22 mio. junge chancen
gemeinsam.gesellschaft.gerecht.gestalten.

Kinder- und jugendpolitisches Leitpapier zum 16. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag

Leitpapier als PDF

Mit dem Motto „22. mio. junge chancen. – gemeinsam.gesellschaft.gerecht.gestalten.“ betont der 16. DJHT die Bedeutung der gesellschaftlichen Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen und stellt dabei die Perspektive der jungen Menschen in den Mittelpunkt. 22 Millionen junge Menschen im Alter von 0 – 27 Jahren leben in Deutschland, über 140 Millionen in ganz Europa. Sie alle haben die bestmöglichen Chancen verdient und brauchen die Möglichkeit, unsere Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Jede und jeder von ihnen ist somit eine Chance für unsere Gesellschaft.

Ziel des kinder- und jugendpolitischen Leitpapiers der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ ist es den fach- und jugendpolitischen Diskurs innerhalb der und über die Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe hinaus anzustoßen. Dabei soll das Papier einen Beitrag zu Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe leisten sowie den kritischen Austausch zwischen Politik, Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendhilfe befördern.

22 mio. junge Chancen sind…

fast 11 Millionen Kinder, mehr als 2,3 Millionen Jugendliche und über 8 Millionen junge Erwachsene, die in der Bundesrepublik Deutschland leben. Sie alle sind ein Teil von knapp 141 Millionen jungen Menschen im Alter von 0 bis 27 Jahren in Europa. Mit Blick auf die deutsche Gesamtbevölkerung machen diese knapp 22 Millionen einen Anteil von 25,6 Prozent aus. Dem entgegen steht die ältere Generation ab 65 Jahren mit 21,5 Prozent.

Jeder junge Mensch ist einzigartig. Kinder und Jugendliche wachsen in verschiedenen Lebenslagen auf. Aktuell werden in Deutschland fünf Prozent mehr Jungen als Mädchen geboren. Wichtigster Ort des Aufwachsens ist die Familie, doch familiale Lebensformen sind vielfältiger geworden. So kommen 35 Prozent aller Kinder in Deutschland in nicht-ehelichen Gemeinschaften zur Welt. 2,3 Millionen minderjährige Kinder in Deutschland werden bei einem alleinerziehenden Elternteil groß, der größte Teil von ihnen lebt bei der Mutter. Insgesamt wächst fast die Hälfte aller jungen Menschen in Deutschland mit mindestens einem Geschwisterkind auf. Rund 40 Prozent wachsen ohne Geschwister auf.
Die Ressourcenausstattung einer Familie sowie deren gesellschaftliche Anerkennung bestimmen das Maß der Förderung, das sie ihren Kindern für deren Entwicklung zukommen lassen können. Familien sind so in unterschiedlichem Maße für die Eröffnung von Teilhabechancen förderlich. So sind Haushalte von Alleinerziehenden zu über 40 Prozent von Armut gefährdet. Auch die Regionalität spielt bei der Ressourcenausstattung von Familien eine Rolle: In Ostdeutschland leben Kinder und Jugendliche beinahe doppelt so häufig in Familien, die Arbeitslosengeld II beziehen, als in Westdeutschland.
Mehr als jedes dritte Kind unter 14 Jahren hat einen Migrationshintergrund. Im Vergleich zu Kindern ohne Zuwanderungsgeschichte haben sie deutlich häufiger verheiratete Eltern und mehr als einen Bruder oder eine Schwester.

Das Aufwachsen erfolgt mehr und mehr in öffentlicher Verantwortung: Immer früher nutzen Kinder außerfamiliäre Bildungs- und Betreuungsangebote. 32,9 Prozent der Kinder unter drei Jahren werden außerfamiliär betreut. Knapp zwei Millionen Kinder zwischen drei und fünf Jahren besuchen eine Kindertageseinrichtung oder Tagespflege. Dies entspricht einer Betreuungsquote von 95 Prozent.
Während die Gesamtzahl von Schülerinnen und Schülern an integrierten Gesamtschulen oder Schulen mit mehreren Bildungsgängen stetig zunimmt, besuchen immer weniger eine Hauptschule. 2014 beendeten 21 Prozent der Schulabgängerinnen und -abgänger die Schulzeit mit einem Hauptschulabschluss. Trotz eines Rückgangs beenden immer noch 6 Prozent der Schulabgängerinnen und -abgänger die Schule ohne Hauptschulabschluss. Den größten Teil der Bildungsabgängerinnen und -abgänger machen mit 41 Prozent die Schülerinnen und Schüler aus, die das Abitur erwerben. Trotz eines Rückgangs der Hauptschülerinnen und Hauptschüler sowie der –Schülerinnen und Schüler ohne Schulabschluss hängt der Bildungserfolg weiterhin nirgendwo so stark vom sozialen Status der Eltern ab wie in Deutschland. Nach wie vor besuchen Kinder und Jugendliche mit sozioökonomisch niedrigerem Status dreimal seltener ein Gymnasium. Auch Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund gehen (selbst unter Beachtung des jeweiligen sozioökonomischen Status) weiterhin seltener an ein Gymnasium und besuchen häufiger Hauptschulen als diejenigen ohne Migrationshintergrund.
Diese sozialen Disparitäten schreiben sich auch im Übergang in Ausbildung und Studium fort. In einigen Ausbildungsberufen zeichnet sich eine Verdrängung von jungen Menschen mit mittlerem Schulabschluss durch Jugendliche mit Hochschulzugangsberechtigung ab (z.B. in freien Berufen, im öffentlichen Dienst sowie etwas geringer ausgeprägt in Berufen der IHK und des Handwerks). Die Ausbildungssituation von jungen Menschen unterscheidet sich nach Berufsgruppen und Regionen. Insbesondere für junge Menschen mit maximal einem Hauptschulabschluss hat sich die Situation im Osten Deutschlands verschlechtert.

