Bildung in Tageseinrichtungen für Kinder

Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe

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Die Diskussion über den Bildungsauftrag in Tageseinrichtungen für Kinder wurde durch die PISA- Studie verschärft, aber durch diese nicht ausgelöst. Das Bundesjugendkuratorium hat in seiner Streitschrift bereits vor der Veröffentlichung der PISA-Studie auf die Bedeutung von Bildungsprozessen in der Jugendhilfe hingewiesen und einen umfassenden Bildungsauftrag formuliert. Auch der 11. Kinder- und Jugendbericht mit seinem Hinweis auf die „Öffentliche Verantwortung für eine Kultur des Aufwachsens“ haben die Notwendigkeit aufgezeigt, sich der Bedeutung und der Wirkung von Bildungsprozessen in Tageseinrichtungen für Kinder zu vergewissern. Die Auseinandersetzungen über die Funktionen, den Stellenwert und die Umsetzung des Bildungsauftrages ziehen sich wie ein roter Faden durch die institutionelle Geschichte der Tageseinrichtungen für Kinder, denn diese haben einen bildungs- und sozialpolitischen Auftrag: Sie sind unverzichtbarer Teil einer sozialen Infrastruktur, der die Lebensbedingungen von Familien erleichtern soll. Sie erfüllen den Auftrag des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, der allen Kindern das Recht auf Bildung und Chancengleichheit ermöglichen will. Der spezifische Auftrag der Tageseinrichtungen nach Bildung, Er- ziehung und Betreuung spiegelt die ganzheitliche Herangehensweise, die sich in verschiedenen Konzepten niederschlägt und bei freien und öffentlichen Trägern der Jugendhilfe umgesetzt wird.

Die bildungs- und sozialpolitische Funktion der Tageseinrichtungen ist fachlich unstrittig. Die reale politische Steuerung allerdings ist von erheblichen Zielkonflikten, insbesondere seit der Umsetzung des Rechtsanspruches gekennzeichnet. Die öffentlichen Jugendhilfeträger können aufgrund der anhaltenden Finanzkrisen der öffentlichen Haushalte keine weiteren Kostensteigerungen verkraften. Dadurch besteht die Gefahr, dass die für die Umsetzung des Bildungsauftrages notwendigen Rahmenbedingungen nicht aufrecht erhalten oder nicht mehr geschaffen werden können. Damit Bildungspotentiale der frühen Kindheit aber nicht ungenutzt bleiben, müssen frühkindliche institutionelle Bildungsprozesse systematischer und zielgerichteter gesteuert werden. Daher genügt es nicht, nur den familienpolitisch notwendigen Ausbau einer bedarfsgerechten Angebotsstruktur zu vollziehen. Vielmehr müssen die Umsetzung des Bildungsauftrages und das Herstellen von Chancengleichheit stärker in den Vordergrund rücken.

Zwei Ergebnisse der PISA-Studie führten zu einer drastischen Kurskorrektur in der öffentlichen Diskussion über Kindertageseinrichtungen:

  1. Das Versagen in der Schule ist Ergebnis eines „mehrjährigen akkumulativen Wissensverlustes“, der bereits im frühen Kindesalter beginnt.
  2. Das „System Schule“ ist nicht in der Lage, familiär bedingte Nachteile auszugleichen und Chancengleichheit herzustellen.

Diese „Defiziterkenntnisse“ rücken die sozial- und bildungspolitischen Ziele des Kinder- und Jugendhilfegesetzes wieder in den Vordergrund. Eine frühe ganzheitliche Förderung in den Tagesein- richtungen soll allen Kindern gleiche Bildungschancen ermöglichen.

Sie bestätigen aber auch die Forderung nach einer qualifizierteren und verlässlicheren Umsetzung des Bildungsauftrages.

Die Ergebnisse der PISA-Studie sowie der 11. Kinder- und Jugendbericht, die Ergebnisse des Forum „Bildung“ und die Streitschrift des Bundesjugendkuratoriums kommen, wenn auch aus unter- schiedlicher Perspektive, im Kern zu vergleichbaren Ergebnissen. Sie heben die Bedeutung der frü- hen Bildungsförderung im Elementarbereich hervor und reklamieren eine bessere Umsetzung.

