„Hast Du ein Problem, Kinder- und Jugendhilfe?! Zum Dienst verpflichtet oder zentraler Akteur im Zeitenwandel“
In dem vom AGJ-Fachausschuss I organisierten Panel wurden die Herausforderungen der Kinder- und Jugendhilfe angesichts verschiedener gesellschaftlicher Megatrends diskutiert. Die Teilnehmenden betonten die Notwendigkeit von Vertrauen in junge Menschen und einer fokussierten Unterstützung. Es wurde die Rolle der Jugendhilfe als Demokratiemotor hervorgehoben, die trotz Ressourcenengpässen wichtige soziale Funktionen übernimmt.
Das Panel des AGJ-Fachausschuss I „Organisations-, Finanzierungs- und Rechtsfragen“ griff auf, dass in den derzeitigen Zeiten knapper werdender Ressourcen, angesichts von Klimakrise, Fachkräftemangel, zunehmender Digitalisierung und anderer Megatrends tiefgreifende gesellschaftlichen Transformationsprozesse passieren. Die Kinder- und Jugendhilfe ist in der Erbringung ihrer Aufgaben stark gefordert. Ursache für die Belastung sind die sich gegenseitig verstärkenden Krisen, die auch unmittelbar in Kinder- und Jugendhilfe-Kontexten wirken, aber auch eine Erweiterung des Aufgabenbereichs. Die Veranstaltung setzt darauf, nicht die Hände in Anbetracht der Belastungen hochzureißen, sondern auf Anpackoptionen zu fokussieren, um so Schwung zur Veränderung zu vermitteln.
Ausgewogen pessimistisch und optimistisch
Die zu Beginn der durch Dr. Thomas Meysen (Vorsitzender des AGJ-Fachausschuss I, SOCLES) moderierten Veranstaltung machte eine Stimmungsabfrage beim Publikum zunächst deutlich, dass die Teilnehmer*innen trotz der Problemlagen ausgewogen pessimistisch und optimistisch in die Zukunft blicken. Zu Themen befragt, die als Bedrohung wahrgenommen wurde, signalisierten sie sehr starke Sorge zum Fachkräftemangel und zur aktuellen Demokratieentwicklung, zumindest einige waren zuversichtlicher zur Vielfaltstoleranz in der Gesellschaft sowie zur Klimakrise. Zur Funktion der Kinder- und Jugendhilfe als „Dienstleister“ bewerteten ungefähr 4/5 diese als Reparaturbetrieb und Sensor für gesellschaftliche Problemlagen. Die Einordnung, die Kinder- und Jugendhilfe wirke als Motor für Gesellschaftlichen Zusammenhalt, erhielt deutlich Zustimmung.
Herausforderungen der Kinder- und Jugendhilfe
Philipp Sandermann (Leuphana Universität Lüneburg, Sachverständigenkommission 17. Kinder- und Jugendbericht – per Video) zeigte in seinem Input die zunächst die sich gegenseitig verstärkenden Herausforderungen der Krisen auf und wies darauf hin, dass die Kinder- und Jugendhilfe teils gesellschaftliche Dynamiken aufgreife und soziale Ungleichheiten reproduziere. Er warnte, dass die insbesondere aufgrund des quantitativen Wachstums gestiegenen Aufgaben der Kommunen für die Kinder- und Jugendhilfe dazu führen würden, sich auf rechtsanspruchsgesicherte Leistungen zu begrenzen und andere Bereiche zu vernachlässigen, welche als Investition in junge Menschen aber wichtig seien. Er betonte die Bedeutung von Vertrauenswürdigkeit als Erfolgsschlüssel der Kinder- und Jugendhilfe, der zum einen durch eine Überforderung des Systems, zum anderen innerhalb des fachlichen Handelns durch zu wenig Vertrauen in die Adressat*innen und zu wenig Beteiligung als Ermöglichungsfaktor der angestrebten Bedarfsorientierung bedroht sei.
