Soziale Integration junger Menschen

Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

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Die Kernaufgabe der Kinder- und Jugendhilfe liegt laut § 1 SGB VIII in der Förderung der individuellen und sozialen Entwicklung junger Menschen mit dem Ziel einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Die Gemeinschaftsfähigkeit der in einem Gemeinwesen lebenden Menschen bildet die Grundlage sowohl für den Fortbestand als auch die Fortent-wicklung einer Gesellschaft. Integration ist in diesem Zu-sammenhang Aufgabe sämtlicher gesellschaftlicher Kräfte, allen jungen Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, das individuelle Recht auf Teilhabe an den gesellschaftlichen Ressourcen soziale Sicherheit, Bildung, Arbeit, Gesundheit und Kultur zu verwirklichen und auch Entwicklungen der Gesellschaft mit zu gestalten und Verantwortung in ihr zu übernehmen.

Die soziale und berufliche Integration vieler junger Menschen in Deutschland ist jedoch aktuell gefährdet. Insbesondere in großstädtischen Ballungsräumen erreichen bis zu 15 % der Schulabgehenden keinen berufsqualifizierenden Abschluss.

Mit der Unterstützung gelingenden Hineinwachsens in die Gesellschaft leistet Kinder- und Jugendhilfe quer durch all ihre Handlungsfelder einen unverzichtbaren Beitrag zur Integrations-fähigkeit unserer Gesellschaft. Sie ist allein jedoch nicht in der Lage, soziale Benachteiligungen zu verhindern bzw. zu kompensieren. 

Das vorliegende Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ soll den Blick lenken auf aktuelle Herausforderungen der Kinder- und Jugendhilfe und der auf die Lebenslagen junger Menschen einwirkenden Politikfelder.

Individualisierung – Pluralisierung – demografische 
Entwicklung: Auswirkungen auf die Lebensphase Jugend

Die zunehmende Individualisierung und Pluralisierung von Lebensentwürfen bedingt einerseits eine steigende Freiheit bei der Gestaltung des eigenen Lebensweges, geht andererseits aber auch einher mit einer Erosion gesellschaftlich vorgegebener biografischer Orientierungsraster und der damit verbundenen Zuteilung beruflicher Chancen und sozialer Sicherheit. Dies hat zur Folge, dass junge Menschen, die nicht über ausreichende Bildungsvoraussetzungen und Sozialkompetenzen verfügen, Benachteiligungen hinsichtlich ihrer sozialen und beruflichen Integration erfahren. Hier sind Gesellschaft und Politik in besonderem Maß gefordert, Unterstützung zu leisten.
Der in Folge der demografischen Entwicklung sinkende Anteil von Kindern und Jugendlichen an der deutschen Gesamtbevölkerung macht es umso erforderlicher, die soziale und berufliche Integration junger Menschen zu fördern, um möglichst allen jungen Menschen die Chance zu eröffnen, an der Zukunftsentwicklung unserer Gesellschaft mitzuwirken. Die Tatsache, dass Deutschland im internationalen Vergleich beim Ausgleich sozialer Benachteiligung insbesondere im Bildungsbereich schlecht abschneidet, unter-streicht die zukünftigen Herausforderungen.

Der öffentliche Blick auf die Lebensphase Jugend droht verloren zu gehen oder verkürzt zu werden.

Die stärkere Wahrnehmung der Lebensphase Kindheit und der Einbettung von Kindern in Familie hat zu einer Fokussierung der verschiedenen Politikstrategien auf Familie und Kindheit geführt und damit Handlungsoptionen zur verbesserten Förderung, aber auch zum Schutz von Kindern eröffnet, die sowohl im Ausbau der frühen Hilfen als auch im Ausbau der Kindertagesbe-treuungsangebote deutlich werden. Zugleich ist mit dieser Schwerpunktsetzung die Hoffnung verbunden, gesellschaftliche Kreisläufe von sozialer Benachteilung, insbesondere im Bereich der Bildung, ausgleichen zu können. Diese notwendige gesellschaftliche Fokussierung auf Kindheit und Familie geht in Deutschland jedoch häufig einher mit einem Ausblenden der Lebenslage von Jugendlichen, bzw. mit der Verkürzung der Wahrnehmung von Jugendlichen als Problemträger oder Problemmacher. Kritisch ist insbesondere zu bewerten, dass die Formulierung eigenständiger jugendpolitischer Konzepte dabei vernachlässigt wird, in der Annahme, dass eine gute Politik für Kinder und Familien und eine gute Bildungspolitik letztlich Jugendpolitik als eigenständiges Konzept überflüssig machen. Auch das aus demografischer Sicht ins Feld geführte Argument, bei einem sinkenden Anteil junger Menschen an der Gesamt-bevölkerung würden sich Ausbildungsplatzmisere und Arbeits-losigkeitsproblematik für diese Altergruppe geradezu automatisch lösen, kann angesichts der aktuell prekären Lebenslagen vieler junger Menschen keinen Bestand haben. Die AGJ hält es für erforderlich, die Notwendigkeit eigenständiger jugendpolitischer Profilbildung auch und gerade im Interesse einer verbesserten sozialen und beruflichen Integration benachteiligter Jugendlicher anzumahnen. 