Junge Menschen sind im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung auf dem Arbeitsmarkt im Nachteil: Während bei den 15- bis 24-Jährigen die Jugendarbeitslosigkeit bei 7,8 Prozent liegt, sind Menschen zwischen 25 und 64 Jahren lediglich zu 4,7 Prozent von Arbeitslosigkeit betroffen. Im europäischen Vergleich haben junge Menschen in Deutschland allerdings deutlich bessere Chancen Arbeit zu finden. In einigen europäischen Staaten liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei über 50 Prozent. Insgesamt gehören ca. 14 Millionen und damit 15,4 Prozent der jungen Generation in Europa zu den sogenannten NEETs – junge Menschen, die sich weder in der Schule, noch in der Ausbildung oder im Beruf befinden. Aber auch wenn 18- bis 25-Jährige eine Ausbildung oder Arbeit gefunden haben, sind viele von ihnen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich von Armut bedroht.

Einen Teil der jungen Menschen macht die zunehmende Zahl von begleiteten oder unbegleiteten geflüchteten Kindern und Jugendlichen aus, die nach Deutschland gekommen sind. Im Januar 2016 lebten über 60.000 minderjährige Geflüchtete und junge Volljährige ohne ihre Eltern in der Bundesrepublik und befanden sich damit in der Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe.

22 mio. junge Chancen stehen für…

… Wohlergehen, Zufriedenheit, Fleiß.

Kinder und Jugendliche sind ehrgeizig, wohlbehütet, sensibel und fleißig. Sie sind sportlich, materialistisch und schüchtern. Studien zeigen, vielen Kindern und Jugendlichen in Deutschland geht es gut und die große Mehrheit von ihnen empfindet dies auch selbst so. Erfahrungen von Fürsorge und Geborgenheit in den Familien, freundschaftliche Beziehungen und eine vielfältige Freizeitgestaltung sind der Grundstein dafür.

… Mainstream und Eigenverantwortung.

Jungen Menschen sind Eigenverantwortung und Unabhängigkeit wichtig, neuerdings auch der Respekt vor Gesetz und Ordnung, der von ihnen als noch wichtiger bewertet wird als Fleiß, Ehrgeiz oder die Entfaltung der eigenen Kreativität. Für viele Jugendliche ist es wichtig, so zu sein „wie alle“. Sie vertreten einen gemeinsamen Wertekanon von Freiheit, Aufklärung und Toleranz, aber auch von Anpassungs- und Leistungsbereitschaft. Die Mehrheit aller Kinder und Jugendlichen strebt höhere Schulabschlüsse an. Sie haben einen immer besseren Zugang zu Medien und zu einer Vielfalt von Kommunikationsmöglichkeiten und Konsumgütern, die allein auf sie zugeschnitten sind. Unter Voraussetzung entsprechender materieller Ressourcen hat sich darüber hinaus ihr Bewegungsradius und mit ihm Möglichkeiten zum Entdecken der Welt deutlich erhöht.

… Optimismus, Vielfalt, Interkulturalität.

Die meisten jungen Menschen blicken positiv in die Zukunft. Sie bewerten Freundschaft und Familie als hohes Gut und sehen in ihren persönlichen Beziehungen eine wesentliche Voraussetzung für ein erfüllendes Leben. Die Mehrzahl der Jugendlichen zeigt sich offen gegenüber der Vielfalt von Menschen und erkennen damit auch ihre eigenen Unterschiede an. Dabei zeigen sich aber auch Unterschiede zwischen Gruppen von Jugendlichen. Aktuelle Studienergebnisse legen nahe, dass Kinder mit Migrationshintergrund insgesamt vermehrt multiethnische Freundeskreise besitzen als dies für ihre Altersgenossen der Fall ist. Sie haben dadurch einen Vorsprung in der Aneignung interkultureller Kompetenzen.

… Solidarität, mehr Gerechtigkeit und politisches Engagement.

Das Streben nach Sicherheit ist unter Jugendlichen heute genauso ausgeprägt wie die Bereitschaft, sozial benachteiligten und gesellschaftlichen Randgruppen zu helfen. Bereits im Alter von drei Jahren besitzen Kinder ein auf Gegenseitigkeit gerichtetes Verständnis von Gerechtigkeit – Fairness und Gleichverteilung stehen dabei im Vordergrund. Jugendliche setzen sich für andere ein und fordern dabei Solidarität gegenüber allen Menschen, nur so könne ein selbstbestimmtes Leben in einer friedlichen Weltgemeinschaft funktionieren.
Das politische Engagement der Jugendlichen ist in den letzten zehn Jahren wieder deutlich gestiegen und auch der Demokratie in Deutschland trauen sie im Vergleich zu vergangenen Jahren immer mehr zu. Junge Menschen fordern mehr Teilhabe- und Mitbestimmungsmöglichkeiten.
Jugendliche sind sich des demografischen Wandels und seiner Konsequenzen bewusst. Sie beteiligen sich an den drängenden Fragen der heutigen Zeit und machen auf ihre Bedürfnisse aufmerksam. Insbesondere für den ländlichen Raum regen sie Veränderungen an, die auch aktuelle gesellschaftspolitische Themen mit einschließen. Sie fordern mehr Integrationsangebote für Flüchtlinge, sie unterstreichen den Stellenwert des öffentlichen Nahverkehrs, sie fordern eine nachhaltige Landwirtschaft, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie mobile ärztliche Versorgung auf dem Land.

… die Widersprüche dieser Welt.

