Geschlechtersensibilität als Merkmal und Gegenstand von Erziehung, Bildung und Betreuung in Kindertageseinrichtungen

Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

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Gender Mainstreaming gehört zu den Grundsätzen der Kinder- und Jugendhilfe und findet sich in den Leitbildern ihrer Träger wieder. Was aber bedeutet eine tagtägliche geschlechtersensible Arbeit in Kindertages-einrichtungen? Welche pädagogischen Konzepte, welche rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen, welche fachlichen Reflexions-prozesse setzt sie voraus?

Mit dem vorliegenden Diskussionspapier skizziert die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ Herausforderungen einer geschlechter-sensiblen Erziehung, Bildung und Betreuung in Kindertageseinrichtungen und geht dabei sowohl auf Anforderungen an Fachkräfte und pädagogische Konzepte als auch auf Konsequenzen für Organisations- und Personalent-wicklung ein.


(Soziale) Konstruktion von Geschlecht

Die Konstruktion von Geschlecht geschieht, zum Teil unbewusst, immer unter dem Einfluss spezifischer Gesellschaftsmodelle. Seit dem 19. Jahrhundert wird Geschlecht nicht nur biologisch, sondern auch als wesenshaft begriffen. In unserer Kultur ist die Konstruktion von Geschlecht überwiegend die Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit.

„Die soziale Geschlechterrolle, die ein Individuum einnimmt, wird im Englischen als gender bezeichnet. Das soziale Geschlecht steht in der Regel in Übereinstimmung, aber mitunter auch im Konflikt mit dem biologischen Geschlecht (sex). Für ein Kind beschreibt das Erziehungsgeschlecht seine Rolle in Familie und Gesellschaft. Mit der Eintragung des Geschlechts beim Standesamt wird das soziale Geschlecht administrativ festgelegt und in weiteren Gesetzen als Unterscheidungsmerkmal eingesetzt, was bislang in vielen lebensweltlichen Zusammenhängen eine intersexuelle Zwischen-stellung nicht zulässt.“[1]

Gender ist eine interdependente Kategorie, ein unabhängiges Geschlecht gibt es nicht. Es wird immer im Zusammenhang mit sozialem Umfeld, Ethnizität, Körperlichkeit und Alter wahrgenommen.

In den ersten Lebensjahren konstruieren sich Kinder ihr Bild von Geschlecht durch Reaktionen ihrer Umwelt auf ihre individuelle Auseinandersetzung mit ihrem biologischen Geschlecht und ihre Verhaltensweisen. Die Geschlechts-identität aber formt sich in einem lebenslangen Prozess.[2]


Anforderungen an Fachkräfte und pädagogische Konzepte

Fachkräfte nehmen Geschlechterrollen in der Entwicklung der Kinder immer vor dem Hintergrund der eigenen Biographie und des Erlebens des eigenen Geschlechts wahr. Kindliche Aneignungsprozesse von Geschlechtlichkeit mit Anerkennung und Respekt zu begleiten, setzt voraus, sich, unabhängig vom Zeitpunkt in der Berufsbiographie, mit der eigenen Entwicklung und Haltung als Frau beziehungsweise als Mann auseinanderzusetzen. Dies muss sowohl auf individueller Ebene als auch in Teams pädagogischer Einrichtungen geschehen.

Fachkräfte müssen sich mit ihrem eigenen Berufsbild auseinandersetzen und dabei auch ihre eigenen geschlechterbezogenen Normen, Werte, Vorstellungen und ihr Handeln im Alltag hinterfragen. „Aufgesetzte Programme“ und vereinzelte Angebote können das nicht abbilden, denn in erster Linie geht es darum, dass Fachkräfte in ihrer pädagogischen Interaktion die verschiedenen Variationen der Geschlechterrollen wahrnehmen, die von den Mädchen und Jungen ausprobiert werden.

Bei der professionellen Arbeit mit Kindern ist es wichtig, diesen Raum zu geben, individuelle, vielfältige und an ihren Bedürfnissen orientierte Erfahrungen zu machen, ohne stereotypischen Zuschreibungen und Sichtweisen unterworfen zu werden. Sie werden so bei der Suche nach ihrer Persönlichkeit und einem Verständnis des eigenen und des anderen Geschlechts unterstützt, ohne sie in geschlechterspezifische Rollen zu drängen. Dies muss zum Beispiel auch durch eine bewusste Auswahl von Spielmaterialien und Büchern unterlegt werden.

Eine geschlechterreflektierende Pädagogik geht zudem von den Sichtweisen der Kinder aus – sie wird also nicht für sie, sondern, nach partizipatorischen Prinzipien, mit ihnen gestaltet.

Pädagogische Planung sollte demnach gezielt sowohl koedukative als auch geschlechtergetrennte Ansätze und Angebote berücksichtigen. 

