder und Jugendlichen bis 18 Jahren in der EU, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind, bis 2030 um 5 Millionen zu senken.[4] In Deutschland betrifft dies junge Menschen in ganz verschiedenen Lebenslagen und Umständen. Somit ist der NAP für die verschiedenen Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe von hoher Relevanz.

1.1 Die Kindergarantie – Eine Initiative des Europäischen Parlaments

Die Kommissionspräsidentin nahm mit der Ankündigung einer Kindergarantie einen vom Europäischen Parlament – auf Initiative der S&D-Fraktion [5] – im Jahr 2015 gefassten Beschluss auf, nach dem für alle von Armut bedrohten Kinder in Europa Zugang zu kostenloser medizinischer Versorgung, unentgeltlicher Bildung, kostenlosen Betreuungseinrichtungen, angemessenen Wohnverhältnissen und geeigneter Ernährung gewährleistet werden sollte.[6] Instrumente zur Ausgestaltung einer Europäischen Kindergarantie sah das Europäische Parlament in Aktionsplänen der Mitgliedstaaten, verbunden mit Indikatoren, anhand derer die Fortschritte bei der Bekämpfung von Kinderarmut zu messen seien. In einem zweiten Schritt rief das Parlament 2017 die Europäische Kommission zur Durchführung einer Machbarkeitsstudie auf. Diesem Aufruf folgte die Kommission und beschloss im selben Jahr eine auf mehrere Jahre angelegte vorbereitende Maßnahme. Nach einer Machbarkeitsstudie (September 2018 bis April 2020) und einer Studie über den wirtschaftlichen Umsetzungsrahmen der Kindergarantie (März 2020 bis März 2021) folgte schließlich eine dritte Phase: ein europaweites Pilotprogramm in sieben EU-Mitgliedstaaten (Sommer 2020 bis Sommer 2022), darunter Deutschland. Im Rahmen dieser dritten Phase wurden innovative Ansätze zur Verringerung von Kinderarmut erprobt.[7]

1.2 Vorschlag der Kommission und Ratsempfehlung zur Einführung einer Europäischen Kindergarantie

Dem Vorschlag der Europäischen Kommission zur Einführung einer Kindergarantie gingen Konsultationen mit den wichtigsten Interessengruppen voraus. Auch Kinder wurden einbezogen: Entsprechende Konsultationen und Online-Umfragen wurden von UNICEF, ChildFund Alliance, Eurochild, Save The Children und World Vision im Auftrag der Kommission durchgeführt, um mehr über die Prioritäten von Kindern und Jugendlichen zur Verwirklichung ihrer Rechte und über ihre Vorstellungen für die Zukunft zu erfahren. Insgesamt wurden 10 000 Kinder im Alter von 11 bis 17 Jahren in Europa und darüber hinaus zu ihrem Leben, ihren Träumen, Vorstellungen und Sorgen befragt. Die Ergebnisse finden sich in dem Bericht „Our Europe, Our Rights, Our Future“[8]. Die übergreifenden Wünsche der Kinder an sowohl die EU-Kinderrechtsstrategie 2022–2027 als auch an die Kindergarantie zielten auf Gleichbehandlung aller Kinder mit besonderer Berücksichtigung von benachteiligten Kindern, gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Maßnahmen gegen Gewalt gegen Kinder, Kinderbeteiligung in Entscheidungsprozessen und schließlich Zugänge zu Maßnahmen zur Unterstützung psychischer Gesundheit.
Auf dieser Basis nahm die Europäische Kommission am 24. März 2021 einen Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Einführung einer Europäischen Garantie für Kinder an.[9] Der Rat der EU folgte diesem Vorschlag und verabschiedete am 14. Juni 2021 eine entsprechende Ratsempfehlung.[10] Demnach ist es Ziel der Kindergarantie, soziale Ausgrenzung zu verhindern und zu bekämpfen, indem der inklusive und universelle Zugang von Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahren zu einer Reihe wichtiger Dienste gewährleistet wird. Dazu zählen:

  • kostenlose frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung,
  • kostenlose Bildungsangebote und schulbezogene Aktivitäten,
  • kostenlose Gesundheitsversorgung,
  • gesunde Ernährung und eine kostenlose Mahlzeit pro Schultag
  • angemessener Wohnraum.

Diese Dienstleistungen betreffen Bereiche, die gemäß dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) und dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention) der Vereinten Nationen unter das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard (Wohnen, Ernährung), Gesundheit, Bildung sowie das Recht auf Freizeit und Beteiligung am kulturellen Leben fallen.[11]

Zur Umsetzung der Kindergarantie verpflichteten sich die EU-Mitgliedstaaten in der Ratsempfehlung, eine*n Nationale*n Koordinator*in zu benennen und bis März 2022 einen Nationalen Aktionsplan (NAP) zur Umsetzung der Empfehlung für den Zeitraum bis 2030 vorzulegen. Ferner stehen laut Ratsempfehlung finanzielle Mittel der EU zur Unterstützung der Umsetzung der Europäischen Kindergarantie zur Verfügung: Im Rahmen des Europäischen Sozialfonds Plus (ESF+) sollen alle Mitgliedstaaten einen angemessenen Betrag zur Bekämpfung von Kinderarmut bzw. sozialer Ausgrenzung aufwenden. Bei Mitgliedstaaten, in denen die Quote der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Kinder über dem EU-Durchschnitt liegt, muss dieser Betrag mindestens 5 % ihrer nationalen Mittel aus dem ESF+ betragen.

2. Bewertung des Nationalen Aktionsplans „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“

Der deutsche NAP „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ wurde am 05. Juli 2023 vom Bundeskabinett beschlossen.[12] Ihm ging ein Beteiligungsprozess voraus, der im September 2022 mit einer Veranstaltung mit Akteur*innen aus Politik und Zivilgesellschaft startete. Zuletzt wurde den Ländern, kommunalen Spitzenverbänden sowie zivilgesellschaftlichen und weiteren Organisationen im Mai 2023 eine nicht ressortabgestimmte Fassung des NAP zur Kommentierung zugesandt.[13] Auch weiterhin ist die Einbeziehung der Zivilgesellschaft geplant (siehe Kapitel 4.2 „Beteiligung der Zivilgesellschaft“ des vorliegenden Positionspapiers). Das BMFSFJ versteht den NAP als „dynamisches Instrument“ (NAP S. 66), das kontinuierlich angepasst und weitergeschrieben wird.

Die AGJ beschäftigte sich bereits in dem im Dezember 2022 veröffentlichten Positionspapier „Armutssensibles Handeln – Armut und ihre Folgen für junge Menschen und ihre Familien als Herausforderung für die Kinder- und Jugendhilfe“[14] mit dem Thema Armutsbekämpfung und in diesem Kontext mit der Europäischen Kindergarantie als Ansatz zur Stärkung der sozialen Infrastruktur. Die AGJ formulierte damals ihre Hoffnung, die Kindergarantie werde durch die Dienstleistungen, die mit ihrer Umsetzung einhergehen, eine wichtige Rolle in der Bekämpfung sozialer Ausgrenzung und Armut von Kindern, Jugendlichen und Familien spielen. Die AGJ betonte allerdings, dass diese Dienstleistungen die Schaffung und Stärkung der benötigten Infrastruktur und die Bekämpfung des Fachkräftemangels voraussetzten und gleichzeitig zwingend zusammengedacht werden müssten mit monetären Leistungen, wie der Einführung einer unkompliziert gewährten und auskömmlich finanzierten Kindergrundsicherung. 

Aus Sicht der AGJ hat die Kindergarantie das Potenzial, durch erleichterte Zugänge zu staatlichen Leistungen bedeutende Verbesserungen in den Bereichen Teilhabe, Bildung und Gesundheit für armutsbetroffene und -gefährdete junge Menschen anzustoßen. Grundvoraussetzung dafür ist ein Verständnis von Armut als nicht alleinige Unterversorgung mit materiellen, sondern auch kulturellen und sozialen Gütern (worunter bspw. Wohnqualität, Bildung und Teilhabe fallen). Diesem Verständnis folgt der NAP – er orientiert sich, gemäß der EU-Ratsempfehlung, an der Quote der von Armut oder sozialer Ausgrenzung gefährdeten Personen (kurz: AROPE für „At risk of poverty or social exclusion“). Zur Bemessung der AROPE-Quote wird neben dem monetären Armutsrisiko (kurz: AROP für „At risk of poverty“) das Vorliegen erheblicher materieller und sozialer Entbehrung sowie einer sehr geringen Erwerbsintensität einbezogen. Diese Perspektive begrüßt die AGJ ausdrücklich. 

Des Weiteren begrüßt die AGJ am NAP die klare und nachvollziehbare Struktur. Der NAP bietet einen gelungenen Überblick über die Ausgangslage, die Handlungsfelder und die aktuellen und geplanten Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung in Deutschland. Positiv bewertet die AGJ auch die Entscheidung, Ekin Deligöz, Parlamentarische Staatssekretärin im BMFSFJ, zur sog. Kinderchancen-Koordinatorin zu ernennen. EU-weit wurden für die Ernennung der Nationalen Koordinator*innen unterschiedliche Hierarchieebenen gewählt, was als Hinweis auf die Relevanz, die der Kindergarantie zugeschrieben wird, gewertet werden kann.

Nichtsdestotrotz bleibt der NAP als integraler Bestandteil der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung in Deutschland hinter den Erwartungen der AGJ zurück, was insbesondere auf das Fehlen einer zukunftsorientierten und umfassenden Gesamtstrategie zurückzuführen ist, wie im Folgenden erläutert wird.

2.1 Wo ist die Gesamtstrategie?

Der NAP verweist auf die Empfehlung des EU-Rates, einen integrierten und unterstützenden politischen Rahmen zu schaffen und „die Kohärenz der sozial-, bildungs-, gesundheits-, ernährungs- und wohnungspolitischen Strategien auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene im Hinblick auf diese Ziele zu gewährleisten“ (S. 7). Dem folgend sind in Deutschland auf Bundesebene laut NAP das BMFSFJ, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, das Bundesministerium für Gesundheit und das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen fachlich zuständig, wobei das BMFSFJ die „Steuerung des Umsetzungsprozesses, die ressortübergreifende Zusammenarbeit und die Fortschreibung des NAP“ (S. 66) übernimmt.