Kinder und Jugendliche müssen lernen mit den Widersprüchen dieser Welt umzugehen. Die eine Kindheit oder Jugend gibt es nicht. Kinder und Jugendliche leben in Deutschland in armen und in reichen Verhältnissen, sie wachsen mit liebenden und vernachlässigenden Eltern, in stabilen und instabilen Elternhäusern auf. Einige erleben Gewalt und haben Angst vor der Zukunft. Sie sind Leseratten und Computerfreaks, Outdoorfans und Stubenhocker. Manche wissen genau, was sie wollen, andere haben keinen Plan. Manche gehen ihren Weg geradlinig und andere machen Umwege. Viele erhalten Unterstützung, andere sind auf sich selbst gestellt. Viele Kinder und Jugendliche bewältigen die Schule, manche nicht und bleiben ihr schließlich fern. Einigen steht die Welt offen, andere bekommen keinen Ausbildungsplatz. Manche Wünsche erfüllen sich, andere liegen im utopischen Raum. Einige fühlen sich zwischen Kulturen zerrissen. Es zeigt sich, dass Jugendliche ohne deutschen Pass viel Respekt für die Vielfalt der Menschen aufbringen. Auch religiöse Toleranz festigt sich. Gleichzeitig sind unter jenen, die Vielfalt ablehnen, Jugendliche ohne deutschen Pass ebenfalls weit vorn vertreten. Respekt gegenüber Vielfalt kann genauso als Einforderung von Akzeptanz gelesen werden wie ihre Ablehnung als resignierte Reaktion auf selbsterfahrenen Mangel an Wertschätzung. Deutlich wird hier, dass die persönliche und soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in strukturelle Rahmenbedingungen eingebunden und an soziale, kulturelle und ökonomische Ressourcen geknüpft ist.

… unterschiedliche Chancen und Resilienzfaktoren.

Kinder und Jugendliche in Deutschland haben unterschiedlich gute Chancen ihre Potenziale zu entfalten. Kommen sie aus Herkunftsschichten mit geringem Bildungsniveau und wenig Einkommen sind sie häufig dem Risiko ausgesetzt, von Teilhabe ausgeschlossen zu werden. Viele junge Menschen haben eine Migrationsgeschichte, die nicht selten mit Diskriminierungserfahrungen verbunden ist. Andere junge Menschen werden aufgrund körperlicher, geistiger und seelischer Beeinträchtigung oder ihrer geschlechtlichen und sexuellen Identität und Orientierung diskriminiert. Die Bedingungen des Aufwachsens in Deutschland variieren und Herkunftsmilieus haben sich ausdifferenziert. Ihre Ausgestaltung wird heute weniger dem Sozialraum zugeschrieben als der Familie und den Kindern und Jugendlichen selbst. Sie sind danach an den Bedingungen ihres Aufwachsens beteiligt, ohne sich über die sozialen Herausforderungen gänzlich hinwegsetzen zu können. Zugleich zeigen jüngste Ergebnisse, dass auch Kinder aus belasteten Verhältnissen ihren Alltag positiv und vielfältig ausgestalten können. Einkommensarmut oder die Erwerbsbeteiligung von Eltern bestimmen nicht notwendigerweise, wie gut Kinder in ihre Peer-Groups eingebunden sind und ob sie auffällig werden. So muss jeweils differenziert werden, welche genaue Lebenslage eine bestimmte Situation hervorruft.

22 mio. junge Chancen brauchen…

… Autonomie und Freiräume.

Kinder und Jugendliche entwickeln sich kraftvoll aus sich selbst heraus zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten. Ihnen sind für diese Entwicklung jedoch Autonomie und Freiräume in mehrfacher Hinsicht zuzugestehen. Selbstbestimmtes Agieren braucht freie Zeit, verwendungsoffene Orte, zugängliche Ressourcen sowie eigenverantwortlich gestaltbare Begegnungen. Erfolg darf keine Bedingung für die Wahl eigener Wege sein. Umwege sind zu akzeptieren, ein Scheitern kann möglich sein. 22 Millionen Kinder und Jugendliche werden eine Vielzahl von Lebensentwürfen entfalten – darin liegen 22 Millionen Chancen.
Dabei sind Kinder und Jugendliche mit erstaunlich vielen Begrenzungen konfrontiert, die sie in ihrer selbstbestimmten Entwicklung hemmen. Leistungsdruck findet sich nicht nur in der Schule. Die sogenannte Beschleunigung der Lebensphase ist ebenso kritisch zu hinterfragen wie unfreiwillige Situationen der Entschleunigung: Wenngleich „durchhängen“ erlaubt bleiben muss, sind Warteschleifen, z. B. zwischen Schulabschluss und Berufsbildungsbeginn, keineswegs immer freiwillig und können lähmen. Gesellschaftliche Erwartungshaltungen führen zunehmend dazu, dass selbst Entscheidungen zur Freizeitgestaltung an der Frage „Was bringt mir das?“ gemessen werden. Innerhalb der Gruppe der jungen Menschen führt soziale Ungleichheit dazu, dass in sehr unterschiedlichem Maße Ressourcen zur Gestaltung der überhaupt bestehenden Freiräume gegeben sind.

… Beteiligung und Mitbestimmung.

Kinder und Jugendliche brauchen die Möglichkeit, die sie betreffenden Angelegenheiten mitzugestalten. Insbesondere an entsprechenden Entscheidungen sind sie zu beteiligen. Alter und Entwicklungsstand sind nicht als Barrieren hierfür zu sehen, sondern geben Anhaltspunkte für das Entdecken noch ungenutzter Stärken und die Förderung ihrer Ressourcen der Selbstgestaltung.
Beteiligung und Mitbestimmung gelten in Theorie und Praxis zwar als hohe Güter, Partizipation wird letztlich aber höchst unterschiedlich herbeigeführt und gelebt. Als Gegenstand werden häufig nur wenige relevante Angelegenheiten zugelassen, eine rechtlich-verbindliche Verankerung ist selten, Enttäuschung aufgrund geringer Annahme und Rückmeldung verbreitet. Beteiligung darf kein Selbstzweck sein. Deshalb müssen Beteiligungsformate für Kinder und Jugendliche altersgerecht ausgestaltet sein. Für junge Menschen muss die Wirkung ihres Handelns und ihrer Beteiligung von Anfang an erfahrbar sein.

… Bildung und Bildungsgelegenheiten.