Offensichtlich ist die aufgeregte Diskussion um die PISA-Studie beendet. Auf dem Tisch liegt eine Palette unterschiedlicher Vorschläge. Eine umfassende Reform ist allerdings nicht in Sicht. Für den weiteren Diskussionsprozess über Auftrag, Strukturen und Zuordnung sind aus der Sicht der AGJ folgende fachliche und sozialpolitische Eckpunkte zu beachten:


1. Bildung von Anfang an

  • Bildung wird (im Humboldt’schen Sinne) als „Aneignung von Welt“ begriffen.
  • Aktuelle Ergebnisse der Neuro-Wissenschaft (Hirnforschung) und der Entwicklungspsychologie definieren Bildung als sozialen Prozess, der jeweils im Kontext stattfindet und an dem sich neben dem Kind auch die Eltern, die Fachkräfte und andere aktiv beteiligen. Bildung wird damit als kokonstruktiver Prozess verstanden, der unter Berücksichtigung des familiären, kulturellen und ethnischen Hintergrundes des Kindes erfolgt.
  • Eltern sowie Erzieherinnen und Erziehern und zu einem späteren Zeitpunkt auch Lehrern kommt vor diesem Hintergrund eine zentrale Verantwortung zu.
  • Diese bezieht sich auf zwei zentrale Punkte: Die Gestaltung der Umwelt des Kindes und die Gestaltung der Interaktion mit dem Kind.
  • Bildung ist ein lebenslanger Prozess. Von der Kindertageseinrichtung initiierte Bildungs- prozesse können als gelungen betrachtet werden, wenn sie die Breite der mitgebrachten Anlagen des Kindes für gesellschaftlich legitimierbare und zukunftsfähige Themen ausschöpfen, das heranwachsende Kind in Beziehung wechselseitiger Anerkennung sozial verankern und Entwürfe für ein aktives und an individuellen Glückserwartungen orientiertes Leben ermöglichen.

2. Chancengleichheit durch den Besuch von Tageseinrichtungen für Kinder (Integration)

  • Benachteiligung wird frühzeitig erkannt und entsprechende Gegenmaßnahmen eingeleitet
  • Gender Mainstreaming wird als integrales Prinzip gesehen und berücksichtigt
  • Kinder von Migranten werden an die deutsche Kultur herangeführt und deutschen Kindern werden andere Kulturen nahegebracht
  • Kinder mit verschiedenen Behinderungen werden integriert und gezielt gefördert
  • Kindern wird die Vielfalt von Lebens- und Kommunikationsformen vermittelt
  • Kinder lernen, sich mit Kindern und auch Erwachsenen auseinander zu setzen.

3. Bildung ist mehr als Lernen

  • Die Entwicklung und Förderung sozialer Kompetenzen als Grundlage von Bildungsprozessen (vgl. Modellprojekt „Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen“)
  • Die Ausgestaltung und Differenzierung emotionaler Kräfte als Grundlage zum Aufbau von sozialen Beziehungen
  • Die Befähigung des Kindes, mit Belastungen, Übergängen, Veränderungen und Krisen so umzugehen, dass es darin Herausforderungen erblickt und seine Kräfte mobilisiert, die ihm eine erfolgreiche Bewältigung ermöglichen
  • Förderung von Lernprozessen und Lernkompetenzen, Methoden, die nicht nur das Lernen selbst fördern, sondern auch das Lernen des Lernens
  • Die körperliche Entwicklung und Förderung der Bewegungsfreude
  • Die (Aus)bildung der Sinne als Grundlage für differenzierte und sensible Wahrnehmung
  • Die Entwicklung und Stärkung der Fähigkeiten wie z. B. Aufmerksamkeit, Konzentration, Gedächtnis, Kreativität sowie der Problemlöse- und Orientierungsfähigkeit
  • Die Förderung kreativer Ausdrucks- und Darstellungsformen (Kunst, Musik etc.).
  • Der Aufbau einer Beziehung zur Natur und Umwelt
  • Die Förderung des Verständnisses von alltäglichen Sachzusammenhängen
  • Sprach- und Kommunikationsförderung
  • Förderung des Interesses an und die Vermittlung der Bedeutung des Schriftguts (preliteracy)
  • Vermittlung von mathematischen und naturwissenschaftlichen Zusammenhängen (numera- cy); Kompetenz im Umgang mit Medien und neuen Technologien.


