Schule als Lebensort –
Anforderungen an sozialpädagogisches Handeln
Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ
Diskussionspapier als PDF
Einleitung
Die AGJ hat sich in den letzten Jahren in vielfältiger Weise mit Schnittstellen der Kinder- und Jugendhilfe zum Bildungs- und Lebensort Schule auseinandergesetzt. Dabei sind Positionspapiere zur Bedeutung des informellen und non-formalen Lernens und zur Kooperation von Schule und Kinder- und Jugendhilfe entstanden. Parallel dazu führt die AGJ seit Jahren einen Fachdialog mit dem Schulausschuss der Kultusministerkonferenz, in dem aktuelle Fragen zu Erziehung und Bildung angesprochen werden.
Aus Sicht der AGJ ist es an der Zeit, Anforderungen an sozialpädagogisches Handeln des Lern- und Lebensorts Schule zu beschreiben und zu begründen. Die AGJ beleuchtet daher in diesem Diskussionspapier Anforderungen an das weite Spektrum professioneller Leistungen von Fachkräften in der Schule – zunächst losgelöst von der Frage, ob sie als sozialpädagogische Fachkräfte oder als Lehrkräfte in der Schule tätig sind und in welcher Funktion sie sozialpädagogisch denken und handeln. Dies erfordert eine gemeinsame, ganzheitliche Perspektive auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen (und ihrer Familien) am Lebensort Schule. Sozialpädagogische Handlungs-kompetenz ist in diesem Sinne eine Schlüsselqualifikation an Schulen und trägt zur Zukunftsfähigkeit unseres Bildungswesens bei. Denn Kinder und Jugendliche brauchen in jeder Schulart, zu jedem Zeitpunkt ihrer Bildungsbiographie eine optimale Förderung ihrer kognitiven, sozialen, emotionalen und kreativen Kompetenzen. Insbesondere diejenigen, die nicht über einen stützenden Hintergrund in ihrer Familie verfügen, sind auf ein gut aufgestelltes Schulwesen angewiesen. Sozialpädagogisches Handeln an Schulen unterstützt junge Menschen und ihre Eltern nicht nur bei Problemen und Konflikten, sondern leistet auch einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung guter schulischer Bildungsziele und -abschlüsse. Nicht zuletzt fördert es ein ausgewogenes Verhältnis zwischen formalen Bildungsange-boten und offenen Lern- und Erfahrungsräumen, um das Wissen und die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen optimal zu fördern.
Die AGJ will mit diesem Diskussionspapier den fachlichen Diskurs an den Schnittstellen zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Schule weiter anregen und befördern.
Sozialpädagogisches Handeln: für Bildung und Erziehung in der Schule immer bedeutsamer
Ganztagsschule als Lern- und Lebensort
Der Ausbau der ganztägigen Bildung und Betreuung führt für Kinder und Jugendliche heute zu einem zeitlich umfangreicheren Aufenthalt in schulischer Verantwortung als es bislang der Fall war. Die Schule wird für immer mehr Kinder und Jugendliche durch den Ausbau von Ganztagsschulen in offener und gebundener Form, durch die damit in Zusammenhang stehende Erweiterung von Ganztagsbetreuung und der Kooperation mit externen Partnern nicht nur zum Lernort, sondern immer stärker auch zum Lebensort. Unter den externen Partnern spielen Träger der Kinder- und Jugendhilfe mit ihren unterschiedlichen Angeboten eine bedeutsame Rolle, aber auch Sportverbände und Angebote musisch-kultureller Bildung von außerhalb der Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe. Schwerpunkte sind Kooperationen im Bereich der Hortbetreuung und Angebote von Trägern der Kinder- und Jugendarbeit sowie der Jugendsozialarbeit. Zunehmend an Bedeutung gewinnen aber auch Kooperationen mit Trägern der Hilfen zur Erziehung, u.a. auch als Konsequenz aus den fachlichen und rechtlichen Verpflichtungen mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechts-Konvention (Inklusion).