Der NAP kann somit als wichtiger Schritt in die richtige Richtung gewertet werden, indem er eine umfassende Bestandsaufnahme von Maßnahmen unterschiedlicher Ebenen und verschiedener Ressorts beinhaltet. Er signalisiert den Willen, die Fragmentierung von Armutspolitiken zu überwinden und eine gemeinsame Anstrengung zur Bekämpfung der Problematik zu initiieren. Jedoch werden die im NAP dargestellten Maßnahmen lediglich nebeneinandergestellt, ohne eine integrative und koordinierte Herangehensweise zu bieten. Dies widerspricht dem eigentlichen Ziel der Kindergarantie, die eine ganzheitliche Perspektive und die Überwindung der Versäulung erfordert.

  • Es fehlen im NAP zukunftsorientierte, innovative Ideen und Ansätze, die die komplexen Problemlagen von Kindern, Jugendlichen und Familien in Armut umfassend adressieren und in eine langfristig angelegte Strategie eingebettet sind, die soziale Infrastruktur gemeinsam mit monetären Leistungen über Ressortgrenzen und Zuständigkeitsebenen hinausdenkt.

Die fehlende strategische Ambition wird besonders deutlich angesichts der Tatsache, dass die EU-Ratsempfehlung einen NAP für die Umsetzung der Kindergarantie bis 2030 fordert, die im NAP gelisteten Maßnahmen aber nicht über die aktuelle Legislaturperiode hinausgehen.

  • Um dem Charakter eines Aktionsplans gerecht zu werden, erwartet die AGJ eine kritische Auseinandersetzung mit den bisherigen Politiken zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, die Lücken identifiziert, um daraus konkrete Schritte und Maßnahmen abzuleiten sowie Priorisierungen, Meilensteine und Ziele festzulegen, die den Zeitraum bis 2030 abdecken.

Die AGJ unterstreicht, dass Familien- und daraus resultierend Kinder- und Jugendarmut eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung sind. Die Umsetzung der Kindergarantie erfordert deshalb klare Konzepte, wie sozial-integrative Sozialplanung auf verschiedenen Ebenen sinnvoll gestaltet werden kann, sowie kooperatives Vorgehen von Bund, Ländern, Kommunen und der Zivilgesellschaft. Im NAP wird wiederholt auf unterschiedliche Zuständigkeiten im föderalistischen System Deutschlands verwiesen. Dies darf keine Ausrede sein, den NAP nicht als umfassende Strategie zur Bekämpfung von Kinderarmut und sozialer Ausgrenzung zu gestalten und angemessene Kooperationsmechanismen zu etablieren.

  • Aus Sicht der AGJ sollte insbesondere das gemeinsame Vorgehen von Bund, Ländern und Kommunen mehr in den Vordergrund gestellt und eine stärkere Einbindung der Länder und Kommunen angestrebt werden, um eine umfassendere und koordinierte Umsetzung der Kindergarantie zu gewährleisten.[15]

Zwar waren Länder und Kommunen in den Erarbeitungsprozess des NAP durch den Beteiligungsprozess des BMFSFJ einbezogen. Doch bei den dargestellten Maßnahmen von Ländern und Kommunen handelt es sich um „einen (nicht repräsentativen) Ausschnitt der Maßnahmenlandschaft in Deutschland“ (NAP, S. 59). Sie lassen sich somit, wenn überhaupt, nur beispielhaft in ein größeres Bild der ebenen- und ressortübergreifenden Armutsbekämpfung einordnen. Zukünftig sollten ebenenübergreifend Leerstellen ermittelt und durch entsprechende Maßnahmen zu füllen versucht werden. Hier bietet der Austausch im NAP-Ausschuss eine gute Plattform für eine engere Abstimmung und den Austausch von bewährten Praktiken zwischen den verschiedenen Ebenen. Denkbar wären auch regelmäßige Austauschtreffen zwischen Bund, Ländern und Kommunen, die Vertreter*innen aus Kommunalen Spitzenverbänden sowie ausgewählte Jugendämter und Landesjugendämter einschließen.[16]

Die AGJ betont in diesem Kontext die Rolle der Kommunen. Kommunale Präventionsketten  zeigen, dass die Kommunen erheblichen Einfluss auf die Prävention von Armut und sozialer Ausgrenzung haben.[17] Präventionsketten gibt es mittlerweile in vielen Bundesländern; eine entsprechende Vernetzung der Programmträger wäre daher sinnvoll. Im Kontext der Präventionsketten sind allerdings die finanziellen und personellen Ressourcen der Kommunen nicht aus dem Blick zu verlieren. Die Umsetzung von Präventionsketten stellt die Kinder- und Jugendhilfe und insbesondere die Jugendämter im Rahmen ihrer gesetzlichen Gesamtverantwortung (§ 79 SGB VIII) vor eine große Herausforderung, nicht zuletzt aufgrund des Fachkräftemangels.

  • Um eine armutssensible soziale Infrastruktur vor Ort zu gestalten, bedarf es einer ambitionierten Gesamtstrategie von Politik, Verwaltungen und freien Trägerorganisationen, samt unterstützender Initiativen seitens des Bunds und der Länder.

Der NAP erkennt dies an,[18] leitet daraus aber keine Maßnahmen ab.

2.2 Fehlende finanzielle Unterfütterung des Nationalen Aktionsplans

Nicht direkt zur Umsetzung der Ratsempfehlung zur Kindergarantie bezüglich der fünf Handlungsfelder, sondern unter der Überschrift „Geld, Infrastruktur und Zeit für Kinder, Jugendliche und ihre Familien“ listet der NAP die aktuellen und geplanten finanziell unterfütterten Maßnahmen zur Unterstützung von Familien auf, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen sind, allen voran die Kindergrundsicherung. Bis zu deren Einführung seien das Kindergeld und der Kinderzuschlag die familienpolitischen Schwergewichte (NAP, S. 28). Abgesehen davon sind keine zusätzlichen finanziellen Mittel zur Umsetzung der Kindergarantie geplant, insbesondere keine ressortübergreifenden Mittel, die der Verfolgung einer integrierten Strategie dienen.

Die AGJ teilt die Ansicht, dass eine finanziell gut ausgestattete Kindergrundsicherung ein wichtiger Baustein in der Bekämpfung von Kinder-, Jugend- und Familienarmut und ihren Folgen sein kann, da Familien durch sie mehr Geld für ein gesundes Aufwachsen, inklusive gesunder Ernährung, angemessenem Wohnen und Teilhabe haben. So deckt sie wichtige Handlungsfelder der Kindergarantie ab. Die AGJ begrüßt daher das im NAP enthaltene Bekenntnis und die Ausführungen zur Kindergrundsicherung.[19] Fest steht allerdings auch, dass die entscheidende Grundlage dieser Kindergrundsicherung das neu zu definierende Existenzminimum für Kinder ist, das auch im NAP erwähnt, aber nicht weiter ausgeführt wird.

  • Diese Neuberechnung des Existenzminimums sollte möglichst zügig erfolgen und muss die Bedarfe von Kindern und Jugendlichen realitätsgerecht erfassen. Die AGJ hält es für entscheidend, dass sowohl der sächliche Bedarf als auch der Bedarf für ein angemessenes Maß an soziokultureller Teilhabe derart berücksichtigt wird, dass Kinder und Jugendliche in die Lage versetzt werden, ein gutes Leben selbstbestimmt leben zu können.

Ferner sollte die Kindergrundsicherung aktuelle Veränderungen wie die Inflation und die gestiegenen Lebenshaltungskosten berücksichtigen.

Gleichzeitig ist die AGJ überzeugt, dass die Kindergrundsicherung nicht ausreicht, um die Kindergarantie erfolgreich umzusetzen. Stattdessen sind weitere nachhaltige Investitionen und eine gezielte Förderung von Maßnahmen in den Handlungsfeldern – etwa Bildung, Gesundheit und Wohnen – grundlegende Voraussetzung, um nachhaltige Veränderungen für armutsbetroffene und -gefährdete junge Menschen zu bewirken. Der NAP selbst gesteht ein, dass die dargestellten geplanten Maßnahmen teilweise weder hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit überprüft noch innerhalb der Bundesregierung abgestimmt oder mit finanziellen Mitteln unterlegt sind (NAP, S. 72). Dies spricht entschieden gegen eine dringend nötige visionäre und zukunftsorientierte Gesamtstrategie.

  • Während die AGJ den Finanzierungsvorbehalt angesichts der haushaltsrechtlichen Vorgaben anerkennt, hätte sie sich nichtsdestotrotz eine politische Finanzierungszusage – ähnlich vergangener Pläne in anderen Politikbereichen – gewünscht. 

Das Vermeiden einer solchen politischen Finanzierungszusage steht aus Sicht der AGJ nicht nur in auffallendem Kontrast zu den im NAP aufgeführten besonderen Herausforderungen und gestiegenen Bedarfen im Zusammenhang mit aktuellen Krisen, etwa der Corona-Pandemie, der Situation Geflüchteter aus der Ukraine infolge des russischen Angriffskriegs und dem Anstieg der Verbraucherpreise (NAP, S. 30-34). Vielmehr lassen die finanziellen Einschränkungen im NAP auch auf eine fehlende Bereitschaft schließen, Investitionen in die Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut als Investitionen in deren Zukunft zu verstehen, die nicht nur negativen Folgen von Armut und Ausgrenzung seitens Betroffener entgegenwirken, sondern auch gesamtgesellschaftliche Folgekosten mindern. Zur Abschätzung dieser Folgekosten müssen bspw. die Behandlung gesundheitlicher Folgen von Armut genauso wie höhere Sozialausgaben und niedrigere Steuereinnahmen betrachtet werden.[20] Auch steht zu befürchten, dass eine zunehmend sozioökonomisch gespaltene Gesellschaft Mehrkosten mit sich bringt, die allesamt kommende Haushalte belasten.