Alle jungen Menschen haben von Geburt an das Recht auf die Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Bildung ist dabei eine wichtige Voraussetzung für eine selbstbestimmte Lebensführung und gesellschaftliche Teilhabe. An allen Bildungsorten muss deswegen Teilhabe und Chancengerechtigkeit für alle jungen Menschen geschaffen werden. Bildung und Bildungsgelegenheiten müssen vom Kind und vom Jugendlichen aus gedacht werden, damit ihre Fähigkeiten in Bildungsprozesse einbezogen und sie dabei unterstützt werden, ihr Bildungspotenzial auszuschöpfen. Der Abbau von sozialer Ungleichheit bleibt hierbei eine der zentralen Aufgaben der Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsinstitutionen. Alle Kinder brauchen gleichwertige Bedingungen für das Aufwachsen und Rahmenbedingungen, die an ihren individuellen Bedarfen orientiert sind. Eine frühe Förderung ist hier besonders notwendig. Deshalb muss im frühkindlichen Bereich nach dem quantitativen Ausbau der Kindertagesbetreuung nun deren Qualität gesichert und weiterentwickelt werden. Auch im Rahmen schulischer Bildung sind mehr Maßnahmen nötig, die Bildungsbiografien von Kindern und Jugendlichen von der sozialen Lage der Eltern zu entkoppeln.
Damit alle jungen Menschen die bestmöglichen Chancen für ihr Aufwachsen erhalten und um Armut zu bekämpfen, brauchen sie auch außerhalb von Kindertagesbetreuung, Schule und Elternhaus Angebote der informellen und non-formalen Bildung. Eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Bildungsinstitutionen und -orten ist dabei unerlässlich. Es bedarf einer engeren Verzahnung von formalen, informellen und non-formalen Bildungsinhalten und -angeboten.

… Anerkennung und Förderung.

Voraussetzung für eine gerechte Gesellschaft ist die Anerkennung und der wertschätzende Umgang mit Vielfalt in allen Lebensbereichen. Junge Menschen brauchen eine Kultur der Anerkennung, um sich zu selbstverantwortlichen Individuen entwickeln und dabei ihre Gestaltungsmöglichkeiten wahrnehmen zu können. Sie brauchen sowohl den Respekt für die Lebensphasen Kindheit und Jugend sowie für ihre Leistungen, als auch das Verständnis für individuelle Wege der Lebensgestaltung. Dazu müssen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so verändert werden, dass jungen Menschen die nötige Unterstützung und Förderung ihrer Kompetenzen, Fähigkeiten und Lebensentwürfe zuteilwird. Dabei sind sie als Expertinnen und Experten ihrer eigenen Lebenswelt ernst zu nehmen und wertzuschätzen.
Doch vielfältige Lebensentwürfe sind gesellschaftlich noch nicht ausreichend anerkannt. Eine Gesellschaft kann sich nur dann als gerecht bezeichnen, wenn sie allen jungen Menschen die gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe an den sie betreffenden Prozessen ermöglicht, ohne sie aufgrund von Alter, Geschlecht oder Gender, von Herkunft oder Migrationshintergrund, von Religionszugehörigkeit oder sexueller Orientierung, von Bildung oder sozialer Lebenslage, von körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen, zu benachteiligen oder zu diskriminieren. Dies gilt auch für die unterschiedlichen Formen des familialen Zusammenlebens, die noch lange nicht als gleichberechtigt anerkannt betrachtet werden können. Noch immer werden z. B. traditionelle Familienformen etwa gegenüber Regenbogen- oder Einelternfamilien besser gestellt, z. B. beim Adoptionsrecht.
Vorurteile und Rassismus führen zu Ausgrenzung, Stigmatisierung und Diskriminierung bestimmter ethnischer Gruppen und somit von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung. Dass diese jungen Menschen auch Kompetenzen und Fähigkeiten mitbringen, die für unsere Gesellschaft wertvoll sind und zu ihrer Weiterentwicklung beitragen, wird häufig nicht ausreichend berücksichtigt. Hier müssen gesellschaftliche Akteure eine vielfältige Anerkennungskultur entwickeln. In diesem Kontext werden besondere, auf Familien zugeschnittene Unterstützungs- und Förderangebote benötigt.
Die stärkere Berücksichtigung und Anerkennung non-formal erworbener Kompetenzen kann für junge Menschen, die im formalen Bildungssystem benachteiligt werden, den Anschluss an den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt erleichtern.

… Schutz und Sicherheit.

Kinder und Jugendliche brauchen Schutz und Sicherheit. Dies bezieht sich nicht nur auf ihr körperliches und seelisches Wohlergehen, sondern auch auf Handlungssicherheiten und Perspektiven für ein eigenständiges und durch Teilhabe gekennzeichnetes Leben. Voraussetzung dafür ist zum einen eine ausreichende finanzielle Absicherung junger Menschen und ihrer Familien, zum anderen die Zurverfügungstellung sinnvoller Unterstützungs- und Betreuungsangebote für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hier braucht es flexiblere und familienfreundlichere Arbeitszeitmodelle sowie eine für die Belange von Familien sensible Arbeitswelt.

Junge Menschen haben das Recht sich zu freien, selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Persönlichkeiten zu entwickeln. Eine Festschreibung der Kinderrechte im Grundgesetz würde die Rechtsposition junger Menschen stärken.

Kinder und Jugendliche brauchen besondere Schutzräume. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen gilt dies insbesondere für Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrungen. Aufgrund von Ungewissheit über Bleibeperspektiven, fehlender Privatheit in Gemeinschaftsunterkünften und Traumatisierung durch Erlebtes haben diese jungen Menschen einen besonderen Schutzbedarf.

Damit junge Menschen ihre Gestaltungschancen vor allem bei den Übergängen zu anderen Bildungs- und Gesellschaftssystemen wahrnehmen können, brauchen sie die Fähigkeit, ihre Möglichkeiten zu erkennen, Entscheidungen zu treffen, mit Unsicherheiten und Risiken umzugehen und diese konstruktiv zu bewältigen. Hier müssen vor allem die primären Ressourcen, wie Familie, Peer-Groups oder Nachbarschaftsmilieus gestärkt werden, damit sie junge Menschen im Übergang begleiten können.

Digitale Medien und soziale Netzwerke spielen heute eine erhebliche Rolle bei der Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen. Deshalb müssen Kinder und Jugendliche einen sicheren und verantwortungsvollen Umgang mit diesen Medien erlernen, der sie befähigt, Chancen, aber auch Risiken und mögliche Gefahren zu erkennen und zu handhaben. Dabei ist die Unterstützung durch Eltern und Fachkräfte unerlässlich. Doch ihnen fehlt es häufig am nötigen medialen Know-How. Daher ist Medienbildung nicht nur als Teilaufgabe innerhalb der Jugendhilfeangebote anzusehen, sondern muss genauso Teil der Aus- und Fortbildung von Fachkräften und der Familienbildung sein.

