Kinder- und Jugendarbeit unter Gestaltungsdruck.
Zur Notwendigkeit, Angebote der Kinder- und Jugendarbeit zu erhalten und weiterzuentwickeln

Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

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Kinder- und Jugendarbeit im Spannungsverhältnis widersprüchlicher Anforderungen

Kinder- und Jugendarbeit sieht sich zunehmend paradoxen Erwartungen und Anforderungen ausgesetzt. Die demographische Entwicklung führt zu einem geringer werdenden Anteil junger Menschen an der Gesamtbevölkerung, so dass diese politisch immer weniger Beachtung finden. Fachliche Angebote sowie die Interessenvertretung für diese Altersgruppe durch Kinder- und Jugendarbeit drohen deshalb ins politische Abseits zu geraten. Demgegenüber wird die nachwachsende Generation immer bedeutsamer, sie wird die Zukunftsaufgaben der Gesellschaft zu lösen haben. Deshalb steht die Ausschöpfung aller Bildungsreserven hoch im Kurs.

Das Fördern ganzheitlicher Bildung und sozialer Verantwortung, wie es aktuell auch im Zusammenhang mit der Entwicklung einer eigenständigen Jugendpolitik gefordert wird, ist aber gerade die zentrale Leistung der Kinder- und Jugendarbeit. Sie ist der einzige institutionell gesicherte und staatlich geförderte Ort, an dem Kinder und Jugendliche eigenständig gestaltbare und auslotbare Erfahrungsräume nutzen können, in denen nicht Erwachsene mit ihren Erwartungen Orientierungspunkte bilden und in denen eine Lernkultur vorherrscht, die auf Erfahrungen des alltäglichen Lebens setzt und so nachhaltige Wirkung auf Bildungsprozesse entfaltet.

Die Zunahme von Kinderarmut und die Verschärfung sozialer Problemlagen führen zu der verstärkten Erwartung, durch Kinder- und Jugendarbeit kompensatorische Aufgaben zu erfüllen. Der Ansatz, alle Kinder und Jugendlichen in ihre Angebote einzubeziehen und durch soziale Vielfalt gegenseitige Förderung, gesellschaftlichen Zusammenhalt und Selbstorganisation zu ermöglichen, wird dadurch unterlaufen, dass die politische Akzeptanz von Kinder- und Jugendarbeit zunehmend an die Bearbeitung sozialer Benachteiligungen und aktueller gesellschaftlicher Problemlagen gebunden wird.

Für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft ist es mitentscheidend, dass Kinder und Jugendliche frühzeitig Erfahrungen mit anderen machen, die nicht der eigenen sozialen Gruppe angehören. Die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit ermöglichen und fördern die Begegnung junger Menschen mit unterschiedlichem sozialen und kulturellen Hintergrund. In der offenen Kinder- und Jugendarbeit stellen die Angebote ein wesentliches Gegenmodell zu Misserfolgserlebnissen, Ablehnungs- und Ausgrenzungserfahrungen mit Familie und Schule dar. Die Einrichtungen und Angebote sind damit auch ein Ort der Ermutigung, der Kinder und Jugendliche befähigt, sich selbst positiv wahrzunehmen und wieder Zutrauen zu fassen, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen.

Während die Jugendarbeit in Jugendverbänden viele Kinder und Jugendliche aller Schichten anspricht und sie an Verantwortungsübernahme und Selbstständigkeit weitgehend unter ehrenamtlichen Strukturen heranführt, bietet die offene Kinder-und Jugendarbeit mit den gleichen Zielen ein infrastrukturelles Angebot, auch in sozial belasteten Stadtteilen, unter weitgehend hauptamtlichen professionellen Strukturen an, das auch einen Kompensationsauftrag zum Ausgleich sozialer Benachteiligung enthält.

Kinder- und Jugendarbeit leistet auch einen wichtigen Beitrag zum differenzierten Rollenerwerb und interkultureller Akzeptanz und Kompetenz durch geschlechtersensible und kultursensible Arbeit und liefert damit wichtige Anstöße für Fragen der gesellschaftlichen Integration und zur Stärkung von Alltagsdemokratie.