2.3 Ungenügende Berücksichtigung der Zielgruppen

Laut EU-Ratsempfehlung soll sich die Kindergarantie grundsätzlich an „bedürftige Kinder“ richten. Dazu zählt sie „Personen unter 18 Jahren, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind“ (Art. 3 a). Hinsichtlich der Zielgruppen konstatiert die Ratsempfehlung, dass Menschen, die von spezifischen Formen der Benachteiligung betroffen sind, ein besonderes Risiko, soziale Ausgrenzung zu erfahren, tragen. Entsprechend sollten die EU-Mitgliedstaaten innerhalb der Gruppe der bedürftigen Kinder bei der Konzeption ihrer nationalen Maßnahmen spezifische Formen der Benachteiligung berücksichtigen (Art. 5). Die Ratsempfehlung nennt die folgenden Gruppen, die auch im NAP als häufig von Armut oder sozialer Ausgrenzung gefährdet benannt werden:

a) Obdachlose Kinder oder Kinder, die von gravierender Wohnungsnot betroffen sind;
b) Kinder mit Behinderungen (im NAP ergänzt durch Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf);
c) Kinder mit psychischen Gesundheitsproblemen;
d) Kinder mit Migrationshintergrund oder Kinder, die einer ethnischen Minderheit angehören, insbesondere Rom*nja;
e) Kinder in alternativen Formen der Betreuung [21] („außerhalb der leiblichen Familie“ (NAP, S. 64)), insbesondere in Betreuungseinrichtungen;
f) Kinder in prekären familiären Verhältnissen [22].

Die (Ausgangs-)Situation dieser Zielgruppen wird im NAP unter Rückgriff auf erhältliche Daten ausführlich analysiert. Es wird aus Sicht der AGJ jedoch nicht klar, welche Bedarfe als prioritär eingeordnet, welche Maßnahmen in welchen Handlungsfeldern entsprechend ergriffen und welche Ziele erreicht werden sollen. Vielmehr werden Defizite beschrieben, ohne dass zielgruppenspezifische Handlungsbedarfe aufgezeigt und konkrete Initiativen abgeleitet würden. Die Zielgruppen werden im Rahmen der aktuellen und geplanten Maßnahmen in den Handlungsfeldern der Kindergarantie kaum berücksichtigt bzw. nur berücksichtigt, wenn eine Maßnahme ohnehin auf eine oder mehrere der Zielgruppen abzielt. 

Als Beispiel sei hier auf die im Handlungsfeld „Gesundheitsversorgung“ genannte zeitlich befristete interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern“ – die laut EU-Ratsempfehlung und NAP unter „Kinder in prekären familiären Verhältnissen“ fallen – aufmerksam gemacht, deren Einrichtung der Bundestag 2017 von der Bundesregierung forderte. Diese Arbeitsgruppe erarbeitete einen Abschlussbericht mit Handlungsempfehlungen zur besseren Versorgung dieser Kinder und Jugendlichen. Zwar werden diese Empfehlungen teils im NAP wiedergegeben (NAP, S. 49). Es bleibt jedoch unklar, ob insgesamt Maßnahmen daraus abgeleitet wurden und somit die Empfehlungen tatsächlich umgesetzt wurden oder werden sollen.

Ein anderes Beispiel betrifft Kinder mit Migrationshintergrund. Wie der NAP konstatiert, war das Armutsrisiko von Personen mit Migrationshintergrund im Jahr 2021 mehr als doppelt so hoch wie das von Personen ohne Migrationshintergrund (S. 17). Für dieses höhere Armutsrisiko sind verschiedene Faktoren ursächlich. Hierzu zählen die im Durchschnitt geringere schulische und berufliche Qualifikation, der höhere Anteil an Personen mit fehlendem Schul- bzw. Berufsabschluss, die eingeschränkte Anerkennung von Abschlüssen, Sprachbarrieren, der zum Teil eingeschränkte Zugang zum Arbeitsmarkt und zu speziellen Hilfen zur beruflichen Eingliederung, eine zeitlich begrenzte Aufenthaltsdauer bzw. unsichere Bleibeperspektiven sowie die häufigere (unfreiwillige) Ausübung von befristeten und/oder schlechter bezahlten Tätigkeiten. Daraus folgt ein erschwerter Zugang zu bspw. Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe, zu Behörden und grundlegenden Dienstleistungen, wie sie die Kindergarantie fordert. Diese Tatsachen finden im NAP allerdings keine Berücksichtigung bei der Aufzählung der Maßnahmen in den verschiedenen Handlungsfeldern.

  • Der Abbau von Benachteiligungen, wie sie nicht nur Kinder mit Migrationsgeschichte, sondern insgesamt Kinder und Jugendliche der gelisteten Zielgruppen beim Zugang zu den Diensten unter der Kindergarantie erfahren, sollte aus Sicht der AGJ ein strategisches Ziel sein und in allen Handlungsbereichen berücksichtigt werden.

Möglicherweise wäre es sinnvoll, die im NAP aufgelisteten Maßnahmen in den Handlungsfeldern zielgruppenspezifisch einzuordnen, wie es der NAP bei der Sammlung der Maßnahmen von Ländern, kommunalen Spitzenverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen tut. Würde dies auf die Maßnahmen des Bundes ausgeweitet, könnten Lücken und Schwachstellen identifiziert und auf eine entsprechende Verbesserung der Maßnahmen hingewirkt werden. 

Des Weiteren hinterfragt die AGJ kritisch die vorgenommene Zusammenfassung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und geflüchteten jungen Menschen.[23] Die Ratsempfehlung zur Kindergarantie sieht eine Inblicknahme aller Kinder, unabhängig ihres Migrationsstatus vor (Art. 3 b). Vor diesem Hintergrund sollte der NAP stärker geflüchtete Kinder, Jugendliche und ihre Familien als Zielgruppe in den Blick nehmen, da sie unter Teilhabeeinschränkungen leiden und in vielen Bereichen der Kindergarantie besonders benachteiligt sind, nicht zuletzt in den Bereichen Gesundheitsversorgung, Bildung und Wohnraum. Ein besonderer Fokus sollte auf unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und auf in Asylverfahren befindlichen Kindern und Jugendlichen bzw. solchen, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen, liegen. Diese Gruppe von jungen Menschen erfährt oft besondere Benachteiligung gegenüber solchen in anderen Grundsicherungsleistungen (SGB II und XII), weshalb sie als Zielgruppe differenziert betrachtet werden sollte.

  • Während der NAP ausführlich die Hilfsangebote für Geflüchtete aus der Ukraine aufzählt, ist es der AGJ zusätzlich wichtig zu betonen, dass eine Ungleichbehandlung von Geflüchteten zu verhindern ist.

Schließlich bedauert die AGJ, dass Kinder und Jugendliche in alternativen Betreuungsformen im NAP kaum Berücksichtigung finden.[24] Schon die Analyse zur Ausgangslage dieser Zielgruppe fällt auffällig kurz aus, insbesondere im Vergleich zu den übrigen Zielgruppen (NAP, S. 18). Auch im weiteren Verlauf des NAP wird diese Gruppe kaum erwähnt, obgleich Care Receiver*innen und Care Leaver*innen im Kontext der besonderen Armutsgefährdung verstärkt in den Blick zu nehmen sind.[25] Die Phase des Leaving Care – dem Verlassen einer stationären Kinder- und Jugendhilfe – ist von besonderer Relevanz für die Biografien der betroffenen jungen Menschen, da sich dieser Lebensabschnitt als prekär und risikobehaftet darstellen kann, was bereits in der Situation der Care Receiver*innen seinen Anfang nimmt. Viele Care Leaver*innen verfügen im Vergleich zu Gleichaltrigen über geringere soziale und materielle Ressourcen und sind damit einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt.[26] Nichtsdestotrotz wird diese gesamtgesellschaftlich kleine Gruppe armutspolitisch bislang übersehen. Im NAP werden Care Leaver*innen als Teil der Zielgruppe junger Menschen in alternativen Betreuungsformen im Zusammenhang mit nur einer Maßnahme des Bundes aufgeführt, andere Angehörige dieser Zielgruppe finden in den Maßnahmen keine Erwähnung.

  • Aus Sicht der AGJ sollte im NAP mehr auf junge Menschen in alternativen Betreuungsformen eingegangen werden, indem u. a. die Analyse der Ausgangslage dieser Zielgruppe ausführlicher gestaltet wird, um die Lebensrealität dieser jungen Menschen besser darzustellen und ihr erhöhtes Armutsrisiko aufzuzeigen. 

Wie der NAP richtigerweise festhält, sind nicht alle Kinder und Jugendlichen in den Zielgruppen zwangsläufig von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen und gleichzeitig sind nicht alle armutsbetroffenen jungen Menschen Teil der spezifischen Zielgruppen. Laut NAP kann nur eingeschränkt dargelegt werden, wie viele Kinder gleichzeitig von Armut und weiteren spezifischen Belastungen betroffen sind, da hierzu kaum Daten zur Verfügung stehen (NAP, S. 21). Das erhöhte Armutsrisiko der Zielgruppen zeigt jedoch, dass Kinder und Jugendliche oft aus verschiedenen Gründen von sozialer Ausgrenzung und Mehrfachdiskriminierung betroffen sein können. Zum Beispiel können junge Menschen, die aus materiell betrachtet armen Familien kommen, soziale Ausgrenzung erfahren, weil sie geflüchtet sind, psychische Probleme oder eine Behinderung haben.

  • Ein intersektionaler Blick auf Armut und soziale Ausgrenzung, der auch die gegenseitige Verstärkung einzelner Diskriminierungen berücksichtigt und Lösungen aus Sicht der Adressat*innen – nicht der Zuständigkeiten – sucht, ist daher unerlässlich, kommt im NAP aber zu kurz.

3. Bewertung nach Handlungsfeldern der Kindergarantie

Ausgehend von der These, dass ein ausschließlich auf die materielle Lage der Familie des Kindes fokussierter Blick wichtige Armutsfaktoren und Folgen von Benachteiligung außer Acht lässt, setzt die Kindergarantie bei Zugängen zu Bildungsangeboten sowie zu sozialen, kulturellen und gesundheitlichen Dienstleistungen an. Der NAP enthält zu jedem der fünf Handlungsfelder der Kindergarantie je einen Abschnitt zur Ausgangslage, zu Handlungsbedarfen und zu Maßnahmen des Bundes in den fünf Handlungsfeldern der Kindergarantie. 

Dabei stützen sich die Ausführungen zur Ausgangslage vorwiegend auf empirische Befunde im Zusammenhang mit in der Ratsempfehlung an die Kindergarantie gestellten Anforderungen. Die dargestellten Handlungsbedarfe dagegen beruhen maßgeblich auf den von zivilgesellschaftlichen Organisationen veröffentlichten Stellungnahmen zur Umsetzung der EU-Kindergarantie in Deutschland sowie auf den Bedarfen, die im Rahmen der digitalen Kick-Off-Veranstaltung des BMFSFJ vom 5. und 6. Mai 2022 und der Veranstaltung vom 19. September 2022 durch die Stakeholder*innen erarbeitet wurden. Diesen beiden Abschnitten folgen zu jedem Handlungsfeld die Maßnahmen. 