Kinder- und Jugendhilfe bietet…

vielfältigste Chancen für junge Menschen, indem sie Orte des Aufwachsens gestaltet, Handlungsspielräume eröffnet, Selbstbestimmung ermöglicht und in problembelasteten Lebenssituationen Beratung, Unterstützung und Hilfe leistet. Kinder- und Jugendhilfe begleitet Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsverantwortung von Anfang an, gewährleistet für alle Kinder ab dem ersten Lebensjahr Erziehung, Bildung und Betreuung, ist aus einer Schule als Lebensort von Kindern und Jugendlichen nicht wegzudenken. Ihre außerschulischen Angebote repräsentieren Räume der Selbstorganisation und der Befähigung junger Menschen zur selbstbestimmten Wahrnehmung von Gestaltungspielräumen eines Lebens im Hier und Jetzt. Auf dem Weg in Ausbildung und Arbeit ist sie eine wichtige Begleiterin für junge Menschen, die ohne die Kinder- und Jugendhilfe an diesen Übergängen zu scheitern drohen. In Familien trägt sie dazu bei, dass diese in die Lage versetzt werden, ihren Lebensalltag eigenständig bewerkstelligen zu können. Für nicht wenige junge Menschen aus schwierigen Lebenskontexten ist sie der Ort, an dem sie außerhalb ihrer Familie Wertschätzung und Unterstützung erfahren und sicher aufwachsen können. Mit ihrer Infrastruktur ist die Kinder- und Jugendhilfe selbstverständlicher Bestandteil des Lebens von 22 Millionen jungen Menschen, ihre Angebote und Leistungen gleichen Defizite von Sozialräumen aus. Als wesentlicher Partner unterschiedlicher Akteure im europäischen Kontext trägt sie dazu bei, dass Europa die Anliegen junger Menschen nicht aus dem Blick verliert und macht darüber hinausgehend Europa für ihre Adressaten und Adressatinnen als positiven Erfahrungskontext erlebbar. Als Anwalt der nachwachsenden Generation ist Kinder- und Jugendhilfe Politik für und mit jungen Menschen.

… Autonomie und Freiräume

Indem die Kinder- und Jugendhilfe Freiräume für Selbstverwirklichung zur Verfügung stellt, Möglichkeiten der Selbstgestaltung anbietet und Selbstwirksamkeit erlebbar macht, ist sie für viele junge Menschen und ihre Familien als Chancengeberin wichtige Begleiterin des Lebens; bspw. in der Kindertagesbetreuung, in der Kinder- und Jugendarbeit, in Angeboten der Familienbildung, durch das Wunsch- und Wahlrecht der Adressatinnen und Adressaten. So schafft sie positive Lebensbedingungen.
Autonomie und Freiräume sind fundamental, sie müssen aber auch gewollt sein. Sie entstehen auch dann, wenn sie durch Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe geschaffen werden und ihre Strukturen durch eine entsprechende Jugendhilfeplanung begründet sind. Fachkräfte, die bereit sind, sich selbst zurückzunehmen, werden bei jungen Menschen dafür werben können, solche Freiräume auch wahrzunehmen.

… Beteiligung und Mitbestimmung

Als beteiligungsorientiertes Leistungsangebot versteht sich die Kinder- und Jugendhilfe als Angebot der Ermöglichung und Eröffnung von Chancen, indem sie Beteiligung in allen Handlungsfeldern umsetzt und die Mitbestimmung ihrer Adressatinnen und Adressaten regelmäßiger Bestandteil und Zielperspektive ihrer Angebote und Maßstab ihres Handelns ist. Nur mit Partizipation und Mitwirkung der jungen Menschen an der Ausgestaltung ihrer Angebote ist eine Kinder- und Jugendhilfe, die Chancen eröffnet, umsetzt und einfordert, vorstellbar – bspw. in den Hilfen zur Erziehung, in der Jugendverbandsarbeit, als Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft. Sie vermittelt die Erfahrung, dass sich Beteiligung und Engagement lohnen.

… Bildung und Bildungsgelegenheiten

Kinder- und Jugendhilfe schafft mit ihren Angeboten Bildungsgelegenheiten und ist selbst vielfältiger Bildungsort. Bildung in einem umfassenden Verständnis schließt formale, non-formale und informelle Bildungsprozesse ein, die in der Perspektive der Kinder- und Jugendhilfe für gelingende Bildungsprozesse alle gleichermaßen bedeutsam sind und dementsprechend anerkannt werden müssen. Kinder- und Jugendhilfe kann mit ihrem erweiterten Bildungsverständnis dazu beitragen, dass sich auch an anderen Bildungsorten das Bildungsverständnis verändert und erweitert – bspw. an Schulen, in der beruflichen und politischen Bildung. Bildung wird durch die Kinder- und Jugendhilfe als Ressource der selbstbestimmten Lebensgestaltung erfahrbar.

Aber nicht jedem stehen ausreichend Bildungsgelegenheiten zur Verfügung. Auch in der Kinder- und Jugendhilfe ist der Bildungsanspruch bislang nicht in allen Handlungsfeldern gleichermaßen umgesetzt worden. Bildungsbenachteiligung spiegelt sich dann wieder, wenn die Qualität des Angebotes mit der Qualität der Sozialräume, in denen Benachteiligte leben, korrespondiert. Familie als Bildungsort gilt es vielfach noch zu entdecken.