Eigenständige jugendpolitische Konzepte und Förder-programme sind für die Zukunft einer Gesellschaft unverzichtbar.

Allein schon die Tatsache, dass die Auswirkungen familien- und kinderbezogener Förderungs- und Unterstützungsangebote nicht mehr die Jugendlichen von heute erreichen, macht es notwendig, sie als eigenständige Zielgruppe und Lebensphase wahrzunehmen. 

Darüber hinaus ist die Jugend als Lebensphase durch spezifische Spannungsverhältnisse zwischen Kindheit und Erwachsenenstatus gekennzeichnet, die weniger als Risiko, sondern viel mehr als Chance begriffen werden müssen.

Die für die Jugendphase typische Orientierungssuche, begleitet von Phasen des Ausprobierens, schafft für die Zukunft von Gesell-schaften notwendige Innovationspotenziale, trainiert den Umgang mit Freiheit und Verantwortung und schafft damit die individuellen und sozialen Voraussetzungen zur Ausfüllung und Weiterent-wicklung einer sozialen und demokratischen Alltagskultur.

Vor diesem Hintergrund sind insbesondere offene Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit für die Entwicklung einer zukunfts-fähigen demokratischen Alltagskultur einer Gesellschaft von unverzichtbarer Bedeutung.

Es ist insofern Kern von Jugendpolitik, Jugendliche bei der Bewältigung ihrer alterstypischen Aufgaben als Handelnde zu verstehen, die sich in der Entwicklung befinden, die sich ihre soziale Umwelt aktiv aneignen bzw. mitgestalten und bei der Erprobung unterschiedlicher Identitätsentwürfe Spielräume zur Auslotung ihrer Möglichkeiten und Grenzen benötigen.

Die Anforderungen an junge Menschen, sich in einem diffuser werdenden Rahmen zu orientieren, steigen ebenso wie die Leistungsanforderungen, die sich mit der erfolgreichen Bewältigung der in dieser Lebensphase angesiedelten Entwicklungsaufgaben verbinden. 

Der Anspruch einer Gesellschaft, soziale und berufliche Integration von Menschen zu fördern und ihrer Ausgrenzung entgegen zu wirken, steht besonders in Bezug auf die Jugendphase vor einer großen Herausforderung.

Die Jugendphase bedeutet für die Gesellschaft die letzte große Chance vor dem Erwachsenenalter, Unterstützungsbedürftigen im Prozess ihres Heranwachsens notwendige Leistungen zur sozialen und beruflichen Integration zur Verfügung zu stellen und so die Wahrscheinlichkeit dauerhaft misslingender sozialer und beruflicher Integration zu verringern. Hierin liegt, neben der Vermeidung gravierender volkswirtschaftlicher Folgebelastungen, ein entschei-dender Beitrag zur Wahrung der Menschenwürde. 

Die Wahrscheinlichkeit sozialer Armuts- und Benachteiligungs-kreisläufe wird nicht nur durch eine aktive Familien- und Bildungspolitik unterbrochen, sie muss ihre Fortsetzung auch und gerade in der Jugendphase finden. 

Jugendpolitische Konzepte für benachteiligte Jugendliche stehen vor der besonderen Problematik, dass die wünschenswerte Förderung durch Familie und gesellschaftliche Institutionen in der Kindheitsphase unzureichend stattfand. Aus der Tatsache, dass eine wirksame Unterbrechung von Armuts- und Benachteiligungskreisläufen durch möglichst frühzeitige Unterstützung und Hilfe für Eltern und Kindern besonders chancenreich ist, darf nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass sich eine solche Hilfe und Unterstützung für junge Menschen in der Jugendphase nicht mehr lohnt und deshalb verzichtbar ist. 

Es darf keine stillschweigende Ausgrenzung von bis zu 15 % der heutigen Jugend geben, die dann zur verlorenen Generation wird.