Eine geschlechtsbewusste und geschlechtersensible Pädagogik setzt die Beteiligung von Eltern und das Initiieren gemeinsamer Lernprozesse voraus. In der Zusammenarbeit mit Eltern sollten Mütter und Väter gleichermaßen mit Angeboten, Aktivitäten und Funktionen angesprochen werden.
Grundhaltungen und Positionen der geschlechtersensiblen Pädagogik sind mit den Eltern zu reflektieren und auszuhandeln. So kann es gelingen, auch sehr heterogene Elternschaft einzubinden und Sorgen, Bedenken und Konflikten, die sich auch aus kulturell und religiös geprägten Verhaltensnormen und Geschlechterbildern ergeben können, zu begegnen. Dies setzt einen professionellen Umgang der Fachkräfte mit den Eltern voraus, das heißt unabhängig von Haltungen der Eltern, sollten die Chancen einer geschlechtersensiblen Pädagogik deutlich gemacht werden.

Professionelle pädagogische Arbeit braucht Zeit für Beobachtung und Reflexion, um auch alltägliche Situationen und Räume unter geschlechtersensiblen Aspekten zu analysieren. Werden zum Beispiel Spielzonen und Funktionsräume von allen Geschlechtern gleich genutzt und interessieren sich die Geschlechter tatsächlich für verschiedene Aktivitäten? Gezielte Beobachtungen und Reflexionen im Team hierzu haben beispielsweise in Projekten wie dem europäischen „Gender Loops“[3] dazu geführt, dass Spielzonen umgestaltet oder gar aufgelöst wurden.


Anforderungen an Organisations- und Personalentwicklung

Eine geschlechterbewusste Pädagogik ist als Querschnittsaufgabe aller Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe rechtlich gefordert und auf europäischer Ebene und den Ebenen von Bund, Ländern und Kommunen politisch gewollt.

Der Amsterdamer Vertrag auf europäischer Ebene, das SGB VIII (§ 9 Abs. 3 SGB VIII), entsprechende Ausführungsgesetze der Länder zum KJHG, Kindertagesstättengesetze, Bildungs-, Orientierungs- und Erziehungspläne der Länder und politische Beschlüsse zu Implementierungskonzepten oder Leitlinien auf der kommunalen Ebene – es gibt eine Vielzahl von Gesetzen, Ausführungsgesetzen und Verordnungen, die die Gleichstellung der Geschlechter sicher stellen sollen.

Geschlechtersensible Pädagogik ist ein Qualitätsmerkmal der pädagogischen Praxis in Kindertageseinrichtungen. Sie setzt, wie oben beschrieben, voraus, dass sich Fachkräfte und Eltern mit ihren eigenen Haltungen und Verhaltensweisen auseinandersetzen. Jedem Kind sollten vielfältige Möglichkeiten geboten werden, sich als Individuum zu entfalten und seine eigene Geschlechtsidentität entwickeln zu können. Nur so lassen sich gleiche Chancen für eine gleichwertige und gleichberechtigte Entwicklung herstellen – ein Auftrag, der in den Bildungs-, Erziehungs- und Orientierungsplänen der Länder für die pädagogische Arbeit in Kindertagesstätten formuliert ist und in der Praxis umgesetzt werden muss.

Auf Seiten der Organisation setzt dies voraus, dass entsprechende Leitbilder und Zielsetzungen die Orientierung für die pädagogische Arbeit geben und dass beispielsweise bei Einstellungen ein klar formuliertes, nicht geschlechterstereotypes Anforderungsprofil zugrunde gelegt wird. Leitung hat die Aufgabe, die Umsetzung geschlechtersensibler Pädagogik zu initiieren, zu begleiten und gegebenenfalls zu unterstützen. Sie muss sich dabei selbstverständlich auch selbst einer geschlechtersensiblen Pädagogik als Qualitätsmerkmal für die Arbeit in Kindertageseinrichtungen verpflichtet sehen. Aufgabe der Träger ist es, Qualitätsentwicklung und -sicherung durch Beratung und Fortbildung zu gewährleisten.

Jedes Kind braucht für die individuelle Entwicklung seiner Geschlechter-identität männliche und weibliche Bezugspersonen, an denen es sich orientieren kann. Geschlechterbewusste Erziehung ist jedoch nicht durch die Anwesenheit von Frauen und Männern in Teams garantiert. Gemischt-geschlechtliche Teams können den Erfahrungsraum der Kinder bereichern und traditionelle geschlechtsspezifische Zuschreibungen auflösen. Dies setzt jedoch voraus, dass Erzieherinnen und Erzieher nicht stereotype Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder reproduzieren. Notwendig ist vielmehr eine kritische Analyse von geschlechtsspezifischen und geschlechts-hierarchischen Sozialisations- und Lebenswirklichkeiten. Rollenzuweisungen, gerade bei gemischtgeschlechtlichen Teams, können Kindern negative Vorbilder geben.

In allen Teamprozessen ergeben sich Dynamiken, die auf Kinder wirken. Sie nehmen wahr, wie die Personen in ihren Geschlechterrollen agieren und mit Konflikten umgehen. Wollen Fachkräfte als Vorbilder wirken, sind auch Teamprozesse und die Kommunikation untereinander immer wieder kritisch zu hinterfragen. Hierfür benötigen sie Zeit und fachliche Unterstützung.

