Neuer Schwung für die Jugend Europas

Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe zum Weißbuch der Europäischen Kommission

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I. Grundsätzliches

Die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ) begrüßt die Veröffentlichung eines Weißbuchs der Europäischen Kommission zum Thema Jugend[1]. Die AGJ betont, dass einzelne Themenbereiche in diesem Weißbuch im Rahmen des Diskussions- und Konsultierungsprozesses einer Konkretisierung und Weiterentwicklung bedürfen.

Mit dem Weißbuch der Europäischen Kommission „Neuer Schwung für die Jugend Europas“ rückt das Thema ‚Jugend’ erstmals über die bisherigen Einzelmaßnahmen hinaus in den Fokus europäischer Politik.

Jugendpolitik wird als Querschnittsaufgabe verstanden. Damit wird die Chance eröffnet, dass die Belange Jugendlicher auch in politischen Feldern Berücksichtigung finden, die gängiger Weise nicht der Jugendpolitik subsumiert werden, obwohl sie die Lebenssituation junger Menschen betreffen. Damit wird Jugendpolitik ungeachtet der nationalen und regionalen Zuständigkeiten in der tatsächlichen Ausgestaltung auch als europäisches Thema begriffen.

Es ist mit dem Weißbuch jedoch noch nicht gelungen, Jugendpolitik auf europäischer Ebene so weit zu verankern, dass daraus neben den nationalen und regionalen auch eine europäische politische Verantwortung resultiert. Hier wird der Diskussionsprozess noch weiter zu führen sein, denn eine mit den entsprechenden nationalen Zuständigkeiten harmonisierte Jugendpolitik wäre ein wichtiger Baustein zur Weiterentwicklung der Europäischen Union hin zu einer sozialen Gemeinschaft.

Mit dem breit angelegten Konsultationsverfahren zur Erstellung des Weißbuchs wurde ein neuer Weg eingeschlagen. Es war der Versuch, die Belange, Vorstellungen und Anliegen der unmittelbar betroffenen Zielgruppe sowie der jugendpolitischen Strukturen direkt und unmittelbar in den Prozess einfließen zu lassen. Die Veröffentlichung des Weißbuchs ist wesentlich dieser Konstruktion und den damit geweckten Erwartungen zu verdanken.

Das Problem, wie zukünftig offene Beteiligungsformen, jugendpolitische Vertretungsstrukturen und formale Politikzuständigkeiten auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene zur Deckung gebracht werden können, ist allerdings bislang noch nicht zufriedenstellend gelöst.
Vor diesem Hintergrund ist es insbesondere zu bedauern, dass die bestehenden jugendpolitischen Strukturen der Nationalstaaten im Weißbuch nicht hinreichend gewürdigt wurden.

Einführende Informationen zu jugend(hilfe)politischen Strukturen und den unterschiedlichen Lebenssituationen von jungen Menschen in den einzelnen Mitgliedsstaaten wären sicherlich hilfreich gewesen. Sie hätten zum besseren Verständnis des Weißbuchs beitragen und sowohl die nationale als auch die europäische Diskussion befruchten können.

Die eigentlichen Kernaussagen des Weißbuchs bleiben relativ kurz und sind in ihrem wesentlichen Inhalt konsensfähig. Die vorgeschlagenen Mittel und Instrumentarien gilt es jetzt zu konkretisieren, an einigen Stellen gibt es allerdings auch noch grundsätzlichen Diskussionsbedarf.


II. Themenspezifische Anmerkungen

Die folgende Auflistung der Themen orientiert sich an der Reihenfolge ihrer Erwähnung im Weißbuch:

Instrumentarien

Es ist zu begrüßen, dass die Europäische Kommission einige konkrete Vorschläge unterbreitet, wie auf der Ebene der europäischen Institutionen dem Querschnittsbereich ‚Jugend’ und damit dem Thema die entsprechende Bedeutung zugemessen werden kann. Die AGJ begrüßt die angestrebte Verankerung von Jugendpolitik innerhalb der europäischen Kommission und fordert deren zeitnahe und adäquate Umsetzung.