Entscheidend dabei ist, dass das Alltagsleben von Kindern und Jugendlichen weniger als in der Vergangenheit in der Familie und in der Freizeit stattfindet. In diesem Sinne verbirgt sich hinter sozialpädagogischem Handeln die Notwendigkeit, dass Schule – neben ihrem Bildungs- und Qualifizierungs-auftrag – mehr denn je auch einen lebensweltbezogenen Erziehungsauftrag wahrnehmen muss, der den Bedürfnissen und Interessen von Kindern und Jugendlichen gerecht wird.
Vielfalt leben
Der positive Umgang mit Vielfalt und der Ausgleich sozialer Benachteiligung sind in unserer Gesellschaft, und insbesondere im Kontext Schule, unerlässlich. Die sehr hohe Abhängigkeit des Schulerfolgs in Deutschland von dem sozialen Hintergrund und dem Bildungshintergrund der Eltern ist dabei nicht zu akzeptieren. Um allen Kindern und Jugendlichen zu einem chancenreichen Schulerfolg zu verhelfen, bedarf es daher entscheidender Veränderungen des Umgangs mit Differenzen. Hierzu gehört neben einem grundsätzlich geschlechtsbewussten Umgang und einem differenzsensiblen Blick auf heterogene soziale, kulturelle oder religiöse Hintergründe, selbstverständlich ein professioneller, inklusiver Umgang mit behinderten Kindern und Jugendlichen. Nur über einen wertschätzenden Umgang mit jedem Kind und jedem Jugendlichen kann Vielfalt als Bereicherung gelehrt, gelernt und gelebt werden. Sozialpädagogisch kompetentes Handeln bedeutet daher auch, soziale Zugehörigkeit und kulturelle Vielfalt zu vermitteln und Möglichkeitsräume zu schaffen, in denen beides erfahren werden kann.
Übergänge gestalten
Die Gestaltung der Schnittstellen anderer Lebensbereiche zur Schule (Übergang Kita – Schule, Schule – Ausbildung/Beruf/Arbeitswelt) ist in hohem Maße entscheidend für gelungene Übergänge und eine selbstständige Lebensführung. Sie setzt voraus, dass zwischen den beteiligten Institutionen und Organisationen rechtzeitig und systematisch strukturelle Übergangs-konzepte verabredet und im Sinne der Kinder und Jugendlichen ausgestaltet und überprüft werden.
So sind beim Übergang zwischen Kita und Grundschule vorbereitende Einführungen, wie schulstrukturelle Entscheidungen bei der Zusammen-setzung der Eingangsklassen und die Organisation besonderer individueller Unterstützungsbedarfe zu planen. Es geht sowohl darum, die kindliche Neugier und Experimentierfreude sowie die beachtliche Beteiligung der Kinder an der Gestaltung von Bildungsprozessen, die im Kindergarten erworben und erfahren wurde, in den Schulalltag zu integrieren, als auch darum, eventuelle Entwicklungsrückstände der Kinder durch frühzeitige schulische Angebote in spielerischer Form und in offenen Lernsituationen zu kompensieren und den motorischen Entwicklungserfordernissen der Kinder Räume zu eröffnen. Ebenso ist der Übergang eine häufig zu wenig beachtete Chance, das Engagement und die Beteiligung von Eltern auch in eine schulische Mitwirkungsbereitschaft umzusetzen. Dies gilt insbesondere für das Übergangsmanagement zwischen Kitas und Grundschulen in sozial belasteten Einzugsbereichen.
Beim Übergang von der Schule zur Ausbildung, zu Studium oder Beruf ist es entscheidend, die passenden Anschlüsse unter Mitwirkung der Jugendlichen zu finden und sie darauf vorzubereiten. Hierzu gehört die Unterstützung bei der Wahl von weiterführenden Schulen, das Schaffen von Angeboten der beruflichen Orientierung, Beratung und Perspektivklärung beim Berufswahlverhalten, wozu auch die Vorstellung von Berufsfeldern, also auch Betriebsbesichtigungen und besonders Betriebspraktika gehören. Die Mitwirkung an Ausbildungsmessen bzw. entsprechenden Projekttagen, Praktikumsbörsen und Hochschulinformationen erfordert eine weitere Kooperation mit Partnern außerhalb der Schule, wie z.B. der Bundesagentur für Arbeit.