… Anerkennung und Förderung

Wenn die Kinder- und Jugendhilfe Chancen für alle 22 Millionen junge Menschen bieten will, wird ihr dies nur gelingen, wenn sie der Pluralität der Adressatinnen und Adressaten durch die Anerkennung und Förderung unterschiedlicher Lebenswelten Rechnung trägt. Die interkulturelle Öffnung ihrer Angebote und deren inklusive Umsetzung sind Ausdruck der Wertschätzung von Vielfalt und deren gelebte Realität. Dadurch trägt die Kinder- und Jugendhilfe zum Abbau sozialer Benachteiligungen bei – bspw. durch die Inklusion aller jungen Menschen und ihr Engagement in der Flüchtlingsarbeit. Vielfalt wird durch die Kinder- und Jugendhilfe als Bereicherung des Lebens gestaltet.
Ohne Wertschätzung und Anerkennung geht nichts, trotzdem sind sie auch in der Kinder- und Jugendhilfe ungleich verteilt. Anerkennung und Wertschätzung von unterschiedlichen und alternativen Lebensformen bringt die Herausforderung mit sich, eigene Normalitäts- und Wertvorstellungen nicht zum ausschließenden Maßstab der fachlichen Arbeit werden zu lassen. Vielfalt leben heißt, Pluralität zulassen und aushalten zu können.

… Schutz und Sicherheit

Das Recht junger Menschen auf ein Aufwachsen in Sicherheit und auf Schutz geht über Kinderschutz bei Kindeswohlgefährdung hinaus und zielt sowohl auf ein Leben jenseits von Armut und Ausgrenzung als auch auf die Vermittlung von Kompetenzen und Fähigkeiten im Umgang mit potenziellen Gefährdungen- bspw. durch den Jugendschutz, durch Angebote der Medienbildung. Kinder- und Jugendhilfe ist Zuflucht und Abbau von Benachteiligung.
In einer reichen Gesellschaft darf Kinderarmut nicht sein. Kinder- und Jugendhilfe ist häufig mit den Folgen sozialer Ungleichheiten konfrontiert. Auch wenn sie selbst wenig Einfluss auf die verursachenden Bedingungen von Armut, Benachteiligung und Ausgrenzung hat, kann sie Sicherheit und Schutz nur dann gewährleisten, wenn sie deren Folgen abschwächt und mit dafür Sorge trägt, dass soziale Ungleichheiten nicht von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Die Notwendigkeit von Sicherheit und Schutz hört mit dem Erreichen der Volljährigkeit nicht auf. Sie dürfen nicht abhängig gemacht werden von fiskalischen Überlegungen.

Für 22 Millionen junge Chancen ist die Kinder- und Jugendhilfe unverzichtbar. Den Anspruch und Auftrag, gemeinsam Gesellschaft gerecht zu gestalten, setzt die Kinder- und Jugendhilfe an vielfältigen Orten und in vielfältigen Strukturen mit vielfältigen Akteuren um. Das heißt nicht, dass die Kinder- und Jugendhilfe keinen Anlass hätte, sich selbstkritisch und reflexiv im Interesse ihrer Adressatinnen und Adressaten aber auch zur Legitimation ihrer Angebote zu hinterfragen. Dazu gehört, die Grenzen der eigenen Handlungsmöglichkeiten und Zuständigkeiten offen zu legen. Dazu gehört ebenfalls, die notwendigen Rahmenbedingungen für das eigene Handeln einzufordern.

Um gemeinsam mit anderen Leistungsträgern und den Adressatinnen und Adressaten Gesellschaft gerecht gestalten zu können, ist die Kinder- und Jugendhilfe auf einige zentrale Rahmenbedingungen und die nötige finanzielle Ausstattung angewiesen. Sie benötigt Freiräume und Autonomie, damit sich die Fachlichkeit ihres Personals entsprechend entfalten und sie sich konzeptionell weiterentwickeln kann. Sie muss Wertschätzung und Anerkennung ihrer pluralen Trägerstruktur auf allen föderalen Ebenen des politischen Systems erfahren und unabhängig von thematischen Konjunkturen eine soziale Infrastruktur für alle 22 Millionen junge Menschen ermöglichen können. Sie muss Bildung und Bildungsgelegenheiten in den aktuellen Lebenswelten ihrer Adressatinnen und Adressaten realisieren können, ohne in diesem Auftrag auf zukünftige ökonomische Interessen verkürzt zu werden. Sicherheit und Schutz können nur solche Fachkräfte gewährleisten, die durch Fort- und Weiterbildung kontinuierlich qualifiziert werden und deren Arbeitsplätze nicht zum Spielball unsicherer Finanzierungsgrundlagen werden.

22 mio. junge Chancen in Deutschland sind Teil junger Chancen in Europa …

deshalb ist ein Blick über den Tellerrand unumgänglich. Die verstärkt europäische Ausrichtung nationaler Politikbereiche wie Haushalt, Wirtschaft, Beschäftigung, Bildung und Soziales hat Auswirkungen auf die Lebenswelten von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland und in Europa. Europa bietet Chancen und Potentiale für das Aufwachsen junger Menschen. Ob Jugendbegegnungen, Freiwilligendienste, grenzüberschreitender Austausch zu Jugendarbeit und Jugendpolitik, Ausbildungs-, Studien- und Praktika-Erfahrungen, ob Kooperationen in der Projekt- und Netzwerkarbeit, ob transnationale Jugendinitiativen oder die Nutzung von Kultur- und Freizeitangeboten: Dies und vieles mehr nehmen junge Menschen grenzüberschreitend als Vorteile der europäischen Integration wahr.

Umso bedenklicher ist es, dass in den letzten 20 Jahren erreichte Fortschritte der europäischen Integration derzeit immer häufiger infrage gestellt werden. Zunehmend führen nationalstaatliche Alleingänge zum Verlust des Sozialen, zur Schwächung der europäischen Gesellschaftsidee, zu Populismus und zur Aushöhlung demokratischer Werte. Die junge Generation leidet am meisten unter diesen Zerfallserscheinungen, wie nicht zuletzt beim britischen Votum für den sogenannten Brexit deutlich geworden ist. Junge Menschen in Großbritannien – und anderswo in Europa – sehen sich mit der Gefahr konfrontiert, um ihre europäischen Möglichkeiten und Freiheiten betrogen zu werden.