Gerade in der Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit und den Hilfen zur Erziehung gibt es seit Jahrzehnten ermutigende Beispiele dafür, wie wirksam sozialpädagogische Unterstützungsleistungen die Biografien schulisch und sozial ausgegrenzter Jugendlicher zu verändern vermögen. Dies gilt nicht nur für einen Zuwachs an sozialer Kompetenz und Kreativität, sondern auch für das Erreichen von Schul- und Ausbildungsabschlüssen sowie die Integration in Arbeit, die beispielsweise in der Jugendberufshilfe mit benachteiligten Jugendlichen eine empirisch belegbare Tradition aufweist.

Jugendpolitik bedeutet: Vorrang für Förderung, Nachrang für Sanktionen.

Das allgemeine jugendpolitische Prinzip: Vorrang für Förderung, Nachrang für Sanktionen muss auch im gesellschaftlichen Umgang mit benachteiligten jungen Menschen seine Gültigkeit behalten. 

Auch angesichts abweichenden Verhaltens im Bereich Sucht und Delinquenz muss die Förderung von jungen Menschen weiter Vorrang erhalten. Das schnelle Reagieren auf Sucht und Delinquenz bietet für Jugendliche nur dann einen Anlass zur Veränderung ihrer Biografie, wenn Unterstützung und Förderung die zentrale Orientierung darstellen und notwendige Sanktionen innerhalb dieses Systems mit Augenmaß erfolgen.
Bei der Integration Jugendlicher in den Arbeitsmarkt ist es grundsätzlich wichtig, dass die Förderung und Qualifizierung einen unverzichtbaren Bestandteil der Angebotsstruktur bildet. Die gegenwärtig vielerorts zu beobachtende Tendenz zur reinen Beschäftigung (1-Euro-Jobber) ohne Qualifizierung oder zu Sanktionen in den U-25 Bereichen ist kontraproduktiv und bedarf dringend einer Korrektur. Bei dieser Kurskorrektur sollte vor allem auf die Erfahrungen der Jugendsozialarbeit und Jugendberufshilfe bei der beruflichen Eingliederung von sozial benachteiligten Jugendlichen zurückgegriffen werden, um deren Know-how verbindlich in die Angebotsstrukturen der ARGEn einzubeziehen. 

Beteiligung ist der Schlüssel zur sozialen Integration junger Menschen.

Sozial benachteiligte Jugendliche verfügen vielfach über Biografien, in denen aktive Beteiligung in der Schule oder in der Familie nicht erlebt wurde. Die damit verbundene Unselbstständigkeit und mangelnde Verantwortungsfähigkeit gegenüber sich selbst und anderen stellt neben Armutskreisläufen ein weiteres Hindernis für soziale Integration dar. Die Angebote der Jugend-sozialarbeit sowie der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik für diese Zielgruppe sind deshalb elementar so zu gestalten, dass Beteiligung eine zentrale Rolle spielt. Nur so kann es gelingen, junge Menschen zu aktiven Partnern beim Durchbrechen ihrer individuellen sozialen Armuts- und Benachteiligungskreisläufe zu machen und damit die Zukunftsfähigkeit jugendpolitischer Programme zu erhöhen. Dies bedeutet insbesondere im Umgang mit Jugendarbeitslosigkeit und Jugenddelinquenz eine Abkehr von rein verwaltenden und sanktionierenden Systemen, die letztlich von der Grundannahme ausgehen, dass junge Menschen nur noch unter Zwang lernfähig sind.

Die Überwindung geschlechtsspezifischer Einschränkungen der Handlungsoptionen Heranwachsender erfordert eigenständige jugendpolitische Konzepte.

Für die Ausformung der Geschlechtsrolle spielt die Jugendphase eine prägende Rolle. Die hier erlebten und verinnerlichten geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen eröffnen biografische Handlungsoptionen oder aber schränken diese ein. Insbesondere bei sozial benachteiligten Jugendlichen ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass eine dem freien Spiel der Kräfte überlassene, sozialpädagogisch (z.B. durch Angebote der Jugendarbeit) unbegleitete Entwicklung zur Ausbildung und Verfestigung eher traditioneller und einschränkender Rollenmuster führt. Die Gesellschaft muss sich aktiv dafür einsetzen, dass geschlechts-bezogene Beschränkungen und Benachteiligungen auch auf der Ebene der Entwicklung individueller Selbst- und Weltbilder abgebaut werden bzw. dass derartige Barrieren in den Köpfen der nachwachsenden Generation gar nicht erst entstehen. Die geschlechtsspezifische Jugendarbeit stellt einen unverzichtbaren Beitrag für eine Gesellschaft dar, die ein höchstmögliches Maß an Freiheit der individuellen Lebensentwürfe anstrebt.