Die AGJ unterstützt die Darstellungen der Ausgangssituationen und der Handlungsbedarfe, die zutreffend die Herausforderungen in den einzelnen Handlungsfeldern skizzieren. Es bleibt allerdings unklar, ob das BMFSFJ die Ausführungen zu den Handlungsbedarfen im NAP teilt, da in diesen Abschnitten durchgehend auf die Ansichten der Stakeholder*innen verwiesen wird, die lediglich wiedergegeben scheinen. Die in den jeweils folgenden Abschnitten dargestellten Maßnahmen des Bundes lassen ebenfalls nicht darauf schließen, dass sich das BMFSFJ die von den Stakeholder*innen erarbeiteten Handlungsbedarfe zu eigen macht, da aus den Bedarfen keine mit Maßnahmen hinterlegten Handlungsaufträge abgeleitet wurden.[27] Vielmehr handelt es sich bei den dargestellten Maßnahmen – wie im NAP einleitend angekündigt – um eine Auflistung „herausragende[r] bestehende[r] und geplante[r] Maßnahmen des Bundes“ (S. 36) in den Handlungsfeldern, ohne eine erkennbare systematische Verbindung zur Ausgangslage und den Bedarfen.

Da die Ausgangslage und die von den Stakeholder*innen erarbeiteten Handlungsbedarfe nicht immer einen Bezug zu den geschilderten Maßnahmen aufweisen, fokussieren die hier folgenden Abschnitte zu den Handlungsbedarfen der Kindergarantie auf Letzteres, also die tatsächlich bestehenden und geplanten Maßnahmen des Bundes in den Handlungsfeldern. Es ist festzuhalten, dass keine der im NAP genannten Maßnahmen über die ohnehin geplanten Maßnahmen (aus bspw. dem Koalitionsvertrag) hinausgeht. 

  • Insgesamt betrachtet gelingt dem NAP weder die Identifikation von Lücken in den Maßnahmen (weder hinsichtlich der bestehenden Bedarfe in den Handlungsfeldern noch hinsichtlich der Berücksichtigung der Zielgruppen der Kindergarantie) noch das Setzen neuer, eigener Akzente zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Hier sollte beim Fortschreiben des NAP nachgebessert werden.

3.1 Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung

Die ersten Lebensjahre sind von entscheidender Bedeutung für die soziale Teilhabe und den weiteren Bildungsweg. Angeboten frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung wird daher berechtigterweise ein hoher Stellenwert als Bildungsort zugeschrieben. Gleichzeitig ist Kindertagesbetreuung notwendig für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und leistet damit einen wichtigen Beitrag in der Prävention und Bekämpfung von Familienarmut. 

Aufgrund der hohen Nachfrage nach Kindertagesbetreuung bei gleichzeitigem Fachkräftemangel – vor allem im U3-Bereich – bekommen derzeit jedoch nicht alle anspruchsberechtigten Kinder einen Platz. Kinder aus benachteiligten Familien nehmen im Vergleich mit einkommens- und bildungsstärkeren Familien die Möglichkeit einer Kindertagesbetreuung mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit wahr, da der Zugang zu qualitativ hochwertiger Kindertagesbetreuung selektiv eingeschränkt und die Erreichbarkeit abhängig von den ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen der Eltern ist. Kinder aus privilegierten Lebensumständen sind daher oft im Vorteil, während Kinder aus armutsbetroffenen oder -gefährdeten Familien, die laut Studien besonders von guten frühkindlichen Bildungs- und Betreuungsangeboten profitieren können, schlechter erreicht werden (NAP, S. 36). Zugänglichkeit und Erreichbarkeit von qualitativ hochwertigen Bildungs- und Betreuungsangeboten sind also entschieden armutsrelevant.

Der NAP enthält nichtsdestotrotz wenig Konkretes, um Zugangshürden insbesondere für Kinder aus benachteiligten Familien abzubauen.

  • Aus Sicht der AGJ helfen mehrsprachige Informationen, leichtere Antragstellung auf Förderung oder unbürokratische Hilfe und Unterstützung der Eltern, die eine Betreuungsmöglichkeit suchen, den Rechtsanspruch für Kinder zu realisieren.

Momentan bestehen große Unterschiede in der Kostenbeteiligung zwischen den Bundesländern.

  • Bestehende finanzielle Zugangshürden für armutsbetroffene Familien sollten überall beseitigt werden, um frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung für armutsbetroffene Kinder gemäß der Ratsempfehlung zur Kindergarantie kostenlos zugänglich zu machen.

Denkbar wäre zudem, armutsbetroffene Familien bei der Vergabe von Betreuungsplätzen bevorzugt zu behandeln. Um die Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung voranzutreiben, müssen die Angebote auskömmlich finanziert und bundesweit vergleichbare Standards geschaffen werden. Qualität und quantitativer Ausbau der frühkindlichen Bildungs- und Betreuungsangebote sollten besonders in von Armut geprägten Sozialräumen verbessert und gefördert werden. 

  • Ferner unterstützt die AGJ den Ausbau und die Etablierung von Kita-Sozialarbeit, um Armutsprävention in Einrichtungen der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung als Regelangebot zu etablieren.

Kita-Sozialarbeit findet im NAP keine Erwähnung,[28] kann jedoch durch Aufklärung zu Ansprüchen auf finanzielle Unterstützungsleistungen, niedrigschwellige (psychosoziale) Beratung und (pädagogische) Begleitung von armutsbetroffenen und -gefährdeten Familien eine wichtige Rolle spielen. Bislang konnten Fachkraftstellen für Kita-Sozialarbeit nur im Rahmen von Modellprojekten finanziert werden. 
Schließlich vermisst die AGJ konkrete Maßnahmen zur Unterstützung von armutsbetroffenen und -gefährdeten Kindern, die an spezifischen Problemlagen anknüpfen. Dies können beispielsweise Maßnahmen der frühkindlichen kulturellen Bildung, der kinderrechtsbasierten Demokratiebildung und der Partizipation sein, durch die betroffene Kinder schon früh den Wert gesellschaftlicher Teilhabe und Vielfalt lernen und erproben können und erfahren, dass ihre Stimme gehört wird.

  • Für die Aufrechterhaltung der Qualität und den bedarfsgerechten Ausbau der Angebote im Bereich der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung sind insbesondere angesichts der mit Armutsbekämpfung und -prävention anfallenden Mehraufgaben gut ausgebildete Fachkräfte dringend nötig.

Der NAP verweist in diesem Zusammenhang auf eine im Koalitionsvertrag verabredete Entwicklung einer Gesamtstrategie von Bund, Ländern und Kommunen zur Sicherung der Fachkräftebedarfe im Bereich der Kindertagesbetreuung (NAP, S. 40). Die AGJ unterstützt dies und weist darauf hin, dass es zur Attraktivitätssteigerung des Arbeitsfelds u. a. einer angemessenen finanziellen Ausstattung der Kinder- und Jugendhilfe sowie einer besseren Entlohnung der in diesem Bereich beschäftigten Fachkräfte bedarf. Zudem müssen die Arbeitsbedingungen in den Einrichtungen spürbar verbessert sowie eine ausreichende Anzahl an generalistisch ausgerichteten und kostenfreien Ausbildungs- und Studienplätzen für die Sozialen Berufe in der Kinder- und Jugendhilfe sichergestellt werden.[29]

  • Dringend zu berücksichtigen ist die Notwendigkeit einer armutssensiblen Ausbildung sowie Praxis der Fachkräfte.

Armutssensibilität beginnt mit der Vermittlung und Aneignung erforderlicher Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen im Rahmen der Ausbildung bzw. des Studiums sowie der Fort- und Weiterbildungen von Fachkräften, um Armutssensibilität als fachliches Handeln zu ermöglichen. Während dies auf Fachkräfte ab der frühkindlichen Bildung zutrifft, wird die Notwendigkeit einer kultur- und armutssensiblen Qualifizierung im NAP lediglich einmal knapp hinsichtlich der Lehr- und Fachkräfte im Kontext von Bildungs(beratungs)angeboten an Schulen erwähnt (NAP, S. 43).

3.2 Bildungsangebote und schulbezogene Aktivitäten

Gerade im europäischen Vergleich ist der Bildungserfolg in Deutschland sehr stark von der sozialen Herkunft abhängig, wie der NAP konstatiert (S. 41). Trotz der Fortschritte beim Bildungsstand und bei der Bildungsbeteiligung ist es bisher nicht gelungen, den engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg nachhaltig aufzubrechen. 
Aus Sicht der AGJ muss daher innerhalb und außerhalb der Schule ein Lernumfeld geschaffen werden, das Bildungserfolge befördert und Kinder so unabhängig von den Ressourcen des Elternhauses unterstützt. Dies ist ohne den Beitrag der Kinder- und Jugendhilfe, in der die Förderung von Persönlichkeitsentwicklung und Bildungsprozessen in allen Handlungsfeldern im Vordergrund steht, nicht denkbar.

Vor diesem Hintergrund vermisst die AGJ ein stärkeres Bekenntnis zu den Chancen in der stärkeren Öffnung von Schulen für den Sozialraum und außerschulische Bildungspartner, etwa die Kinder- und Jugendarbeit und Gesundheitsdienste. Ebenso fehlt Konkretes zu multiprofessionellen Teams an Schulen. Die Formulierungen im Konjunktiv im NAP lassen keinen Rückschluss auf die Haltung des BMFSFJ zu solch multiprofessionellen Teams zu und unter Maßnahmen werden sie nicht erwähnt.

  • Die AGJ unterstützt die unter „Handlungsbedarfe“ wiedergegebene Haltung der Stakeholder*innen, wonach eine Öffnung von Schulen in den Sozialraum die Ressourcen multiprofessioneller Unterstützung vor Ort für benachteiligte Kinder und Jugendliche besser nutzbar macht und der Einsatz multiprofessioneller Teams an Schulen einen wichtigen Schritt im Ausbau der Schulen zu inklusiven Bildungsorten darstellt. 