Gegen diese Tendenzen gilt es aktiv zu werden. Jugendliche und junge Erwachsene sind gesellschaftspolitisch aktiv und halten ehrenamtliche Tätigkeit auch in den aktuellen Zeiten für wichtig und lohnenswert. Junge Menschen engagieren sich verstärkt in Online-Netzwerken und veränderten Partizipationsformaten, nutzen klassische Beteiligungsformen indessen deutlich weniger, wie die konstant niedrige Beteiligung an Wahlen und Referenden zeigt – zu ihrem eigenen Nachteil. Dort, wo sie sich engagieren, erfahren junge Menschen hingegen allzu oft, dass die Räume für politische und zivilgesellschaftliche Teilhabe (teilweise massiv) eingeschränkt werden und ihre Stimme nicht gehört wird.

Wenn sich junge Menschen von Europa abwenden, weil ihnen gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Teilhabe verwehrt wird, dann wird das europäische Projekt unweigerlich scheitern. Kinder und Jugendliche gilt es als Träger eines europäischen Bewusstseins zu stärken, ihre Stimme hörbar zu machen und ihre Anliegen ernst zu nehmen. Junge Menschen dahingehend zu unterstützen ist eine Aufgabe und Fähigkeit von Kinder- und Jugendhilfe. Sie ist angesichts der derzeitigen Auseinandersetzungen um den Gehalt und die Zukunft des europäischen Einigungsprozesses eine wesentliche Akteurin bei der Stärkung der zivilgesellschaftlichen Dimension Europas und trägt eine Verantwortung für die Entwicklung eines mit Europa verbundenen Gemeinwesens. Dabei geht es um die Schaffung einer lebensweltlichen Realität des europäischen Projektes und die Entwicklung von Räumen der Teilhabe jenseits des Nationalstaates.

Gemeinsam Gesellschaft gerecht gestalten…

… bezieht alle gesellschaftlichen Handlungsfelder mit ein.

Eine Gesellschaft, die die Gestaltung der Chancen für die nachwachsende Generation in den Mittelpunkt stellt, kann nur dann Realität werden, wenn die alltäglichen Lebenswelten, Interessenlagen und Bedürfnisse aller jungen Menschen mit und ohne Behinderung in allen gesellschaftlichen Bereichen Leitschnur des Handelns und Ausgangspunkt für Weiterentwicklungen sind. Nur so kann Inklusion gelingen.

Bildung ist die zentrale Voraussetzung für ein gelingendes Aufwachsen und eine gute Perspektive gesellschaftlicher Integration. Kindertageseinrichtungen, Schulen, die Angebote des Ganztags, Hochschulen und die Angebote der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit müssen einen Beitrag für gerechte Bildungsteilhabe leisten. Die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft entlang der Zielstellung, Chancengerechtigkeit zu schaffen, setzt voraus, dass Wissenschaft, in allen Bereichen gesellschaftliche, technische und administrative Entwicklungskonzepte erarbeitet, die die Bedarfslagen und Zukunftsperspektiven junger Menschen als Ausgangs- und Zielpunkt haben.

Gute Gesundheit ist für alle Kinder und Jugendlichen wichtig. Diese hängt aber noch immer stark von der sozialen Lage der Familien ab. Hier ist das Gesundheitssystem in der Pflicht mit anderen Akteuren diese sozialen Benachteiligungslagen auszugleichen.
Wie kaum ein anderer Bereich prägen Wirtschaft und Arbeit die Bedingungen des Aufwachsens junger Menschen. Im Interesse einer gerecht gestalteten Gesellschaft für alle jungen Menschen muss das ökonomisch Mögliche dem kinder- und jugendpolitisch Gewollten untergeordnet werden. Von der Wirtschaft muss erwartet werden, z. B. was die Bereitstellung von Betreuungsplätzen für Kinder (auch im Schulalter) angeht, nicht nur Nutznießer dieser Angebote zu sein, sondern selbst auch einen entsprechenden gesellschaftlichen und finanziellen Beitrag zu leisten.

Nicht zuletzt ist es die vorrangige Aufgabe von Politik, Perspektiven und gute Rahmenbedingungen für ein gerechtes Aufwachsen aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland zu gestalten. Politik ist auf allen Ebenen gefordert, die Belange von Kindern und Jugendlichen in sämtlichen Politikbereichen bei Entscheidungen zu berücksichtigen und im Zweifelsfall bei Abwägungen prioritär zu bewerten. Die politischen und institutionellen Akteure müssen Verantwortung für 22 Millionen junge Menschen übernehmen und die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen, damit alle jungen Menschen gleiche Chancen haben und zu 22 Millionen Chancen für die Gesellschaft werden. Solange in Freizeit und Kultur, Bildung und Ausbildung, Gesundheit, Wirtschaft und Arbeit, Inklusion und Integration Teilhabemöglichkeiten nicht gerecht verteilt sind, ist es die Aufgabe einer sozialen Politik, durch Umverteilung und Umsteuerung darauf hinzuwirken, dass alle Kinder und Jugendlichen gleiche Chancen haben. Gefordert ist hier insbesondere eine für Familien gerechte Steuer- und Sozialpolitik, aber auch eine Bildungs- und Kulturpolitik, die es sich zum Ziel setzt, soziale Ungleichheiten zu kompensieren, statt sie zu reproduzieren.

… erfordert die Einmischung und Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe.