Jede Form der Übergangsgestaltung setzt sozialpädagogische Kompetenz sowohl in der Schule als auch bei den Kooperationspartnern voraus und erfordert ein hohes Maß an Wissen um die lokalen und überregionalen Träger, Angebote und Möglichkeiten, kontinuierliche Vernetzungsarbeit sowie eine hohe Sensibilität bei der Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern.
Sozialpädagogisches Handeln: Ziele, Anlässe und Formen Ziele
Sozialpädagogisches Handeln ist für Kinder und Jugendliche an allen Schularten gleichermaßen erforderlich. Die Anlässe für und die Anforderungen an sozialpädagogisches Handeln variieren zwar je nach Altersgruppe und Schulart. Die gemeinsamen Ziele von professionellem sozialpädagogischem Handeln finden sich jedoch überall wieder. Sie sind in ihrer Gänze vielfältig und betreffen nicht nur die individuelle Ebene der Kinder und Jugendlichen, sondern gleichermaßen auch die Ebene der Fach-, Lehr- und Leitungskräfte, der Gruppensituationen im und außerhalb des Unterrichts, der Kooperation und Kommunikation mit Eltern bzw. Erziehungsberechtigten und nicht zuletzt der Schulkultur.
Sozialpädagogisches Denken und Handeln zielt auf ein grundsätzliches Verständnis der gemeinsamen Verantwortung von sozialpädagogischen Fachkräften und Lehrkräften für die Persönlichkeitsentwicklung und den Schulerfolg von Kindern und Jugendlichen ab. Die für den Schulerfolg notwendige Neugier, Lernfreude und Ausdauer können dann besonders erfolgreich unterstützt werden, wenn das Lernen nicht nur im Unterricht, sondern auch in offeneren Lernformen in alltägliche Interaktionen und Aktivitäten eingebettet ist. Die Beziehungsstruktur der Lernsituation muss dabei Verlässlichkeit, Rückkopplung, gegenseitige Unterstützung und Ermutigung ermöglichen. Themen und Inhalte werden von den Kindern und Jugendlichen als ihre eigenen betrachtet, da sie einen Bezug zu ihren Entwicklungsthemen aufweisen.
Sozialpädagogisches Handeln versucht, frei wählbare, interessengeleitete Zugänge zu Inhalten, Orten und Gruppen zu ermöglichen und dabei sportliche Betätigung und kulturelle Praxis als wichtige Ausdrucksformen und Beiträge positiver Selbstwahrnehmung und Identitätsbildung anzuerkennen. Ziel ist es immer, einen individuellen Zugewinn an Selbständigkeit sowie an persönlicher und sozialer Verantwortung zu erreichen und anerkennende Rückmeldung im Sinne von Bestärkung, Befähigung und Ermutigung zu geben. Nicht zuletzt muss durch sozialpädagogisch professionelles Handeln eine Öffnung in den Sozialraum der Kinder und Jugendlichen stattfinden mit dem Bestreben, Benachteiligungen auszugleichen sowie einen Beitrag zum Schulerfolg und zur gesellschaftlichen Integration zu leisten.
Anlässe und Formen
Zur Stärkung der sozialen und Alltagskompetenzen von Kindern und Jugendlichen sowie der Weiterentwicklung von Elternarbeit in oben genanntem Sinne gibt es eine Vielzahl an Möglichkeiten und Formen. Die bedürfnis- und zielgruppenorientierte Ausrichtung der Angebote auf partizipatorischer Basis stellt eine zentrale Bedingung des Gelingens dar. Angebote können sich individuell an Einzelne richten oder an ganze Klassen und klassenübergreifende Gruppen.
Unterstützungsangebote zur Förderung der kognitiven Entwicklung, eingebettet in erlebnisorientierte Lernangebote und Spiele, sind ebenso wichtig, wie außerunterrichtliche Angebote der sozialen und politischen Bildung, der Jugend-, Sport- und Kulturverbände oder der kommunalen Jugendsozialarbeit. Notwendig ist auch das Vorhalten von Räumen und Zeit zur selbstbestimmten Nutzung und Gestaltung im Rahmen des Ganztagsangebots. Mit Angeboten zum Erlernen von Konfliktlösungs-strategien (z. B. bei Streitschlichter-/Mediationsseminaren), Präventions-projekten (z. B. zu Themen wie Gewalt, Umgang mit Medien, Gesundheit), lebenspraktischen Unterstützungsangeboten (z. B. bei familiären Problem-lagen, Wohnungssuche, Schwangerschaft etc.) und geschlechtsspezifischen Angeboten werden Kinder und Jugendliche darüber hinaus in ihren Eigenkompetenzen unterstützt, gestärkt und gefördert.