Um Bildungsangebote armutssensibel zu gestalten, Zugangsbarrieren abzubauen und Chancengerechtigkeit zu erhöhen, braucht es zielgerichtete Maßnahmen. Eine solche Maßnahme könnte aus Sicht der AGJ das im Koalitionsvertrag vereinbarte Startchancen-Programm werden, durch welches ab dem Schuljahr 2024/2025 etwa 4.000 Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schüler*innen über 10 Jahre hinweg eine besondere (finanzielle) Unterstützung erhalten sollen. Angesichts der Tatsache, dass das Startchancen-Programm das zentrale Bildungsvorhaben der Ampelkoalition ist, überrascht es, dass es im NAP nicht näher gemäß dem Koalitionsvertrag und dem Eckpunktepapier [30] ausgeführt wird, wenn auch die Verhandlungen mit den Ländern, von denen der Bund eine gleichteilige Finanzierung erwartet, ausstehen.[31]

Ein weiterer Baustein in der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen kann laut NAP der 2021 beschlossene Rechtsanspruch auf Ganztagsbildung sein, der ab August 2029 allen Grundschulkindern der Klassenstufen eins bis vier ein Angebot ganztägiger Förderung zusichert (NAP S. 43).[32] Dem stimmt die AGJ zu, sofern qualitativ hochwertige Angebote sichergestellt werden. Es ist wichtig anzuerkennen, dass kommunale und freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe als verlässliche Kooperationspartner von Schulen seit vielen Jahren eine tragende Rolle innehaben und einen wesentlichen Bestandteil für die Gestaltung einer ganzheitlichen Bildungspraxis darstellen.

  • Um qualitativ hochwertige Ganztagsbetreuung sicherzustellen, sollten Bund, Länder und Kommunen unter Einbeziehung der Expertise aller Stakeholder*innen konkrete Qualitätsstandards entwickeln. 

Um aber überhaupt allen anspruchsberechtigten Kindern einen Platz bieten zu können, müssen in den nächsten Jahren laut NAP weitere 600.000 Ganztagsplätze geschaffen und ein zusätzlicher Bedarf von mehr als 17.000 Lehrkräften an allgemeinbildenden Schulen und 65.600 Fachkräften im Ganztag gedeckt werden (NAP, S. 43). Obwohl die Verantwortung dafür bei den Ländern liegt, muss auf diese große Herausforderung hingewiesen werden, da Fachkräfte insbesondere in Schulen mit einem hohen Anteil an Kindern und Jugendlichen aus sozioökonomisch schlechter gestellten Familien fehlen. An Lösungen sollten und müssten Bund und Länder entsprechend dem kooperativen Ansatz der Kindergarantie gemeinsam arbeiten. 

3.3 Gesundheitsversorgung

Laut NAP sind Kinder und Jugendliche in Deutschland allgemein betrachtet recht gesund und haben in der Regel einen Anspruch auf umfassende Leistungen durch ihre beitragsfreie Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung (NAP, S. 45). Dies ist richtig, laut NAP müssen aber alle Kinder Zugang zu kostenloser und effektiver Gesundheitsversorgung haben, unabhängig ihrer Staatsangehörigkeit oder ihres Migrationsstatus. Dies ist für Kinder und Jugendliche, die Leistungen unter dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen, nicht uneingeschränkt der Fall.[33]

  • Aus Sicht der AGJ sind Maßnahmen zu ergreifen, damit alle minderjährigen Geflüchteten Gesundheitsleistungen im notwendigen Umfang erhalten.

Auch und insbesondere gilt dies für geflüchtete Kinder mit psychischen Gesundheitsproblemen. Kinder mit psychischen Gesundheitsproblemen sind eine der Zielgruppen der Kindergarantie. Geflüchtete Kinder mit psychischen Gesundheitsproblemen haben in Deutschland aber nur Zugang zu Psychotherapie, wenn es zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich ist (§ 6 AsylbLG).

  • Es gilt daher sicherzustellen, dass diese Kinder und Jugendlichen direkt nach ihrer Ankunft in Deutschland einen Anspruch auf die notwendige medizinische und psychotherapeutische Leistung haben.[34]

Hinsichtlich der Zugänge zu Gesundheitsversorgung ist außerdem festzuhalten, dass sozial benachteiligte Familien aufgrund bspw. einer Sprachbarriere oder bürokratischer Hürden benachteiligt sind. Allgemein werden Familien in belastenden Lebenslagen von universellen Angeboten der Gesundheitsförderung weniger erreicht (NAP, S 46). Eine wichtige Hilfe in diesem Kontext können aus Sicht der AGJ Erziehungsberatungsstellen oder Familienzentren sein, die Familien in Armutslagen nicht nur frühzeitig nötige Informationen vermitteln, sondern als Vertrauenspersonen auch den Zugang zu geeigneten, möglicherweise ressortübergreifenden Unterstützungsangeboten erleichtern und Termine vermitteln können. Diese Angebote sollten flächendeckend gestärkt werden, für Familien in schwierigen Lebenssituationen besser zugänglich gemacht sowie nicht-stigmatisierend, niedrigschwellig und vor allem armutssensibel gestaltet werden.

  • Damit alle Kinder und Jugendlichen, auch solche in sozial benachteiligten Regionen, uneingeschränkt Zugang zu effektiver Gesundheitsversorgung haben, müssen Behandlungskapazitäten zur Verfügung stehen und Versorgungsangebote ausgebaut werden.

Des Weiteren hält die AGJ die Rolle von Bildung im Zusammenhang mit Gesundheit für essentiell.

  • Kinder und Jugendliche müssen befähigt werden, gesundheitsförderlich und präventiv handeln zu können, indem ihnen einerseits Kenntnisse zu gesundheitsbewusstem Verhalten vermittelt und andererseits mehr Gesundheitsangebote, etwa zur Bewegungsförderung, gemacht werden.

„Prävention und Gesundheitsförderung sind nicht als Zusatzaufgabe, sondern als integraler Bestandteil der Kita- und Schulentwicklung zu verstehen“, konstatiert der NAP entsprechend und sieht den Bedarf nach Anstrengungen auf der Länderebene bei der dazu nötigen Fachkräftequalifikation (S. 47). Die AGJ unterstützt einen Vorschlag des Deutschen Ärztetags, nach dem die Kultusministerkonferenz eine länderübergreifend abgestimmte Strategie entwickeln soll, mit der die Förderung von Gesundheitskompetenz in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen nachhaltig verändert werden kann [35], sieht hier aber ebenso die Jugend- und Familienministerkonferenz angesprochen.

  • Die AGJ hält es dabei für essenziell, dass die Vermittlung von Gesundheitswissen und Gesundheitskompetenz in Kitas, Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe auch Wissen zum Erhalt und zur Stärkung der psychischen Gesundheit umfasst.

Fachkräfte müssen entsprechend auch hinsichtlich ihrer Sensibilität im Umgang mit psychischem Belastungen bei Kindern und Jugendlichen qualifiziert werden – umso mehr angesichts der Tatsache, dass Kinder mit psychischen Gesundheitsproblemen eine besondere Zielgruppe der Kindergarantie sind. An der Schnittstelle zwischen Schule und Gesundheitswesen können eine gestärkte Schulpsychologie und Schulsozialarbeit die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen unterstützen.

3.4 Gesunde Ernährung und eine kostenlose Mahlzeit pro Schultag

Gesunde Ernährung ist ein Teil von gesundem Aufwachsen und wichtig für alle Kinder und Jugendlichen, ungeachtet ihrer Lebensumstände. Der NAP konstatiert, ohne dafür eine Quelle anzugeben, dass „[i]nsbesondere armutsgefährdete Kinder und Jugendliche und solche aus bildungsfernen Haushalten […] häufiger Lebensmittel, die für eine ausgewogene Ernährung ungünstig sind, [verzehren]“ (S. 50).

  • Die AGJ kritisiert diese Zuschreibung und warnt vor der Perpetuierung einer Stigmatisierung bildungsferner Familien in diesem Zusammenhang.

Richtig ist, dass die aktuellen Preissteigerungen Familien mit geringem Einkommen aufgrund des höheren Konsumanteils am Einkommen besonders empfindlich treffen (NAP, S. 50). Die AGJ hält es deshalb für entscheidend, dafür Sorge zu tragen, dass gesunde Ernährung auch für benachteiligte Familien erschwinglich ist. Der NAP erkennt dies insofern an, als im Kapitel „Anstieg der Verbraucherpreise“ festgehalten wird, dass staatliche Unterstützungen darauf abzielen sollten, einen gesundheits- und sozialförderliche Lebensweise gerade bei armutsgefährdeten Familien zu ermöglichen (S. 34). Allerdings wird das Thema nicht weiter vertieft und eine Problematisierung der Tatsache, dass die Regelbedarfe in der Grundsicherung (SGB II, XII, AsylbLG) schon vor und während der Inflation nicht für eine ausgewogene Ernährung ausreichten,[36] entfällt im Kapitel zum Handlungsfeld Ernährung komplett. Hier sollte nachgebessert werden. 

  • Mit Blick auf eine gesunde kostenlose Mahlzeit pro Schultag setzt sich die AGJ dafür ein, dass alle Kinder und Jugendlichen in allen Bildungs- und Betreuungseinrichtungen in Deutschland Zugang zu einem gesunden, ausgewogenen und nachhaltigen Mittagessen nach den bis 2030 verpflichtend einzuführenden DGE-Qualitätsstandards bekommen.

Auf diese Weise profitieren auch benachteiligte Kinder und Jugendliche, die nicht unbedingt aus armutsbetroffenen Familien kommen, von mindestens einer gesunden Mahlzeit. Der Bund hätte durch den NAP die Möglichkeit, koordinierend darauf hinzuwirken, dass die Bundesländer dies umsetzen.

  • Die AGJ weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die höheren Kosten für qualitativ hochwertige und gesunde Lebensmittel refinanziert sein müssen, da sie Träger und Einrichtungen mit Gemeinschaftsverpflegung sonst vor große finanzielle Herausforderungen stellen.

Wie gesunde Lebensweisen insgesamt, wird auch das Ernährungsverhalten in Kindheit und Jugend maßgeblich geprägt.

  • Vor diesem Hintergrund ist es aus Sicht der AGJ wichtig, jungen Menschen möglichst früh eine gesundheitsförderliche und klimafreundliche Ernährungsbildung zukommen zulassen. Entsprechende Kompetenzen sollten in Angeboten wie den Frühen Hilfen, in Kitas und in Schulen an Eltern bzw. Kinder vermittelt und Fachkräfte dahingehend qualifiziert werden.