Im Interesse aller jungen Menschen muss sich die Kinder- und Jugendhilfe in alle gesellschaftlichen Bereiche einmischen. Dabei muss sie mit anderen Bildungsinstitutionen und Leistungsträgern kooperieren und in den Dialog treten – hierfür ist ein gegenseitig wertschätzender Umgang nötig. Die eigenen Angebote müssen dabei stets weiterentwickelt und optimiert werden, im Sinne eines gerechten Aufwachsens.
Dafür müssen junge Menschen an der Ausgestaltung dieser Angebote mitwirken und mitbestimmen können. Umfassende Gestaltungsspielräume für junge Menschen, Beschwerdemöglichkeiten bei allen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe und Ombudschaften müssen zur Selbstverständlichkeit werden. Die Selbstorganisation von jungen Menschen muss gestärkt, Stigmatisierungen und soziale Benachteiligungen weiter abgebaut werden. Dafür ist Inklusion und eine weitere interkulturelle Öffnung der Träger notwendig.
Für die Umsetzung dieser Angebote braucht es qualifiziertes und ausreichendes Personal, das dem gewachsenen Aufgabenspektrum in gesicherten Beschäftigungsverhältnissen begegnen kann. Die Fachkräfte benötigen hierfür zusätzlich zu verlässlichen Möglichkeiten des fachlichen Austausches kontinuierliche Aus- und Weiterbildungsangebote, die Wissen und Kompetenzen für veränderte fachliche Herausforderungen vermitteln. Insbesondere Führungskräfte sollten aufgrund ihrer Verantwortung für die Personal- und Organisationsentwicklung für die erforderliche Sicherung der Fachlichkeit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sensibilisiert und qualifiziert werden. Nur so kann die Nachhaltigkeit der Jugendhilfeangebote gewährleistet werden.
Eine sozialpädagogische Professionalität findet ihren Ausdruck in einem reflektierten und partizipativen Handeln der Fachkräfte, das jungen Menschen Autonomie und Freiräume eröffnet und zugesteht und ihnen eine passgenaue Hilfe und Unterstützung zukommen lässt.

In Hinsicht auf junge Menschen mit Fluchterfahrungen muss die Kinder- und Jugendhilfe ihre Hilfs- und Unterstützungsangebote so weiterentwickeln, dass einzelne Gruppen nicht isoliert werden. Dies bedeutet vor allem für Regionen mit wenig Erfahrung die Schaffung neuer Strukturen für die Unterbringung und Betreuung von unbegleiteten Minderjährigen sowie insgesamt kultursensible Angebote von Schule, Ausbildung und Beruf. Dabei muss der individuell notwendige Schutzraum für Einzelne sichergestellt werden.

Zivilgesellschaftliches Engagement muss als Baustein für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ganz besonders gefördert werden. Dazu bedarf es konkreter Praxis und breitgefächerter Projekte, die Teilhabe und Partizipation, die Entwicklung sozialer Kompetenzen und der Persönlichkeit, Solidarität, demokratisches Bewusstsein, Vielfalt und die Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus fördern.
Da es insbesondere die Beteiligung jungen Menschen im lokalen Raum es ermöglicht, ihr unmittelbares Umfeld und ihre eigene Lebensrealität mitzugestalten, sollten intensive Anstrengungen dahingehend unternommen werden, Kinder- und Jugendbeteiligung auf der kommunalen Ebene konsequent zu verwirklichen.

Des Weiteren muss sich die Kinder- und Jugendhilfe selbst politisch eindeutiger und öffentlicher positionieren – im Interesse ihrer Adressatinnen und Adressaten und in Bezug auf die fachliche Weiterentwicklung ihrer eigenen Leistungen. Hierzu muss sie vorhandene Möglichkeiten wie die Jugendhilfeausschüsse selbstbewusster und jugendhilfepolitisch wahrnehmbarer nutzen.

… ist nicht nur eine nationale, sondern auch eine europäische Aufgabe.

Jugendpolitisches Handeln muss stärker als ein wesentliches Element eines sozialen Europas verstanden werden. Dazu braucht es eine gemeinsame europäische Politik, die junge Menschen in den Mittelpunkt stellt und es sich zur Aufgabe macht, allen Kindern und Jugendlichen ein gelingendes Aufwachsen zu ermöglichen, und sie dazu befähigt, ihr Umfeld aktiv mitzugestalten. Dazu muss sowohl die ressortspezifische als auch die sektorübergreifende jugendpolitische Zusammenarbeit innerhalb Europas verstärkt werden. Eine kinder- und jugendpolitische Gesamtstrategie, die auf einem soliden finanziellen Fundament steht, ist erforderlich.

Freiwilliges Engagement für Europa muss verlässliche Unterstützung erfahren, allen voran durch die Förderung von Jugendarbeit, -organisationen und -netzwerken. Nicht zuletzt braucht Europa auch über 2020 hinaus die Fortführung eines starken und finanziell ausreichend ausgestatteten Jugendprogramms, das die Förderung eines demokratischen und europäischen Bewusstseins und einer aktiven europäischen Bürgerschaft in den Mittelpunkt stellt.

Im Sinne ihrer anwaltschaftlichen Funktion für alle Kinder und Jugendlichen gemäß §1 SGB VIII muss sich die Kinder- und Jugendhilfe der europäischen Dimension ihres Handelns bewusst werden und sich für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene überall in Europa stark machen. Angesichts der hohen Zuwanderung von geflüchteten Menschen nach Europa bedarf es einer selbstbewussten, lösungsorientierten Kinder- und Jugendhilfe, die sich gemeinsam mit anderen europäischen Akteuren für eine weltweit gerechte Gesellschaft einsetzt. Entsprechend sind die Akteure der Kinder- und Jugendhilfe gefordert, sich dafür stark zu machen, dass die Rechte und das Wohlergehen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den politischen Agenden Berücksichtigung finden. Junge Menschen müssen überall einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Ausbildung und Arbeit sowie Möglichkeiten für Freiräume und Autonomie, für Beteiligung und Mitbestimmung, für Lernerfahrungen durch grenzüberschreitende Mobilität sowie für Sicherheit, Schutz und Wohlbefinden erhalten. Dazu muss Kinder- und Jugendhilfe auf europäischer Ebene kooperieren, Bündnisse eingehen und nicht zuletzt auch die eigene soziale Praxis europäisieren.

Die Kinder- und Jugendhilfe muss junge Menschen dazu befähigen, ein sich veränderndes Europa mitzugestalten, kritisches Urteilsvermögen und interkulturelles Verständnis auszuprägen und demokratische Werte zu verinnerlichen. Zugleich sollten sich die Träger der Kinder- und Jugendhilfe aktiv für ein soziales, den Menschenrechten und dem Zusammenhalt verpflichtetes Europa einsetzen und sich offensiv in die politische Auseinandersetzung über die Zukunft der EU einbringen.

 

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 29. September 2016