Mit Bürger*innenbeteiligung gestalten
Luca Piwodda, der durch sein Alter in den Kreis der Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe zählt und als Bürgermeister von Gatz (Oder) in Brandenburg Veränderung gestaltet, machte am Beispiel seiner Gemeinde und des dortigen Engagements deutlich, dass auch bei schlechten Ausgangssituationen (strukturschwache Region, demografische Lage, bauliche Schäden) mit einer Vision, durch die Beteiligung und Aktivierung von Bürger*innen jeden Alters, durch Zutrauen in junge Menschen positive Entwicklung möglich sind. Er selbst setze auf Bürger*innenbeteiligung, Ehrenamt & Kultur, Tourismus, Erneuerbare Energien.
„für alle, aber nicht für alles“
In der anschließenden Podiums- und Plenumsdiskussion nahmen Sabine Trockel (Amt für Kinder, Jugendliche und Familien der Stadt Münster), Jonas Lutz (Bayerischer Jugendring - Projekt Digital Streetwork), Claudia Porr (Ministerium für Familie, Frauen, Kultur und Integration Rheinland-Pfalz) und Luca Piwodda (Bürgermeister der Stadt Gartz (Oder)) teil. Hier wurde aufgegriffen, dass gute Lösungen nicht immer auf Geld oder Ausdifferenzierung der Angebote angewiesen seien. Spannend für weiterführende Reflexionen war, dass die Frage „Was schaffen wir nicht mehr?“ schnell zu Antworten i.S.v. „Was können wir weglassen?“ führte. Bezogen auf die Rolle der Kinder- und Jugendhilfe als Demokratiemotor sei z.B. richtig, dass die Kinder- und Jugendhilfe nicht habe verhindern können, dass Demokratieskepsis und menschenfeindliche Positionen zugenommen hätten, dies aber die Bedeutung der hier gestellten Räume für das Lernen von politischem Engagement, das Erleben von Selbstwirksamkeit und gemeinsame Entwickeln von Ideen nicht mindere. Die Kinder- und Jugendhilfe dürfe sich daran erinnern, dass die „für alle [jungen Menschen], aber nicht für alles“ [an Problemlagen] zuständig sei.
Dieser orientierende Satz gelte auch in der Auseinandersetzung mit anderen Aufgabenbereichen und anderen Kooperationspartnern. So ziehe sich z.B. das System Schule zu stark auf den engen Aufgabenbereich der Vermittlung von Wissen zurück und wälze die Verantwortung für Inklusion auf Integrationshelfer*innen aus der Kinder- und Jugendhilfe ab. Obgleich aktuell die Sorge bestehe, dass durch die Zusammenlegung des Ressorts Bildung ins BMFSFJ die Themen der Kinder- und Jugendhilfe politische Aufmerksamkeit verlieren werde, bestehe hierdurch auch die Chance gegenüber der neuen Bundesministerin Prien für systemische Lösungen zu werben.
Der Hinweis auf Fachkräfte, die sich z.B. bei ihrer Tätigkeit in Hilfe zu Erziehung durch Gespräche zum Israel-Palästina-Konflikt überfordert fühlten, wurde aufgegriffen. Das Bereitstellen von safe-spaces, in denen sich alle jungen Menschen mit ihren Fragen und ihren Persönlichkeitsaspekten zeigen könnten, die aber auch nicht durch „Über-Pädagogisierung“ und „Über-Moralisierung“ erdrückend und unattraktiv würden, wurde als eine der Hauptaufgaben von Kinder- und Jugendhilfe identifiziert.
In der Abschlussrunde erfolgte eine Rückkoppelung zu der bereits im Auftaktinput ausgesprochenen Aufforderung: Es brauche das Vertrauen in junge Menschen während ihrer Begleitung durch Angebote. Als Beispiel diente aus dem Bereich des Digital Streetworks die ermutigende Beobachtung, dass sich junge Menschen hier Räume für Austausch nutzbar machen würden, deren eigentliche Ausrichtung von Betreibern zunächst anders gedacht gewesen sei.
Weitere Informationen
Aufzeichnung der Veranstaltung in der Mediathek des Jugendhilfetages
Präsentation der Veranstaltung inkl. Input von Philipp Sandermann