3.5 Angemessener Wohnraum

Angemessener Wohnraum und ein entsprechendes Wohnumfeld sind wichtige Qualitätskriterien für ein gesundes, gelingendes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen. Gerade armutsbetroffene und -gefährdete Familien geben einen überdurchschnittlich hohen Anteil ihres verfügbaren Einkommens für Wohnen aus und haben weniger Wohnfläche zur Verfügung als der Durchschnitt der Bevölkerung. Die aktuelle Wohnungsnot und die hohen, weiter steigenden Mieten – sowie gestiegene Lebenshaltungskosten insgesamt – führen zu einer Verschärfung der Situation und lassen auch Familien mit an sich auskömmlichen Einkommen knapp oberhalb der Bemessungsgrenzen in Armutslagen rutschen. Der Zugang zu Wohnraum ist außerdem oft diskriminierungsbelastet. Beispielsweise sind Familien mit Einwanderungsgeschichte bei der Wohnungssuche häufig von Benachteiligungen betroffen.

Die EU-Ratsempfehlung zur Kindergarantie sieht vor, dass die EU-Mitgliedstaaten bedürftigen Kindern und Jugendlichen einen effektiven und somit diskriminierungsfreien Zugang zu angemessenem Wohnraum garantieren (Art. 4 b). Angemessener Wohnraum meint u. a. eine sich in einem angemessenen Erhaltungszustand befindliche und zu erschwinglichen Kosten zugängliche Unterkunft, wobei das Kriterium der Erschwinglichkeit auch die Bekämpfung der Energiearmut miteinschließt (Art. 3 h und 10 b). Die Ratsempfehlung macht zudem explizit, dass Kindern, Jugendlichen und ihren Familien in temporären Unterkünften – z. B. in Folge von Flucht oder Obdachlosigkeit – möglichst schnell Wohnraum zur Verfügung zu stellen ist (Art. 10 a). Der NAP gesteht vor diesem Hintergrund ein, dass die Ratsempfehlung viele Aspekte anspricht, hinsichtlich derer in Deutschland noch Handlungsbedarf besteht (S. 56).

  • Die AGJ vermisst im NAP Ideen und konkrete Maßnahmen für den sozialen Wohnungsbau, für das Jugendwohnen nach § 13 (3) SGB VIII sowie für die Verbesserung der (Wohn)Situation Geflüchteter in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften.

Die sich aus dem zunehmend angespannten Wohnungsmarkt ergebenden Nutzungskonflikte um angemessenen Wohnraum betreffen in erster Linie in prekären Verhältnissen lebende Menschen. Dazu zählen sozioökonomisch schlechter gestellte Familien genauso wie Geflüchtete, Auszubildende und Studierende, insbesondere solche aus Familien in prekären Lebenslagen. Dabei ist aus Sicht der AGJ der Aspekt des angemessenen Wohnumfelds nicht zu vernachlässigen, welcher die Berücksichtigung von u. a. Lärm- und Schadstoffemissionen, Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr sowie sichere Grün- und Spielflächen umfasst.

Um die Zugänglichkeit von angemessenem Wohnraum für betroffene junge Menschen und Familien insgesamt zu erleichtern, gilt es, Barrieren abzubauen und Unterstützung zu bieten. Um finanzielle Leistungen besser zugänglich zu machen, sollten Informationen in verschiedenen Sprachen sowie in leichter Sprache zur Verfügung gestellt werden, Antragsverfahren vereinfacht und Unterstützungsangebote wie etwa Familienzentren oder Lotsendienste etabliert bzw. verstärkt werden.

  • Aus Sicht der AGJ sollte der NAP darüber hinaus Maßnahmen enthalten, oder wenigstens Ansätze entwickeln, wie der Bund zusammen mit Ländern und Kommunen eine soziale Vergabepraxis befördern kann, die den Zugang zu angemessenem und erschwinglichem Wohnraum für benachteiligte Familien erleichtert.

Angesichts der Tatsache, dass sich armutsbetroffene und -gefährdete Familien gezwungen sehen, einen immer größeren Teil ihres verfügbaren Einkommens für Wohnen auszugeben, sollte ferner eine Überarbeitung der Ermittlung angemessener Kosten für Unterkunft und Heizung in der Grundsicherung anvisiert werden. 

Vielerorts ist allerdings nicht nur die Zugänglichkeit zu Wohnraum ein Problem für benachteiligte Familien: Es steht schlicht nicht ausreichend Wohnraum zur Verfügung, um die Bedarfe zu decken. Laut NAP kann hierbei die geplante Schaffung von jährlich 100.000 öffentlich geförderten Wohnungen, „von denen die genannte Zielgruppe ebenfalls profitieren kann“, helfen (S. 57). Die AGJ weist darauf hin, dass es zwar in der Tat möglich ist, dass armutsbetroffene Familien davon profitieren, dass aber auch klar ist, dass diese Familien auf dem Wohnungsmarkt oft benachteiligt werden, was zum Problem der Zugänglichkeit zurückführt. Um die Zielgruppe der Kindergarantie wirklich zu erreichen, bedarf es dringend zielgerichteter Maßnahmen, da sich die Rahmenbedingungen mittelfristig weiter verschärfen werden.

Es gilt zudem zu beachten, dass obdachlose Kinder oder Kinder, die von gravierender Wohnungsnot betroffen sind, eine der besonderen Zielgruppen der Kindergarantie sind, wodurch das Handlungsfeld zusätzlich an Relevanz gewinnt. Die AGJ begrüßt die Ankündigung eines im Koalitionsvertrag verabredeten Nationalen Aktionsplans gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit, sofern in diesem Aktionsplan neue Akzente gesetzt werden, um einen nachhaltigen Unterschied zu machen. Es sollen in diesem Aktionsplan auch neue Ansätze wie Housing First erprobt werden (NAP, S. 58). Dies ist grundsätzlich gutzuheißen. Der Verweis darauf ignoriert aber die Tatsache des nicht verfügbaren Wohnraums, den es auch als Voraussetzung für dieses Modell braucht.

  • Um Obdach- und Wohnungslosigkeit insgesamt zu bekämpfen, bedarf es einer ressort- und ebenenübergreifenden Zusammenarbeit sowie niedrigschwelliger und kostenloser (Beratungs-) Angebote vor Ort. Eine inklusive und vernetzte Jugendhilfeplanung ist hierfür ein Schlüsselfaktor.

Der Bund sollte dabei eine Gesamtstrategie verfolgend koordinierend wirken und die Länder und Kommunen bei der Umsetzung unterstützen. Der NAP sollte in diesem Sinne konkreter machen, wie der hierfür geplante Nationale Aktionsplan gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit inhaltlich ausgestaltet werden soll und wann mit ihm zu rechnen ist.

Zuletzt bleibt festzustellen, dass aus Sicht der AGJ die ungenügende Datenlage für eine evidenzbasierte Politik gerade im Handlungsfeld Wohnen ein großes Problem darstellt. Um zielgerichtete Maßnahmen zu entwickeln, die armutsbetroffene und -gefährdete junge Menschen insgesamt sowie im Einzelnen die jeweils relevanten Zielgruppen erreichen, muss besser erfasst werden, wie viele Kinder und Jugendliche von Obdach- und Wohnungslosigkeit betroffen sind, welche individuellen Bedarfe verschiedene Betroffene haben (u. a. junge Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen, mit Behinderungen, geflüchtete Menschen oder Care Leaver*innen) und welche Ursachen und Folgen Obdach- und Wohnungslosigkeit im Lebensverlauf haben.

3.6 Maßnahmen von Ländern, kommunalen Spitzenverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen

Ebenfalls im NAP enthalten sind Maßnahmen von Ländern, kommunalen Spitzenverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die im Oktober 2022 durch ein Schreiben der Parlamentarischen Staatssekretärin Ekin Deligöz aufgerufen wurden, sich mit Beiträgen – je max. drei Maßnahmen – aktiv an der Erstellung des NAP zu beteiligen. Hierbei handelt es sich um einen nicht repräsentativen Ausschnitt der Maßnahmenlandschaft in Deutschland, wie der NAP betont (S. 59). Insgesamt wurden 173 Maßnahmen von 83 Organisationen gemeldet, die im NAP u. a. hinsichtlich Zielgruppen, Handlungsfeld, maßnahmenübergreifenden Themen und Kooperationspartnern analysiert werden.

Während die AGJ die eingereichten Maßnahmen für relevant und eine Aufnahme in den NAP zum Zweck der Darstellung der ebenenübergreifenden Anstrengung zur Armutsbekämpfung für sinnvoll hält, erschließt sich nicht, mit welchem Ziel die Analyse der (nicht vollständigen) Maßnahmensammlung durchgeführt wurde und welche Schlüsse daraus gezogen werden. Dies gilt insbesondere, da der Bund seine eigenen Maßnahmen nicht nach demselben Muster analysiert (z. B. den Maßnahmen keine Zielgruppen zuordnet).

  • Die AGJ hält es vor diesem Hintergrund für sinnstiftender, die Absicht einer solchen Analyse zu verdeutlichen, die Maßnahmen enger mit den Maßnahmen des Bundes und mit den ermittelten Handlungsbedarfen in den Handlungsfeldern zu verknüpfen und sie somit systematisch in eine Gesamtstrategie einzuordnen.

4. Bewertung des geplanten weiteren Umsetzungsprozesses der Kindergarantie

Gemäß der Ratsempfehlung sieht der NAP ein kontinuierliches Monitoring der Fortschritte in der Umsetzung der Kindergarantie bis 2030 vor und kooperiert dafür mit dem Deutschen Jugendinstitut (DJI). So sollen evidenzbasiert Nachsteuerungsbedarfe identifiziert und im Rahmen der Fortschreibung des NAP adressiert werden. Die AGJ begrüßt die so geschaffene Rahmenstruktur für die wissenschaftliche Begleitung der Kindergarantie. Gleichzeitig kommen einige Aspekte im NAP zu kurz, welche im Folgenden erläutert werden.