Eine gute Ganztagsbildung kann auf Lernen und Erfahrungen in non-formalen und informellen Kontexten nicht verzichten. Die Ausweitung der ganztägigen Beschulung darf allerdings die Zeitsouveränität von Kindern und Jugendlichen nicht soweit einschränken, dass für selbstbestimmte Aktivitäten und Engagement in und durch Kinder- und Jugendarbeit immer weniger Spielraum bleibt. Bürgerschaftliches Engagement ist eine wichtige Grundlage des sozialen Zusammenhalts einer demokratischen Gesellschaft. Dieses politisch gewünschte und gesellschaftlich notwendige Ziel – nicht zuletzt auch zur zukünftigen Entlastung der Sozialsysteme – wird ohne eine kontinuierliche Förderung von Engagement junger Menschen in der Kinder- und Jugendarbeit und ohne entsprechende Freiräume in der Ganztagsschule kaum zu erreichen sein.

Mit dem Engagement in der Kinder- und Jugendarbeit wird häufig der Grundstein für ein Engagement auch im Erwachsenenalter gelegt. Freiwilliges Engagement und Beteiligung junger Menschen, auf Grundlage freier Entscheidung und zur Verwirklichung eigener Vorstellungen, Wünsche und Interessen, ist für Kinder- und Jugendarbeit, insbesondere für die Jugendverbände, die grundlegende Basis.

Ebenso fördert Kinder- und Jugendarbeit weitere Formen zivilgesellschaft-lichen Engagements, u.a. im Rahmen der offenen Kinder- und Jugendarbeit und in Beteiligungsprojekten. Speziell in der Jugendverbandsarbeit bietet sich die Möglichkeit, in hoher Kontinuität und frei gewählt in einer Gemeinschaft Verantwortung für sich und andere zu übernehmen und dabei in hohem Maße über Strukturen, Organisationsformen, Ziele und Inhalte mitentscheiden zu können.

Kinder- und Jugendarbeit als wesentliche Leistung für junge Menschen

Kinder- und Jugendarbeit im Sinne von §§ 11 und 12 SGB VIII soll als eigenständiges Bildungsangebot, das an den Interessen und lebensweltlichen Herausforderungen junger Menschen anknüpft und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet wird, die Entfaltung eigenverantwortlichen Handelns, gesellschaftlicher Mitverantwortung und sozialen Engagements fördern. Sie wird u.a. von Verbänden, Gruppen, Vereinen und Initiativen der Jugend sowie Trägern der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe angeboten und soll mitgliederorientierte, offene und gemeinwesenorientierte Angebote umfassen.

Die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit sollen sich dabei an alle Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 6 bis 27 Jahren, insbesondere aber an die Kernzielgruppe der 10- bis 18-Jährigen, richten. Mindestens die Hälfte der Kinder und Jugendlichen nutzen im Verlauf ihrer Biographie (einmalig, mehrfach oder langjährig) Angebote der Kinder- und Jugendarbeit, u.a. der Jugendverbände, der offenen Kinder- und Jugendarbeit, der internationalen Jugendarbeit, der kulturellen, sportorientierten und politischen Jugendbildung, engagieren sich in Beteiligungsprojekten oder nehmen an Erholungsmaßnahmen teil. Kinder- und Jugendarbeit erreicht damit im Vergleich aller Jugendhilfeleistungen die meisten jungen Menschen, abgesehen von der Kindertagesbetreuung, auf die ein individueller Rechtsanspruch besteht und deren Einrichtungen flächendeckend vorgehalten werden.