Unbedingte Voraussetzung für eine geschlechtersensible Haltung und Erziehungskompetenz sind (Selbst)reflexionsprozesse. Hierfür zu sensibilisieren, Ansätze für den Umgang mit der eigenen Sexualität, für die Vermeidung von Rollenzuweisungen und den Ausgleich von, auch hierarchischen, Dynamiken zwischen den Geschlechtern, aber auch theoretische und praktische Hilfestellungen zum Umgang mit Fragen und Verhaltensweisen von Kindern rund um Sexualität und Geschlecht zu thematisieren, müssen Teile der Ausbildungsordnungen sein. Geschlechter-bewusste pädagogische Ansätze sollten – nicht separiert, sondern als Querschnittsthema – in Aus-, Fort- und Weiterbildungsangeboten für Fachkräfte insgesamt einen höheren Stellenwert erhalten.

Hierfür muss sowohl im Rahmen von Ausbildung als auch im pädagogischen Berufsalltag ausreichend Zeit eingeräumt werden, denn eine Auseinandersetzung mit geschlechterbezogenen Themen und insbesondere die Reflexion persönlicher Haltungen ist ein fortlaufender Prozess.[4]


Fazit: Geschlechterbewusste Pädagogik als Qualitätsmerkmal in der Kindertagesbetreuung

Die aktuelle Bildungsdebatte macht deutlich, dass pädagogische Arbeit eine geschlechterbewusste Sichtweise benötigt, wenn die Chancen von Jungen und Mädchen verbessert werden sollen.[5] 
Geschlechtersensible Pädagogik zeichnet sich durch die bewusste Wahrnehmung von Geschlechterrollen, die Reflexion von Sprache und Kommunikation und eine geschlechterdifferenzierte Auswahl von Räumen, Ausstattung und Materialien aus. Sie ist dabei kein Programm, das als weitere Anforderung zusätzlich aufgebürdet werden soll, es geht vielmehr darum, eine differenzierte Haltung zu entwickeln und den pädagogischen Alltag unter diesem Blickwinkel zu reflektieren.

Handlungsleitend für die pädagogische Praxis können Zielvorstellungen sein, die dazu dienen, Alltagsgestaltung, Angebote und Projekte daraufhin zu überprüfen, ob auf Geschlechtergerechtigkeit geachtet wird und Impulse für eine geschlechterbewusste Pädagogik gegeben werden.[6]

Geschlechtersensible Pädagogik ist ein Qualitätsmerkmal an sich, das im Zusammenhang mit den Ausbauplänen in der Kindertagesbetreuung nicht auf eine Erhöhung des Männeranteils in Kindertageseinrichtungen reduziert werden darf.

In gemischtgeschlechtlichen Teams können Kinder reale weibliche und männliche Vorbilder erfahren und dadurch die unterschiedlichen und vielfältigen Seinsweisen der verschiedenen Geschlechter kennen lernen, was die pädagogischen Angebote sicherlich bereichert. Die Beschäftigung von männlichen Fachkräften darf nicht an Arbeits- und Rahmenbedingungen scheitern. Unabhängig davon, dass in Kindertageseinrichtungen nach wie vor überwiegend weibliche Fachkräfte tätig sind, müssen Ansätze, die ein geschlechterreflektierendes Arbeiten befördern, verfolgt werden.

Benötigt werden Konzepte und Leitbilder, die eine geschlechtersensible Pädagogik unterstützen und deren Inhalte nicht nur in der täglichen praktischen Arbeit, sondern bereits im Rahmen von Ausbildung und Personalentwicklung oder Betriebserlaubniserteilungen umgesetzt werden.


Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 19. September 2012


[1] Deutscher Ethikrat, „Intersexualität“, Stellungnahme, Berlin 2012, S. 34
[2] vgl. Dr. Jörg Woweries, „Intersexualität: eine kinderrechtliche Perspektive“, in: frühe Kindheit 3/2010
[3] Jens Krabel, Michael Cremers (Hrsg.), „Gender Loops – Praxisbuch für eine geschlechterbewusste und -gerechte Kindertageseinrichtung“, Dissens e.V., August 2008.
Das Praxisbuch ist als pdf-Datei unter www.genderloops.eu verfügbar.
[4] vgl. Tim Rohrmann & Team der Kita Fischteichweg, "Gender Perspektiven. Geschlechterbewusste Pädagogik in der Kita. Ein Pilotprojekt im Rahmen des niedersächsischen Orientierungsplanes für Bildung und Erziehung in Tageseinrichtungen für Kinder", Abschlussbericht 2009, S. 71
[5] vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, „Bildung in Deutschland 2012: Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur kulturellen/musisch-ästhetischen Bildung im Lebenslauf“, Bertelsmann 2012, S. 210f.
[6] vgl. Tim Rohrmann, „Gender Perspektiven“, a.a.O., S. 4ff.