4.1 Monitoring und Evaluation

Laut NAP werden „im Zuge der Umsetzung des NAP […] der Datenbedarf für ein effektives Monitoring konkretisiert und eine Verbesserung der Dateninfrastruktur zur Untersuchung von Armut und sozialer Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen und ihren Familien angestrebt“ (S. 66). Dies ist positiv zu bewerten, werden doch im NAP einige Datenlücken (bspw. hinsichtlich wohnungs- und obdachloser Kinder oder Kinder aus suchtbehafteten Familien) identifiziert. Auch stehen kaum Daten zur Verfügung, wie viele Kinder gleichzeitig von Armut und weiteren spezifischen Belastungen betroffen sind, bspw. geflüchtete Kinder mit Behinderungen. Zuletzt bleibt zu erwähnen, dass eine Geschlechterperspektive laut Ratsempfehlung im gesamten unterstützenden Rahmen der Kindergarantie zu berücksichtigen ist (Art. 6 i). Der NAP erwähnt dies ebenfalls bei der inhaltlichen Wiedergabe der Ratsempfehlung (S. 8). Darüber hinaus fehlen aber alle weiteren Verweise und es bleibt unklar, ob eine Geschlechterperspektive als bedeutend in der Umsetzung der Kindergarantie angesehen wird. Auch hierfür ist eine entsprechende Datenerhebung unerlässlich.

  • Die AGJ erwartet daher eine Verbesserung der Datenbasis, die eine Voraussetzung für passgenaue Unterstützungsangebote und Maßnahmen ist.

Ein weiterer im NAP bisher fehlender Baustein im Monitoring sind in der Ratsempfehlung festgeschriebene „quantitative und qualitative Ziele, die es in Bezug auf bedürftige Kinder zu erreichen gilt“ (Art. 11 c ii).

  • Solche Ziele sollten mit Fristen, Daten und Indikatoren hinterlegt sein, um Fortschritte messen zu können.

Der NAP erhält allerdings keine konkreten Ziele, weder übergreifend noch in den einzelnen Handlungsfeldern. Es werden auch keine Ideen entwickelt oder Ansätze vorgestellt, wie konkret die Wirkung der dargestellten Maßnahmen und damit der Umsetzungsfortschritt evaluiert werden soll. 

Schließlich sollten diese Ziele und Fristen auch mit Zuständigkeiten verknüpft werden. Nur so kann ressort- und ebenenübergreifend ein gemeinsames Bewusstsein aller beteiligten Akteur*innen für die gemeinsame Bemühung um Armutsbekämpfung und die Erhöhung von Teilhabegerechtigkeit entstehen. Sollten Zuständigkeiten für mit Daten und Indikatoren hinterlegte Ziele Eingang in den NAP finden, kann er für alle beteiligten Ebenen und Ressorts sowohl als Arbeits- als auch Bewertungsgrundlage dienen.

4.2 Beteiligung der Zivilgesellschaft

Laut NAP gilt es, die Umsetzung und Fortschreibung der Maßnahmen über die gesamte Laufzeit der Kindergarantie bis 2030 gemeinsam mit allen relevanten Akteur*innen zu gestalten (S. 66). Dies ist begrüßenswert, ebenso wie der lange Beteiligungsprozess im Vorfeld der Veröffentlichung des NAP, obwohl für das Einholen von Stellungnahmen – wie es im Mai 2023 zu einer Entwurfsfassung des NAP getan wurde – mehr Zeit zwischen Aufforderung und Frist angemessen wäre. Im Mai 2023 betrug die Rückmeldefrist kaum 10 Arbeitstage, was mit Blick auf den Umfang und die thematische Breite des NAP in Organisationen und Verbänden nicht leicht zu bewerkstelligen war, wo oft wegen verschiedener Zuständigkeiten und Expertise Abstimmungsprozesse nötig sind.[37] Es wäre darüber hinaus angemessen, transparent zu machen, ob und inwiefern die abgegebenen Stellungnahmen in der finalen Fassung des NAP Berücksichtigung gefunden haben. 
Im weiteren Umsetzungsverlauf wird die Zivilgesellschaft vor allem durch den sogenannten NAP-Ausschuss beteiligt.[38] Dies ist zu begrüßen, da neben der Zivilgesellschaft auch die Wissenschaft, die Bundes- und Landesebene sowie die kommunalen Spitzenverbände am Ausschuss beteiligt sein sollen, wodurch die Stakeholder*innen gemeinsam über das Fortschreiben des NAP beraten können (NAP, S. 67). Der NAP konkretisiert allerdings nicht, welche Kompetenzen der NAP-Ausschuss haben soll und inwiefern die dort stattfindende Beratung und die Vorschläge der beteiligten Akteur*innen tatsächlich Eingang finden in die Weiterentwicklung des NAP. Dies sollte in jedem Fall transparent gemacht werden. 

4.3 Beteiligung von (armutsbetroffenen) Kindern und Jugendlichen

Für die in der Ratsempfehlung zur Kindergarantie vorgesehene Kinder- und Jugendbeteiligung zeichnet überwiegend die beim DJI angesiedelte Service- und Monitoringstelle zur Umsetzung der Kindergarantie in Deutschland (ServiKiD) verantwortlich. Der NAP enthält erste Konzepte, wie diese Beteiligung im weiteren Umsetzungsprozess aussehen soll. Diese sind begrüßenswert, da sie niedrigschwellig auf kommunaler Ebene ansetzen und geeignet scheinen, um Kinder und Jugendliche zu erreichen. Nicht geplant dagegen ist die Beteiligung von betroffenen Familien. Dies sollte in Betracht gezogen werden, da Kinderarmut Familienarmut voraussetzt und nicht isoliert betrachtet werden kann. Auch wird nicht ausgeführt, wie sichergestellt werden soll, dass gerade armutsbetroffene und -gefährdete Kinder und Jugendliche, die unter Umständen darüber hinaus einer Mehrfachbenachteiligung ausgesetzt sind, strukturell beteiligt werden.

Das Scheitern der Einbindung verschiedener Zielgruppen ist oft auf fehlende Entschlossenheit aller Beteiligten und bestehende Zugangsbarrieren zurückzuführen. Gerade Kinder mit Migrationshintergrund, aus benachteiligten Sozialräumen, sozioökonomisch schlechter gestellten und bildungsbenachteiligten Schichten sowie junge Menschen mit Behinderungen finden oft keinen Zugang zu strukturellen Beteiligungsformaten.

  • Die AGJ wünscht sich deshalb im NAP mehr Informationen, wie gewährleistet werden kann, dass die Zielgruppen der Kindergarantie durch die Beteiligungsformate tatsächlich erreicht werden.

Der NAP erwähnt außerdem, dass zur Nutzung von Synergien und zur Vermeidung von Parallelstrukturen im Kontext der Kinder- und Jugendbeteiligung ein fachlicher Austausch mit den Akteuren des NAP für Kinder- und Jugendbeteiligung stattfindet (S. 68-69). Auch dazu wäre eine eingehendere Erklärung wünschenswert. 

  • Unabdingbar ist, dass transparent gemacht wird, wie die Ergebnisse der Kinder- und Jugendbeteiligung in den NAP einfließen und dass Kinder und Jugendliche den Einfluss ihrer Beteiligung nachvollziehen können.

Der NAP verweist für die Beteiligung auf Qualitätsstandards [39], die es zu befolgen gilt, was zu begrüßen ist. Doch hinsichtlich der im NAP unter Beteiligung aufgeführten Teilnahme von Jugendlichen am Kick-Off zum NAP im Mai 2022 sowie der Kinderchancen-Tour (NAP, S. 11) ist nicht klar, ob und inwieweit die von jungen Menschen geäußerten Erwartungen an den NAP, ihre Wünsche und Bedürfnisse bei der Erarbeitung des NAP berücksichtigt wurden.

4.4 Austausch mit anderen EU-Mitgliedstaaten 

Ein im NAP bisher fehlendes, aber aus Sicht der AGJ sinnvolles europäisches Element ist der Austausch mit anderen EU-Mitgliedstaaten zu bewährten Praktiken und Maßnahmen im Rahmen der Kindergarantie.[40] Ein Beispiel für den Nutzen eines solchen Austauschs findet sich im NAP innerhalb des Handlungsfelds gesunde Ernährung in Form der Programminitiative „Eine gesunde Ernährung für ein gesundes Leben“ (JPI HDHL). In dieser arbeiten EU-Mitgliedstaaten und assoziierte Staaten zusammen, um den aktuellen Herausforderungen im Bereich Ernährung, körperliche Aktivität und Gesundheit durch länderübergreifende Zusammenarbeit zu begegnen (NAP, S. 55). Viele EU-Mitgliedstaaten stehen vor ähnlichen Herausforderungen und können durch transnationale Projekte und Austauschformate, wie sie in vielen Bereichen und auf vielen Ebenen umgesetzt werden, wichtige Impulse aus anderen Ländern sammeln.

  • Die vielfältigen Formen des transnationalen Austauschs und der Kooperation zur Umsetzung der Kindergarantie sollten aus Sicht der AGJ im NAP kommuniziert und transparenter gemacht werden. Ferner regt die AGJ an, Stakeholder*innen, wenn angemessen, einzubeziehen.

5. Fazit

Die Entwicklung des NAP hat in Deutschland viel Zeit in Anspruch genommen, während der sich verschiedene Ressorts auf Bundesebene über eine bestmögliche Verknüpfung der Teilbereiche der Kindergarantie ausgetauscht haben. Dies ist grundsätzlich begrüßenswert und stellt einen wichtigen Schritt gegen die Versäulung der Armutsbekämpfung dar. 

Im NAP kommt dieser ressortübergreifende Ansatz aus Sicht der AGJ aber leider zu kurz. Insgesamt betrachtet fehlt ihm ein ganzheitlicher Blick auf Armut sowie eine alle föderalen Ebenen integrierende, zukunftsorientierte Gesamtstrategie. Angesichts der Tatsachen, dass der NAP weder finanziell unterfüttert ist, noch neue – d. h. nicht bereits vorher geplante – Maßnahmen zur Umsetzung der Kindergarantie enthält, bietet er in seiner jetzigen Fassung keine neuen Ideen. Die dargestellten Maßnahmen haben in den letzten Jahren nicht zu einer Abnahme von Kinder- und Jugendarmut geführt.

  • Dies sollte Anlass sein, sich mit den bisherigen Politiken kritisch auseinanderzusetzen, Lücken zu identifizieren und daraus konkrete Schritte und Maßnahmen abzuleiten sowie Priorisierungen, Meilensteine und Ziele festzulegen, die den Zeitraum bis 2030 abdecken. 