Kinder- und Jugendarbeit als eigenständiger und spezifischer Bildungsbereich zeichnet sich durch eine eigene pädagogische Fachlichkeit aus. Sie bietet Räume und Gelegenheiten, in denen Kinder und Jugendliche freiwillig ihren Interessen nachgehen und dabei Unterstützung und Anregungen erhalten. Wesentliche Aufgabe professionell-pädagogischer Beziehungen in der Kinder- und Jugendarbeit ist es, jungen Menschen ein möglichst hohes Maß an Selbst- und Mitverantwortung, Selbstorganisation und Interessenartikulation zu ermöglichen. Pädagogische Fachkräfte gestalten soziale Settings, in denen die Adressatinnen und Adressaten maßgeblich die Inhalte und die Umsetzung bestimmen. 

Kinder- und Jugendarbeit erfüllt eine anwaltliche Funktion für Kinder und Jugendliche. Sie fördert die Beteiligung junger Menschen an der Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse und regt diese an. Sie nimmt eine Brückenfunktion wahr, indem sie Kindern und Jugendlichen für die Vertretung ihrer Interessen Zugang zu Institutionen und Personen vermittelt, die für die Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse von Bedeutung sind.


Forderungen der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

  • ine eigenständige Jugendpolitik muss eine zukunftsorientierte Kinder- und Jugendarbeit als Ort der Anerkennung, der Ermutigung, der sozialen Verantwortung, des ganzheitlichen Lernens und des bürgerschaftlichen Engagements berücksichtigen und in ihrer Kontinuität erhalten.
  • Für die wirksame Nutzung der genannten Ressourcen muss eine verlässliche und nachhaltige Infrastruktur der Kinder- und Jugendarbeit, die für alle Kinder und Jugendlichen zugänglich ist, sichergestellt werden. Die finanzielle Förderung von Einzelprojekten kann eine kontinuierliche öffentliche Finanzierung der Infrastruktur nicht ersetzen. Die Gewährleistungsverpflichtung der Kommunen muss dahingehend konkretisiert werden, dass die häufige Fehlbewertung von Kinder- und Jugendarbeit als freiwillige Leistung ausgeschlossen wird. Den §§ 11 und 12 SGB VIII muss deshalb eine Finanzierungsvorschrift zur Seite gestellt werden, die über die bisherige appellative Aussage des § 79 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII hinausgeht. Zukünftig müsste der Träger der öffentlichen Jugendhilfe den „angemessenen Anteil“ der für die Jugendarbeit bereitgestellten Mittel aus der Basis der Ergebnisse der Jugendhilfe-planung für einen Planungszeitraum konkretisieren.
  • Autonomie, Selbstorganisation, Zeitsouveränität und Offenheit sind für die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit Grundvoraussetzungen, die durch politische Themenkonjunkturen nicht in ihrem Bestand gefährdet werden dürfen. Die Qualität der Kinder- und Jugendarbeit besteht gerade darin, dass Kinder und Jugendliche selbst entscheiden, mit welchen Inhalten und auf welche Weise sie sich mit den sie interessierenden Themen befassen. Die notwendige fachliche Steuerung im Rahmen der Jugendhilfeplanung und die Anregungs- und Unterstützungsfunktion der pädagogischen Fachkräfte müssen hierfür die Rahmenbedingungen schaffen.
  • Akzeptanz und Glaubwürdigkeit der demokratischen Gesellschaft bei jungen Menschen hängen von ihren Beteiligungsmöglichkeiten ab. Für die Partizipation von Kindern und Jugendlichen an gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen sind strukturell garantierte Rechte der Einflussnahme, u.a. in Jugendhilfeausschüssen, unverzichtbar und müssen ausgebaut werden. Die rechtlichen Voraussetzungen für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen müssen über den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe hinaus auch in anderen Politikfeldern weiterentwickelt werden.
