„Satt und sicher – aber auch gesund? Gesundheits(förderung) und Lebenslagen in stationären Einrichtungen der Erziehungshilfen“ beim 18. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag
Relevanz und Ziel der Fachveranstaltung
Gesundheitsförderung ist ein zentraler Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe – das betont nicht nur der 13. Kinder- und Jugendbericht, sondern auch gesetzliche Grundlagen wie § 1 und § 45 SGB VIII sowie Art. 24 der UN-Kinderrechtskonvention. Vor allem stationäre Hilfen zur Erziehung bieten durch ihren lebensweltlichen Charakter große Chancen für gesundheitsförderliche Alltagsgestaltung. In der Praxis bestehen jedoch große Unterschiede in Konzepten, Zielrichtungen und Umsetzungsformen.
Die vom AGJ-Fachausschuss VI „Hilfen zur Erziehung, Familienunterstützende und Sozialpädagogische Dienste“ konzipierte Leitveranstaltung am 14. Mai 2025 (17:15–18:45 Uhr) hatte zum Ziel, die Bedeutung von Gesundheitsförderung im Kontext stationärer Hilfen herauszuarbeiten, Herausforderungen sichtbar zu machen und Impulse für eine gelingende, strukturell verankerte Umsetzung zu geben.
Ablauf und zentrale Beiträge
Zum Einstieg wurde ein Audioaufnahme eines jungen Menschen aus der stationären Erziehungshilfe eingespielt, das einen ersten persönlichen Einblick in das Verständnis von Wohlbefinden und Gesundheit als vielschichtigen Erfahrungsraum bot. Im Anschluss gab Mia Scholten (Kinder- und Jugendrat Graf Recke Stiftung) einen Kurzimpuls zum Thema. Sie berichtete, wie sie das Aufwachsen und die Unterstützung für ihre Gesundheit in einer stationären Intensivwohngruppe erlebt und welche Aspekte für ein gesundes Aufwachsen und Wohlbefinden aus ihrer Perspektive besonders wichtig seien.
Nach der Begrüßung durch das Moderationsteam, Katja Albrecht (IGfH) und Dr. Björn Hagen (EREV), erfolgte eine digitale Publikumsumfrage zum Thema „Gesundheitsförderung in stationären Einrichtungen“. Anschließend wurden im Rahmen digitaler Blitzlichter weitere Statements junger Menschen (Care Receiver*innenund Care Leaver*innen) eingeblendet und teilweise per Audio abgespielt. Diese betonten eindrücklich die Bedeutung von Selbstbestimmung, Zugehörigkeit und Beteiligung für die Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Im Mittelpunkt standen dabei nicht nur körperliche Unversehrtheit und eine angemessene gesundheitliche Vorsorge (z. B. Impfschutz), sondern vor allem auch psychisches Wohlbefinden, emotionale Sicherheit, Zugehörigkeit und ein gelingender Alltag. Belastend wirkten sich laut den jungen Menschen insbesondere widersprüchliche Anforderungen, defizitorientierte Zuschreibungen und eingeschränkte Teilhabemöglichkeiten aus. Gleichzeitig wurde der Wunsch nach stabilen, verlässlichen Bezugspersonen sowie nach unkomplizierten, zugänglichen Gesprächs- und Informationsangeboten deutlich.
In seinem Vortrag stellt Dr. Björn Hagen Gesundheitsförderung als mehrdimensionaler Auftrag auf Mikro-, Meso- und Makroebene vor – theoretisch gerahmt durch Modelle wie Salutogenese, Resilienzforschung und das sozialökologische Modell von Dahlgren & Whitehead. Dabei griff er die Aussagen junger Menschen auf und nahm Bezug auf Ergebnisse wissenschaftlicher Studien (u. a. auf den 13. Kinder- und Jugendbericht sowie die KiGGS- und CLS-Studie).
Die darauffolgenden Praxisimpulse zeigten konkret, wie Gesundheitsförderung in Einrichtungen bereits gelebt werden kann:
- Mentale Gesundheit stärken – Andrea Soujon stellte per Videobeitrag das Projekt „Die Bunten Hunde“ des SOS-Kinderdorf e.V. vor, das gezielt seelische Resilienz fördert.