Sozialpädagogisch handelnde Fachkräfte entwickeln Formen der Elternarbeit weiter. Beratungs- und Informationsangebote, z. B. zu Erziehungsfragen, familiären Problemlagen, Hilfeangebote (z. B. im Sozialraum) und Kinder- und Jugendschutz sind ebenso Teil sozialpädagogischen Handelns an Schulen wie thematische Elternabende zu Gesundheit, Suchtprävention, kompetenter Mediennutzung sowie Unterstützungsangebote bei den Hilfen zur Erziehung und Beratungen beim Übergang zu weiterführenden Schulen.
Sozialpädagogisches Handeln: Rahmenbedingungen und Kooperation
Schulinterne Unterstützungsstrukturen und die Kooperation mit anderen sozialpädagogisch handelnden Akteuren erfordern die Weiterentwicklung von Rahmenbedingungen. Hierzu bedarf es grundsätzlich einer Schulkonzeption, an der sozialpädagogische Fachkräfte mitgewirkt haben. Aus dieser muss die aktive und gleichberechtigte Beteiligung von sozialpädagogischen Fachkräften an schulischer Gremienarbeit (z. B. Klassen-, Schul- und Lehrerkonferenzen) erfolgen, aber auch gemeinsame Einzelfallbesprechungen von sozialpädago-gischen Fachkräften und Lehrkräften/Schulleitung sowie Hilfekonferenzen, z. B. bei Schulangst und Schulverweigerung, Verdacht auf Kindeswohlge-fährdung, drohendem Schulabbruch o. ä.
Weitere Konzepte, beispielsweise zu Gewaltprävention oder sozialem Lernen sowie Übergangskonzepte, werden in Zusammenarbeit entwickelt, verant-wortet und umgesetzt. Gemeinsame Fort- und Weiterbildung, Supervision und kollegiale Fallberatung sind für eine umfassende fachliche Kooperation daher dringend erforderlich.
Tariflich geregelte Beschäftigungsverhältnisse mit einer klaren Aufgaben-beschreibung der sozialpädagogischen Fachkräfte in der Schule sind für die Kontinuität und den Erfolg der Arbeit unerlässlich. Die Reduzierung der sozialpädagogischen Fachkräfte auf Hausaufgabenhilfe oder Einsatz als Aufsicht bzw. Ersatz bei Ausfällen im Lehrpersonal kann nicht im Sinne eines breit aufgestellten Konzeptes sozialpädagogischen Handelns sein.
Die Integration von Bildungs- und Freizeitaktivitäten sowie das Bereitstellen und Schaffen von Räumen und Freiflächen mit gemeinsamen Nutzungsrechten auch an Abenden und in den Ferien tragen maßgeblich dazu bei, dass Schule als Lebensort auch Entfaltungsräume bietet. Neben diesen sind auch Zeiträume für die gemeinsame Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, Fach- und Lehrkräften sowie Eltern maßgeblich.
Die Kooperation von Schulträgern mit den Trägern der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe sowie externen Partnern (weiterführende Schulen, Hochschulen, Agenturen für Arbeit, Gesundheitswesen, Zentren der Familienbildung, Unternehmen und andere Akteure aus dem Sozialraum) ist bei alledem unverzichtbar. Nur so kann sozialpädagogisches Handeln an Schulen gestaltend die Entwicklung einer positiven Alltagskultur in der Schule mittragen, die für Kinder und Jugendliche, für Lehrerinnen und Lehrer und für sozialpädagogische Fachkräfte die Schule nicht nur zu einem Lernort, sondern auch zu einem Sinn stiftenden, mutmachenden Lebensort machen.
Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 25. September 2013