Leistungen der Jugendhilfe für junge Menschen dürfen nicht zur Disposition gestellt werden.

Die zum Teil vorhandene Auffassung, Mittel für die Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit als nicht mehr so notwendig anzusehen und diese lieber in Familienförderprogramme oder in kindbezogene Förderprogramme umzuschichten, bedingt einen Verlust von Nachhaltigkeit in Bezug auf die gesellschaftlichen Unterstützungs-leistungen für Kinder, Jugendliche und Familien. Die infolgedessen fehlende Kontinuität sozialer Unterstützungsleistungen im biografischen Verlauf ist kaum begründbar: Das sinnvolle und notwendige Engagement für Kinder wird mit deren Eintritt in das Jugendalter beendet oder zumindest stark reduziert, um dann in der Phase der Familiengründung und bei der Geburt des ersten Kindes wieder verstärkt einzusetzen. Die partiell zu beobachtenden Umschichtungen und Kürzungen in den Bereichen Jugendarbeit, Jugendverbandsarbeit, Jugendsozialarbeit und Hilfen zur Erzie-hung für Heranwachsende wirken kontraproduktiv für eine effektive Kinder-, Familien- und Jugendpolitik. Gleiches gilt für Umschich-tungen zu Lasten der Förderung einer grundständigen Infrastruktur (Jugendarbeit) mit dem Ziel einer Erhöhung der Ausgaben für sanktionierende Systeme. 

Migrationspolitik ohne Jugendpolitik verfehlt ihr Ziel.

Für die Zielgruppe der Jugendlichen mit Migrationshintergrund wiegt die Bedeutung eigenständiger, auf die Jugendphase ausgerichteter Politikkonzepte noch schwerer. Schließlich ist diese überproportional von sozialer Ausgrenzung in Bezug auf Bildung, Ausbildung und Beruf betroffen und weist überdurchschnittlich Belastungen im Bereich Delinquenz aus. Die Gefahr, dass gerade die Gruppe der Jugendlichen mit Migrationshintergrund bei einem Zurückfahren von Förderprogrammen und dem Verzicht auf die Weiterentwicklung von Konzepten auf der Strecke bleibt, ist naheliegend. 

Öffentliche Diskurse über die Lebenslage Jugend, insbeson-dere für sozial benachteiligte Jugendliche, sind nötiger den je.

Die AGJ hält es für erforderlich, die öffentlichen Diskurse über Lebenslagen von Jugendlichen explizit zu führen und nicht mehr, wie zurzeit, als integralen Bestandteil von familien- oder sozialpolitischen Debatten zu behandeln. So ist es z.B. dringend erforderlich, sich bei der starken öffentlichen Aufmerksamkeit auf Armutslagen nicht nur mit der Armut der Eltern oder Kinder auseinander zu setzen, sondern speziell die Auswirkungen von Armut auf Jugendliche mit in den Blick zu nehmen. Gleiches gilt für die bildungs- und migrationspolitischen Debatten, in denen der Fokus meist auf Eltern und Kinder gerichtet wird und spezielle Belastungen, aber auch spezielle Handlungsoptionen in der Arbeit mit Jugendlichen zu kurz kommen.

Das mancherorts öffentlich beklagte Verschwinden von Jugendpolitik als einem eigenständigen Konzept ist auch ein gesellschaftlicher Reflex auf die Tatsache, dass die Jugendhilfe selbst in ihrer Fokussierung Lebenslagen von Jugendlichen in öffentlichen Diskursen zum Teil ausgegrenzt oder auf die Themen Jugenddelinquenz und Jugendarbeitslosigkeit reduziert hat. Die AGJ wird als bundeszentraler Zusammenschluss von Institutionen und Organisationen der freien und öffentlichen Jugendhilfe in ihren Aktivitäten weiterhin darauf hinwirken, mehr Foren für den öffentlichen Diskurs um Lebenslagen von Jugendlichen und Jugendpolitik zu schaffen. Nur wenn es gelingt, ein Konzept von Jugendpolitik zu vertreten, das den allgemeinen Förderbedarf (Orientierung, Erprobung, Grenzerfahrung usw.) junger Menschen politisch akzeptiert vermittelt, wird es möglich, der sozialen Benachteiligung junger Menschen mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.


Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ  Berlin, 9./10. April 2008