Die Kindergarantie ist ein wichtiger europäischer Impuls, den es mit passenden Maßnahmen und Investitionen in u. a. Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnraumplanung aufzunehmen gilt. Der NAP ist als „dynamisches Instrument“ angelegt, das kontinuierlich verbessert und an veränderte Bedarfe und neue gesellschaftliche Herausforderungen angepasst werden soll (NAP, S. 70-71). Die AGJ hofft daher, dass durch die gemeinsame zukünftige Arbeit an der Fortschreibung des NAP noch eine ganzheitliche und langfristige Strategie zur Bekämpfung von Kinderarmut und sozialer Ausgrenzung entsteht, die die im NAP bereits enthaltenen guten Ansätze aufnimmt, ausbaut und die durch konkrete politische Beschlüsse auch umgesetzt wird.

Dies wird nur gelingen, wenn ein echter politischer Wille vorhanden ist, die Bekämpfung von Familien-, Kinder- und Jugendarmut zur Priorität zu machen. Angesichts aktueller, über die Umsetzung der Kindergarantie hinausgehender Entwicklungen und Debatten bestehen allerdings Zweifel, ob die Bundesregierung eine aktive, zukunftsorientierte Umsetzung und Gestaltung europäischer Grundrechtepolitik ernsthaft anvisiert. Der vorliegende Haushaltsentwurf für 2024, der massive Einschnitte im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe – so etwa beim Kinder- und Jugendplan des Bundes – vorsieht, aber auch die Aussagen des Bundesfinanzministers, die die soziale Stigmatisierung von Kindern und Jugendlichen in Armutslagen befeuern, stellen infrage, ob die Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut von der Bundesregierung als übergreifendes, zentrales Anliegen verstanden wird und unter diesen Voraussetzungen als Ziel erreicht werden kann.

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ 
Berlin, den 21./22.09.2023

Fußnoten

[1] Ansprechperson für dieses Positionspapier in der AGJ ist die zuständige Referentin des Arbeitsfeldes II „Kinder- und Jugend(hilfe)politik in Europa“: Hanna Schlegel (hanna.schlegel@agj.de).
[2] Eurostat (2023): „Children at risk of poverty or social exclusion”.
[3] Ursula von der Leyen (2019): „Eine Union, die mehr erreichen will. Meine Agenda für Europa“.
[4] Europäische Kommission: „Aktionsplan zur europäischen Säule sozialer Rechte“.
[5] Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament.
[6] Europäisches Parlament (2015): „Verringerung von Ungleichheit mit besonderem Schwerpunkt auf Kinderarmut“.
[7] Zu jedem teilnehmenden EU-Mitgliedstaat wurde eine eingehende Länderstudie veröffentlicht. Der Bericht zu Deutschland aus dem Jahr 2021 wurde in enger Zusammenarbeit mit dem BMFSFJ zusammengestellt und nimmt Verfahrens- und Vorgehensweisen in den Politikbereichen der Europäischen Kindergarantie (Gesundheitsversorgung; Bildung; frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung; angemessener Wohnraum; gesunde Ernährung) in Deutschland in den Blick.
[8] UNICEF et al. (2021): „Our Europe, Our Rights, Our Future”.
[9] Europäische Kommission (2021): „Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Einführung einer Europäischen Garantie für Kinder“.
[10] Rat der Europäischen Union (2021): „Empfehlung des Rates zur Einführung einer Europäischen Garantie für Kinder“.
[11] Siehe Vereinte Nationen (1966): „Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“, Art. 11, 12, 13 und 15; Vereinte Nationen (1989): „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“, Art. 24, 27, 28, 29 und 31.
[12] BMFSFJ (2023): Nationaler Aktionsplan „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“.
[13] Es wurden bisher 51 Stellungnahmen eingereicht. Die im PDF-Format vorliegenden Stellungnahmen finden sich hier.
[14] AGJ (2022): „Armutssensibles Handeln – Armut und ihre Folgen für junge Menschen und ihre Familien als Herausforderung für die Kinder- und Jugendhilfe“.
[15] Die gemeinsame Verantwortung von Kommunen, den Ländern und dem Bund bei der Bekämpfung von Kinderarmut hat der LVR-Landesjugendhilfeausschuss in einem Diskussionspapier Ende 2018 dargelegt: „Kinder- und Jugendarmut begegnen. Kommunen, das Land NRW und der Bund sind gefordert“.
[16] Siehe LVR (2023): Kommentierung des Entwurfs des Nationalen Aktionsplans „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“.
[17] Der Landschaftsverband Rheinland verweist in diesem Zusammenhang auf ein Positionspapier zu Integrierten kommunalen Präventionsstrategien, das aus einem Konsultationsprozess mit überörtlichen Programmträgern in NRW bereits 2015 erarbeitet wurde.
[18] „Zentral ist auch der Auf- und Ausbau integrierter kommunaler Ansätze der Armutsprävention für Kinder und Jugendliche. […] Auf kommunaler Ebene bedarf es personell, fachlich und finanziell ausreichend ausgestatteter Koordinationsstellen sowie angemessener Ressourcen für die Akteure vor Ort.“ Siehe NAP, S. 28.
[19] Zu den Forderungen der AGJ hinsichtlich der Kindergrundsicherung siehe: „Armutssensibles Handeln – Armut und ihre Folgen für junge Menschen und ihre Familien als Herausforderung für die Kinder- und Jugendhilfe“.
[20] Siehe zum Beispiel DIW Econ GmbH (2023): „Kosten (k)einer Kindergrundsicherung: Folgekosten von Kinderarmut. Kurzexpertise für die Diakonie Deutschland“.
[21] Alternative Betreuung ist jede vorübergehende oder dauerhafte Maßnahme, die für ein Kind ergriffen wird, das nicht bei seinen Eltern lebt. Hierzu zählt zum Beispiel die Unterbringung bei Verwandten, in Pflegefamilien oder in Betreuungseinrichtungen.
[22] Kinder aus Alleinerziehendenhaushalten (in der Ratsempfehlung wurden Alleinverdienerhaushalte benannt, der NAP fokussiert aber Alleinerziehendenhaushalte als besonders betroffen von prekären finanziellen Verhältnissen); Kinder mit behinderten Eltern; Kinder mit psychisch erkrankten Eltern; Kinder aus suchtbelasteten Familien; Kinder, die von häuslicher Gewalt betroffen sind; Kinder eines*einer EU-Bürger*in, der*die ohne sie in einen anderen Mitgliedstaat übergesiedelt ist; Kinder, die eine Teenagermütter haben oder Kinder, die selbst Teenagermütter sind; Kinder mit inhaftiertem Elternteil.
[23] Dies wird auch von anderen Verbänden kritisiert, siehe dazu insbesondere die NAP-Kommentierungen von SOS Kinderdorf, Save the Children und BAGFW.
[24] Die europäische Kinderrechtsorganisation Eurochild hat eine zusammenfassende Analyse zu der Berücksichtigung von Kindern in alternativen Betreuungsformen in den bis Anfang 2023 veröffentlichen NAPs anderer EU-Mitgliedstaaten veröffentlicht: „Children in alternative care in the Child Guarantee National Action Plans A summative analysis“. 
[25] Siehe dazu auch AGJ (2022): „Armutssensibles Handeln – Armut und ihre Folgen für junge Menschen und ihre Familien als Herausforderung für die Kinder- und Jugendhilfe“ und AGJ (2022): „Verantwortung tragen und Herausforderungen angehen! Leaving Care vor Ort verbindlich gestalten“.
[26] Siehe Deutscher Bundestag (2021): „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG)“, Drucksache 19/26107.
[27] Gemäß Ratsempfehlung sollen im NAP „Maßnahmen […] sowie die erforderlichen Finanzmittel und Fristen“ enthalten sein (Art. 11 c ii).
[289 Abgesehen von einer von SOS-Kinderdorf e. V. eingereichten Maßnahme in der dem NAP abhängigen Tabelle „Maßnahmen der Nichtregierungsorganisationen und weiterer Organisationen“, siehe NAP S. 217.
[29] Zum Thema Fachkräfte siehe folgende Positionierungen der AGJ: Gesellschaftliche Anerkennung und Aufwertung der Sozialen Berufe in der Kinder- und Jugendhilfe – Fachkräfte gewinnen, Qualität erhalten und verbessern! (2019); Dem wachsenden Fachkräftebedarf richtig begegnen! Entwicklung einer Gesamtstrategie zur Personalentwicklung mit verantwortungsvollem Weitblick (2018).
[30] Ein nicht ressortabgestimmtes Eckpunktepapier des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zum Startchancen-Programm wurde im Mai 2023 bekannt. Der Entwurf lässt sich hier einsehen.
[31] Zu Forderungen an die Umsetzung des Startchancen-Programms siehe insbesondere die Ergebnisse des Expert:innenforum Startchancen (ExSta) Bildung, eine Initiative der Robert Bosch Stiftung und des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB).
[32] Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung (Gesetz zur ganztägigen Förderung von Kindern im Grundschulalter (Ganztagsförderungsgesetz – GaFöG)) wurde 2021 beschlossen und wird ab August 2026 schrittweise eingeführt.
[33] Das Asylbewerberleistungsgesetz gewährt Geflüchteten in den ersten 18 Monaten grundsätzlich nur eine Akut- und Schmerzbehandlung (§ 4 AsylbLG). 
[34] Vgl. dazu Bundes Psychotherapeuten Kammer (2023): Stellungnahme zum Nationalen Aktionsplan „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“. 
[35] Bundesärztekammer (2023):  Kommentierung des Entwurfs des Nationalen Aktionsplans „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“.
[369 Im Regelsatz 2,92 Euro für Untersechsjährige und 4,09 Euro für Sechs- bis Zwölfjährige zum Stand 31.12.2022.
[37] Die Verbändebeteiligung wurde am 12.05.2023 nachmittags eingeleitet. Bis 30.5. war eine Rückmeldung möglich, wobei Fristverlängerungen für einige Organisationen, die darum gebeten hatten, genehmigt wurden. In manchen Bundesländern gab es in diesem Zeitraum zwei Feiertage: 18.05. (Christi Himmelfahrt) und 29.05. (Pfingsten).
[38] Transparenzhinweis: Die AGJ ist im NAP-Ausschuss sowie im Steuerungskreis des Ausschusses vertreten.
[39] BMFSFJ, Deutscher Bundesjugendring (Hrsg.) (2022): „Mitwirkung mit Wirkung. Qualitätsstandards für Kinder- und Jugendbeteiligung“.
[40] Eurochild erstellt kontinuierlich Kurzüberblicke der veröffentlichten NAPs. Ferner hat die AGF im Dezember 2022 einen Überblick über ausgewählte Aspekte der bis Ende 2022 vorgelegten NAPs veröffentlicht.