- Gesundheit der Mitarbeitenden im Blick – Dr. Matthias Hamberger (kit jugendhilfe) betonte in einem Videobeitrag, dass gesundheitsförderliche Bedingungen für Fachkräfte Voraussetzung für gelingende pädagogische Arbeit sind.
- Ernährung als soziales Ereignis – Susan Gebhardt und Annett Roßmann (Kinderarche Sachsen e.V.) präsentierten vor Ort ein partizipativ entwickeltes Ernährungskonzept, das emotionale und körperliche Bedürfnisse gleichermaßen adressiert.
- Gesundheit wohnungsloser junger Menschen – Lana Kaiser (basis & woge e.V.) beleuchtete in Präsenz die besonderen Herausforderungen gesundheitlicher Versorgung in prekären Lebenslagen.
In der abschließenden Podiumsdiskussion kamen Fach-, Praxis- und Erfahrungswissen zusammen. Es diskutierten: Prof. Dr. Carmen Hack (Fachhochschule Kiel, Bundesarbeitsgemeinschaft Allgemeiner Sozialer Dienst - BAG ASD), Carola Hahne (Venito – Diakonische Gesellschaft für Kinder, Jugendliche und Familien), Mia Scholten (Kinder- und Jugendrat der Graf Recke Stiftung), Dr. Mike Seckinger (Deutsches Jugendinstitut e. V.) sowie Vicky Ulrich-von der Weth (Vorstandsmitglied des Careleaver e. V., Mitglied im Leitungsteam des Careleaver e. V. Österreich, intersektionale Kinderrechtsaktivistin).
Im Zentrum standen Einflussfaktoren auf die gesundheitliche Lage junger Menschen in stationären Erziehungshilfen. Thematisiert wurden u. a. die subjektive Wahrnehmung von Gesundheit, begrenzter Zugang zum Gesundheitssystem für marginalisierte Gruppen und die häufige Stigmatisierung junger Menschen in stationären Settings. Auch strukturelle Bedingungen in den Einrichtungen, wie starre Regeln, fehlende Rückzugsräume und mangelnde Ausdrucksmöglichkeiten, wurden kritisch beleuchtet. Systemische Herausforderungen in Hinblick auf defizitorientierte Zuschreibungen, instabile Hilfeverläufe und Versorgungslücken rückten in den Fokus.
Gesundheitsförderung, so der Konsens, braucht verlässliche Rahmenbedingungen und strukturelle Reformen. Der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) wurde als ein Schlüsselakteur betont – insbesondere beim frühzeitigen Erkennen von Bedarfen und der Vermittlung zu gesundheitlichen Leistungen. Die Beteiligung junger Menschen, stabile Beziehungen und Verlässlichkeit wurden als wesentliche Voraussetzungen für das gesundheitliche Wohlbefinden benannt.
Ein zentrales Anliegen war die Forderung, gesundheitsförderliche Perspektiven systematisch in Hilfeplanung, Schutzkonzepte und institutionelle Praxis zu integrieren. Dringend sei zudem der Auf- und Ausbau ressortübergreifender Kooperationen. Nur interdisziplinär abgestimmte Ansätze können den (komplexen) Bedarfen junger Menschen gerecht werden.
Die Diskussion griff auch Ergebnisse der CLS-Studie (Care Leaver Statistics) auf, die Gesundheit als subjektives Erleben versteht – auch bei chronischer Erkrankung oder psychischer Belastung. Statt defizitorientierter Diagnostik brauche es ein systemisches Verständnis, das junge Menschen und ihre Erfahrungen in den Mittelpunkt stellt. Zugehörigkeit und Gemeinschaft wurden als zentrale Ressourcen hervorgehoben. Stationäre Einrichtungen sollten als soziale Lebensräume gestaltet werden, mit gezielter Förderung gemeinschaftlicher Strukturen und Resilienz. Ergänzend wurde das Konzept des Sense of Coherence (SOC) betont: Junge Menschen sollten erleben können, dass ihr Leben verstehbar, handhabbar und sinnvoll ist – ein zentrales Ziel gesundheitsförderlicher Praxis. Deutlich wurde, dass dieses Erleben in der Praxis bislang nicht immer gelingt. Häufig liegt der Fokus noch zu stark auf Defiziten („das was fehlt“) statt auf Ressourcen und Stärken. Ein wesentliches Ziel professioneller Kinder- und Jugendhilfe sollte jedoch sein, insbesondere in krisenhaften Lebenssituationen Hoffnung und Zuversicht zu vermitteln.