4. Bildung als Teil der Jugendhilfe

  • Tageseinrichtungen haben nach dem KJHG einen eigenständigen Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsauftrag (§ 22, Abs.2)
  • Sie leisten einen erheblichen Beitrag zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf
  • Durch das Wunsch- und Wahlrecht der Eltern (§ 5 KJHG) kann eine fruchtbare Kooperation bei der gemeinsamen Bildung, Erziehung und Betreuung erfolgen
  • Gemäß des Auftrags der Jugendhilfe zur Verbesserung der Lebensbedingungen von jungen Menschen (§ 1, Abs.3 KJHG) gehört die aktuelle Analyse von gesellschaftlichen Entwicklungen zu ihren Aufgaben und es ist eine Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen, insbesondere in Bezug auf die Vorbereitung von Übergängen der Kinder, wie z.B. von Kindertageseinrichtungen in die Schule, selbstverständlich
  • In diesem Zusammenhang werden Bildungsziele permanent reflektiert und ggf. aktualisiert
  • Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse werden bei der Konzept(weiter)entwicklung berücksichtigt

5. Methodische Umsetzung der Bildungsinhalte

Der spezifische Auftrag an Bildung in Tageseinrichtungen erfordert entsprechende Methoden und Prinzipien:

  • Ausgangspunkt ist die individuelle Entwicklungs- und Lerngeschichte jedes Kindes
  • Bildungsinhalte werden verknüpft mit aktuellen Interessen und Bedürfnissen der Kinder
  • Bildung erfolgt anschauungs- und handlungsbezogen, sie muss entwicklungs- und kompetenzfördernde Interaktionen enthalten
  • Die selbstständige Bewältigung des Alltagslebens ist zentrales Ziel der Bildung in Tageseinrichtungen
  • Methodisch kommt dem Spiel eine Schlüsselrolle zu, bei dem das Kind sich mit seiner Umwelt auseinandersetzt und die Realität bewältigen lernt
  • Lernsituationen ergeben sich aus dem Lebenszusammenhang und lassen sich nicht nach Entwicklungsbereichen unterteilen (ganzheitliche Förderung)
  • Anregung, Forderung und Förderung sowie Entspannungs- und Ruhephasen müssen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen und den individuellen Bedürfnissen und Interessen des Kindes gerecht werden
  • Unterschiedlich begabte Kinder werden individuell gefördert, tragen jedoch alle auch gemeinsam Verantwortung für die Weiterentwicklung der Gruppe.

Schlussfolgerungen:

  1. Die notwendige Bildungsreform setzt einen höheren Mitteleinsatz gerade im Elementarbereich voraus, ebenso wird sie ohne eine veränderte Finanzierungsstruktur kaum umsetzbar sein. Die jüngsten Veröffentlichungen über den Steuerausfall der Kommunen sind alarmierend und dürfen nicht dazu führen, die notwendige bildungspolitische Schwerpunktsetzung in Frage zu stellen.
  2. Vor dem Hintergrund dieser prekären Situation ist aus der Sicht der AGJ ein bundesweites und trägerübergreifendes Bündnis notwendig, das entsprechende Reformvorschläge zur Finanzierung entwickelt.
  3. Die Träger müssen die Bildungsqualität in den Tageseinrichtungen offensiv steuern. Die Einrichtungen sind entsprechend zu unterstützen. Das pädagogische Personal benötigt einen verbindlichen Orientierungsrahmen zu den Bildungs- und Erziehungsinhalten.
  4. Eine sozialräumlich und lebensweltorientierte Bildungsarbeit in Tageseinrichtungen ist zu unterstützen. Die Übergänge für die Kinder in die institutionelle Bildung im Bereich der Schule ist zu erleichtern.
  5. Im Kontext der Weiterentwicklung der Zusammenarbeit mit den Eltern sollte die Entwicklungs- und Bildungsplanung für die Kinder mit den Eltern abgestimmt werden. Entwicklungsprozesse der Kinder müssen dokumentiert und die Bildungsarbeit der Einrichtung evaluiert werden.


Der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe Berlin / Erfurt, 25./26. September 2002