  • Eine eigenständige Kinder- und Jugendpolitik muss junge Menschen ernst nehmen, sie als Partnerinnen und Partner einbeziehen und ihr Engagement wertschätzen. Kinder- und Jugendarbeit muss entschiedener als Ort des alltäglichen Demokratielernens und der politischen Bildung auch außerhalb geregelter Partizipation verstanden und entwickelt werden. Gerade junge Menschen in sozial belasteten Einzugsbereichen, die häufig Erfahrungen der Marginalisierung erleiden, müssen und können durch Angebote der Kinder- und Jugendarbeit verstärkt ermutigt werden, ihre Interessen zu benennen und zu vertreten. Dies bedarf pädagogischer Fachkräfte, die für diese Förderung des Demokratielernens qualifiziert sind.
  • Ehrenamtliches Engagement junger Menschen muss durch adäquate  rechtliche Rahmenbedingungen gestärkt werden. Die Glaubwürdigkeit des Partizipationsversprechens hängt darüber hinaus davon ab, ob und wie die Gesellschaft sie darin unterstützt, ihre Rechte wahrzunehmen. Die entsprechenden Kompetenzen werden nicht automatisch im Zuge der Entwicklung und Sozialisation erworben. Junge Menschen, die sich für die Gesellschaft engagieren und sich einbringen möchten, bedürfen der Anleitung und Unterstützung. Junge Ehrenamtliche, die andere junge Menschen aus- und fortbilden und in der Praxis begleiten, brauchen ihrerseits einen verlässlichen Rückhalt durch hauptamtliche Fachkräfte. Deren Einsatz unterstützt Selbstorganisation. In einer von Individualisierung geprägten Gesellschaft ist er eine wichtige Voraus-setzung dafür, dass die Selbstorganisation junger Menschen gelingt.
  • Das Zusammenwirken von Kinder- und Jugendarbeit und Schule muss verbindlich so ausgestaltet werden, dass der besondere Charakter der Kinder- und Jugendarbeit und die damit verbundenen Lern- und Erfahrungsräume erhalten, ausgebaut und genutzt werden. Erfolgreiche Entwicklung und Förderung von Kindern und Jugendlichen ist nur als Verbindung von informellen, formalen und non-formalen Bildungsange-boten an verschiedenen Bildungsorten möglich. Teile der Lernkultur der Kinder- und Jugendarbeit werden zunehmend zum regelhaften Bestandteil schulischen Lernens. Benötigt werden daneben weiterhin eigenständige Angebote der Kinder- und Jugendarbeit innerhalb und außerhalb von Schule, die in einem produktiven und bildungspolitisch erwünschten Spannungsverhältnis zur Institution Schule stehen.
  • Kinder- und Jugendarbeit in Jugendverbänden und in der offenen Kinder- und Jugendarbeit benötigt hauptamtliche, qualifizierte pädagogische Fachkräfte. Mit dem Ausbau der sozialen Arbeit in anderen Handlungsfeldern droht eine Verschiebung von Studieninhalten, bei denen für Kinder- und Jugendarbeit wichtige Themen zurücktreten. Die Ausbildungsstätten und Träger von Fort- und Weiterbildung sollten darauf orientiert werden, auch im Hinblick auf die Anforderungen der Kinder- und Jugendarbeit zu qualifizieren. Zentral dabei sind eine Haltung und Bildungskonzepte, die Selbstorganisation und soziale Verantwortung fördern sowie methodische Kompetenzen, die an den Interessen und Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen ansetzen.
  • Die Ausrichtung der Kinder- und Jugendarbeit zu einer infrastrukturellen Angebotslandschaft bedarf der Nachhaltigkeit der Personalauswahl und Personalentwicklung. Dies setzt qualifizierte Arbeitsplätze mit leistungsgerechter Vergütung voraus. Die z.T. zu beobachtende Personalpolitik mit prekären Arbeitsverhältnissen und Arbeitszeiten gefährdet Fortbestand und Weiterentwicklung des Arbeitsfeldes und führt zur Abwanderung in andere Bereiche.[1]

Aus Sicht der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ ist dringend eine Jugend(förder)politik aller politischen Ebenen erforderlich, die Angebote, Räume, Strukturen und Methoden der Kinder- und Jugendarbeit nachhaltig sicherstellt bzw. weiterentwickelt.

 

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Berlin, 24./25. November 2011

 

[1] vgl. hierzu „Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendhilfe“, Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ, April 2011