Ein weiterer Kritikpunkt richtete sich gegen widersprüchliche Anforderungen im Hilfesystem: Junge Menschen stehen oftmals unter dem Druck, sich möglichst schnell zu verselbstständigen, während Unterstützungsleistungen nur bei nachgewiesenem „Problemdruck“ fortgeführt werden. Gefordert wurde eine Abkehr von dieser defizitorientierten Logik zugunsten eines bedarfsgerechten, partizipativen und kinderrechtebasierten Verständnisses von Hilfegewährung, das individuelle Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt und strukturelle Gewalt verhindert.
Die Diskussion machte deutlich: Das Recht auf Gesundheit gilt uneingeschränkt. Um es einzulösen, braucht es ein demokratisch verankertes Professionsverständnis, das Machtverhältnisse kritisch reflektiert, Kinderrechte achtet und inklusive Strukturen fördert.
Kernforderungen für eine nachhaltige Gesundheitsförderung
Aus den Inhalten der AGJ-Leitveranstaltung lassen sich insbesondere folgende Kernanforderungen für eine nachhaltige Gesundheitsförderung zusammenfassen:
1. Gesundheit als subjektives und soziales Erleben – Partizipation und Ressourcenorientierung stärken
Junge Menschen verstehen Gesundheit nicht nur als medizinischen Zustand, sondern als Zusammenspiel von Sicherheit, Selbstbestimmung, Beziehung, Sinnhaftigkeit und Alltagserleben. Gesundheitsförderung in der stationären Erziehungshilfe umfasst insofern auch, subjektive Sichtweisen junger Menschen systematisch in Diagnostik und Hilfeplanung einzubeziehen. Einrichtungen stärken gesundheitsförderliche Prozesse, wenn sie partizipative Strukturen schaffen, den Alltag gemeinsam mit jungen Menschen gestalten und auf ihre individuellen Ressourcen und Beziehungen setzen.
Forderungen u. a.:
Entwicklung partizipativer, verbindlicher Konzepte zur Ernährung, psychischen Gesundheit, Bewegungs- und Resilienzförderung – gemeinsam mit jungen Menschen und Fachkräften.
Förderung aktiver Beteiligung junger Menschen an allen sie betreffenden Entscheidungen, insbesondere bei der Hilfeplanung, Alltagsgestaltung und bei konzeptionellen Fragen zur Gesundheitsförderung
2. Stationäre Erziehungshilfe als sozialer Lebensraum – Gemeinschaft und Resilienz fördern
Gesundheit junger Menschen wird wesentlich durch soziale Erfahrungen mit geprägt. Stationäre Einrichtungen können als lebensweltlich relevante Räume zur Förderung von Resilienz, Bindung und Identität wirken. Die Erfahrung von Zugehörigkeit, gegenseitiger Unterstützung und stabilen Beziehungen bildet dabei eine zentrale Ressource – insbesondere im Gruppenkontext. Ziel sollte sein, diese sozialen Potenziale gezielt zu stärken, um jungen Menschen auch unter schwierigen Bedingungen ein gesundes und sinnstiftendes Aufwachsen zu ermöglichen.
Forderungen u. a.:
Gestaltung stationärer Einrichtungend er Erziheungshilfe als aktive, gemeinschaftlich getragene und ressourcenorientierte Lebensorte,
adäquate personelle Ressourcen sowie verlässliche Sicherstellung von Zeit und fachlicher Unterstützung für gelingende Beziehungsarbeit.
3. Stärkung einer inklusiven, diversitätssensiblen und demokratischen Erziehungshilfe
Gesundheitsförderung gelingt besonders dann, wenn Kinderrechte, Subjektorientierung und Diversität als grundlegende Prinzipien professionellen Handelns verankert sind. Eine demokratisch ausgerichtete und diversitätssensible Erziehungshilfe fördert die psychische und soziale Gesundheit junger Menschen, indem sie Diskriminierung entgegenwirkt, Teilhabe ermöglicht und individuelle Lebensrealitäten ernst nimmt.
