Für einen Ausbau der Kinder- und Jugendhilfeforschung

Ein Plädoyer der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe

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Die Kinder- und Jugendhilfe hat sich im zurückliegenden Jahrhundert zu einem eigenen Leistungsbereich und unverzichtbaren Bestandteil der öffentlichen Grundversorgung in Form familienunterstützender, -ergänzender und -ersetzender Hilfen für Kinder und Jugendliche entwickelt. Neben dem öffentlichen Bildungswesen und dem Gesundheitssystem stellt sich inzwischen ein differenziertes und elementares Versorgungs- und Dienstleistungsangebot für Kinder, Jugendliche und ihre Familien mit deutlich über 500.000 Beschäftigten im gesamten Bundesgebiet dar. Der Ausbau der Kinder- und Jugendhilfe, vor allem im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, dokumentiert nicht nur eine quantitative Expansion, sondern spiegelt zugleich auch den gesellschaftlichen Wandlungsprozess sowie den öffentlichen Stellenwert dieses Sozialisationsfeldes. Ohne die Kinder- und Jugendhilfe ist die Bildungs- und Soziallandschaft der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr vorstellbar. Die mit der quantitativen und qualitativen Expansion der Kinder- und Jugendhilfe einhergehenden Entwicklungen und Problemlagen werden bislang allerdings nur unzureichend empirisch beobachtet und dokumentiert. Stand, Entwicklungen und Innovationsbedarf dieses gesellschaftlichen Sozialisationsfeldes geraten bislang nur unzureichend ins Blickfeld wissenschaftlich-systematischer Beobachtungen. Der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe wird die Fortentwicklung weitgehend ohne entsprechende, empirisch abgesicherte Standortbestimmungen empfohlen. Hierin verbirgt sich ein bislang nur wenig thematisierter gesellschaftlicher Missstand.

Um die Kinder- und Jugendhilfe weiter zu konsolidieren, ihre Entwicklungspotentiale fundierter zu eruieren, ihre Angebots- und Leistungspalette nachhaltiger auf die gegebenen Risiko- und Problemlagen zu konzentrieren sowie ihre Organisations- und Personalentwicklung zukunftsorientierter zu steuern, hält die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe den Ausbau der Forschungsbemühungen mit Blick auf die Kinder- und Jugendhilfe auf allen Ebenen für dringend geboten. Auf der Grundlage von Analysen und Materialien der bundesweiten Kinder- und Jugendberichte empfiehlt die AGJ den Trägern und Organisationen der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe zukünftig drei Prozent ihres finanziellen Budgets für grundlagen- wie für praxisbezogene Forschungsvorhaben zu reservieren und sich nachhaltig für die Etablierung von mit den Forschungsinstitutionen gemeinsam getragenen Forschungs-Praxis-Transferstellen zu engagieren.

Eine forschungsoffene Positionierung der Kinder- und Jugendhilfe ist insbesondere vor dem Hintergrund der zu beobachtenden ständigen Veränderungen dieses Handlungsfeldes notwendig, auch weil das gegenwärtig vorliegende empirisch fundierte Wissen über

  • die Organisationsformen und Trägerstrukturen,
  • das in der Kinder- und Jugendhilfe engagierte hauptamtliche und ehrenamtliche Personal,
  • die Adressatinnen und Adressaten, Nutzerinnen und Nutzer sowie Klientinnen und Klienten der Kinder- und Jugendhilfe
  • die akademischen und nicht-akademischen Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten,
  • über die Spezifika und Binnenlogiken der einzelnen Praxis- und Arbeitsfelder sowie
  • den "Outcome" der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe

als nicht ausreichend anzusehen ist. Veränderungen in einzelnen Bereichen erfolgen häufig ohne ausreichende empirische Vergewisserungen. Hierfür trägt sicherlich einerseits die nicht überall und nicht einheitlich etablierte Forschungskultur der wissenschaftlichen Sozialpädagogik eine Verantwortung, die gegenwärtig keine übersichtliche und systematische Auskunft über das bisher vorliegende, empirisch abgestützte Wissen zur Kinder- und Jugendhilfe präsentieren kann. Andererseits ist aber auch festzustellen, dass die Träger der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe die Möglichkeiten externer Beobachtungen nicht hinreichend erkannt haben und zu nutzen wissen.

Auf diesen Tatbestand hat insbesondere der 11. Kinder- und Jugendbericht in dem Berichtsteil der Sachverständigenkommission hingewiesen und eine systematische Erforschung der mittelfristigen und langfristigen Auswirkungen der Angebote und Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe und ihrer Voraussetzungen angemahnt. Dies gilt auch nach Auffassung der AGJ nicht nur für Modell- programme, sondern insbesondere für Regelangebote und Strukturen vor Ort einschließlich der Politiken, Programme und Infrastrukturen im lokalen Kontext. Hierzu gehört ebenfalls ein empirisch fundierter Blick in die Zukunft, wie er in der empirischen Bildungsforschung ebenso wie in der Technologieforschung längst Praxis und die Regel ist.

Gleichwohl seit gut einem Jahrzehnt eine quantitative und qualitative Zunahme in der organisationsbezogenen Jugendhilfeforschung festzustellen ist, hält die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe einen Ausbau der Forschungsbemühungen im Interesse der qualitativen Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe für erforderlich. Dies gilt sowohl für die grundlagenbezogenen, für die praxisentwickelnden und evaluierenden wie auch für die adressaten-, professions- und institutionsorientierte Forschung. Ein besonderes Augenmerk sollte zudem auf die Formulierung und Entwicklung von Längsschnittstudien gerichtet werden.

Ein deutlicher Handlungsbedarf besteht auch im Hinblick auf den effektiven Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis der Jugendhilfe. Diesbezüglich sind sowohl die Transfermöglichkeiten von Forschungsergebnissen auf Seiten der Forschungsinstitutionen als auch die Rezeptionsmöglichkeiten von neuen Erkenntnissen auf Seiten der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe auszubauen. Die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe empfiehlt allen Beteiligten in Forschung und Praxis, sich dringend um diesen Transfer zu bemühen. Erst so kann die Nachhaltigkeit von Forschungsergebnissen im Hinblick auf den jeweiligen Erkenntnisgewinn voll ausgeschöpft werden und ist die Theorie- und Praxisbedeutsamkeit von Forschung langfristig zu evaluieren.


Der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe Berlin, im April 2003