Forderungen u. a.:
Qualifizierung von Fachkräften in den Themenfeldern Gesundheit, Trauma, Kohärenz, Resilienz sowie Diversitäts- und Diskriminierungssensibilität,
Weiterentwicklung und verbindliche Umsetzung demokratischer, inklusiver und diversitätssensibler Konzepte.
4. Förderung und Umsetzung von struktureller Verankerung und systematischer Vernetzung
Gesundheitsförderung ist eine Querschnittsaufgabe, die dauerhaft in Fachstandards, Schutzkonzepten und die Qualitätsentwicklung stationärer Hilfen integriert werden muss. Dazu braucht es tragfähige Kooperationsstrukturen zwischen Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheitswesen, Schulen sowie weiteren sozialräumlichen Akteuren. Auch gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen für Fachkräfte sind eine zentrale Voraussetzung für eine nachhaltige Umsetzung.
Forderungen u. a.:
Verbindlicher Ausbau interdisziplinärer Kooperationen mit dem Ziel, Gesundheitsförderung in der alltäglichen Praxis zu verankern,
Sicherstellung gesundheitsförderlicher Rahmenbedingungen für Fachkräfte, z. B. durch geregelte Arbeitszeiten, Supervision und präventive Angebote,
Entwicklung und Implementierung verbindlicher Qualitätsstandards und Schutzkonzepte, in denen Gesundheitsförderung systematisch mitgedacht wird.
5. Abbau von strukturellen Hürden und gezielte Unterstützung benachteiligter Gruppen
Für marginalisierte Gruppen, wie queere oder wohnungslose junge Menschen, bestehen aus unterschiedlichen Gründen besondere Herausforderungen und Versorgungslücken, die durch spezifische Unterstützungsangebote, wie spezialisierte Beratungs- und Therapieangebote, sowie einen barrierearmen Zugang zu Gesundheits- und Hilfesystemen überwunden werden müssen.
Forderungen u. a.:
- Entwicklung und Bereitstellung zielgruppenspezifischer Angebote für benachteiligte junge Menschen,
Abbau struktureller Barrieren im Zugang zu Gesundheits- und Sozialleistungen.
Fazit: Gesundheitsförderung als integraler Bestandteil professioneller Erziehungshilfe
Die Fachveranstaltung machte deutlich: Die Gesundheit junger Menschen wird maßgeblich durch ihre Lebensbedingungen, sozialen Beziehungen und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit geprägt. Eine gesundheitsförderliche stationäre Erziehungshilfe nimmt diese Zusammenhänge ernst und schafft Rahmenbedingungen, in denen junge Menschen sich sicher, zugehörig und wirksam erleben können. Dazu gehören u. a. die partizipative Gestaltung von Lebensräumen, der Aufbau stabiler Beziehungen, die bewusste Entlastung von (Leistungs-)Druck sowie Angebote zur Förderung körperlicher Gesundheit (bspw. durch gesunde Ernährung, Bewegung und alltagsnahe Gesundheitsbildung).
Gesundheitsförderung sollte grundsätzlich nicht als Zusatzaufgabe verstanden werden, sondern ist als integraler Bestandteil pädagogischer Praxis zu verankern – auch mit Blick auf die Fachkräfte, deren eigenes Wohlbefinden entscheidend zur Qualität der Hilfe beiträgt. Zentral ist ein inklusives, ressourcenorientiertes Hilfeverständnis, das interdisziplinäre Perspektiven einbezieht und Kinderrechte konsequent mitdenkt. Die Gesundheitsförderung junger Menschen in stationären Einrichtungen der Erziehungshilfen liegt in der gemeinsamen Verantwortung verschiedener Akteure, insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe, des Gesundheitswesens, der Eingliederungshilfe und der Bildungseinrichtungen. Nur im Zusammenspiel der zuständigen Systeme lässt sich die Gesundheit junger Menschen wirksam stärken. Dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) kommt hierbei eine Schlüsselrolle zu, z. B. beim frühzeitigen Erkennen von Bedarfen und dem Herstellen von Zugängen zu gesundheitsbezogenen Leistungen.
Links zu Berichterstattung und weitere Dokumente:
- Videoaufnahme der Veranstaltung
- PPt.-Präsentation (inkl. PPt.-Präsentation des Vortrags und digitale Praxisimpulse)