Die AGJ hält die offene Methode der Koordinierung grundsätzlich für ein sinnvolles Instrument der Zusammenarbeit. Zu gewährleisten ist jedoch eine transparente, nachvollziehbare und legitimierte Einbindung von Jugendlichen in Form offener Beteiligungsprozesse, eine entsprechende Einbindung von etablierten Vertretungsstrukturen der Jugend und eine Harmonisierung mit den originären jugendpolitischen Vertretungsstrukturen. Darüber hinaus muss die Rolle des Europäischen Parlaments in diesem Verfahren deutlich gestärkt werden.
Die offene Methode der Koordinierung darf nicht dazu führen, dass gleichsam auf dem Verfahrensweg die geltenden Kompetenzregelungen für die Jugendpolitik unterlaufen werden. Sie muss ausführlich diskutiert und regelmäßig evaluiert werden.

Die konkreten Instrumentarien zur Realisierung der Querschnittspolitik bleiben unklar. Eine Festlegung von Informations- und Mitsprachekompetenzen der Europäischen Kommission und des Jugendministerrats im Sinne einer Querschnittspolitik ‚Jugend’ ist wünschenswert.

Partizipation

Ein entscheidender Punkt des Weißbuchs ist die (nicht neue) Erkenntnis, dass sich junge Menschen an Politik beteiligen und an gesellschaftlichen Entwicklungen aktiv teilhaben wollen, die tatsächlichen Einflussmöglichkeiten aber als gering eingeschätzt werden. Es ist zu begrüßen, dass Partizipation als Thema und Methode an zentraler Stelle steht.

Partizipation von jungen Menschen muss auf allen Ebenen sichergestellt sein und darf nicht zu einer ‚Alibifunktion’ verkommen. Es muss eine tatsächliche inhaltliche und strukturelle Einflussnahme auf politische Entscheidungen ermöglicht werden. Auch dann, wenn die Vorstellungen und Anregungen junger Menschen auf Grund der unvermeidlichen Güterabwägung keine oder keine hinreichende Berücksichtigung finden, ist es Verpflichtung, durch entsprechende Informationen die Beweggründe dafür offen und einsichtig zu machen, damit Jugendliche ernst genommen werden und die politischen Entscheidungen für sie nachvollziehbar werden.

Durch partizipatorische Prozesse sollen keine Parallelstrukturen zu den bestehenden jugendpolitischen   Strukturen   aufgebaut   werden.  Dennoch  ist  es  notwendig,  das  Konfliktfeld ‚verbandliche Strukturen’ und ‚nicht verbandlich organisierte Jugendliche’ genauer zu beachten. Es muss ein Weg gefunden werden, wie die jugendpolitische Verbandsarbeit sinnvoll ergänzt und entwickelt werden kann, mit dem Ziel den Kreis von politisch interessierten und engagierten jungen Menschen zu vergrößern. Es bedarf der vermehrten Anstrengung, sogenannte benachteiligte Jugendliche einzubeziehen.

Information über Europa

Information ist eine notwendige Voraussetzung zur Partizipation. Das Thema muss also eine hohe Gewichtung erfahren. Der alleinige Verweis auf ein Internetportal ist unzureichend. Es muss auch eine Form der Vermittlung gefunden werden, die nicht nur ‚passiv’ ist und auf das Tätigwerden des Einzelnen gestützt ist. Das ist nicht zuletzt von zentraler Bedeutung für bildungsferne bzw. sozialbenachteiligte junge Menschen. Die Einbeziehung von Schulen und Jugendhilfeeinrichtungen ist in diesem Zusammenhang unbedingt zu gewährleisten.

Jugendforschung und Berichterstattung

Jugendforschung und Berichterstattung sind unverzichtbare Informationsgrundlagen für eine europäische Jugendpolitik. Es muss hier eingefordert werden, dass die entsprechenden Ressourcen dazu aufgebaut werden. Als eine Grundlage sollte regelmäßig ein Bericht zur Lage der Jugend in Europa vorgelegt werden. Dabei sind die vorhandenen Daten und Forschungsinstrumente der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen und einzubinden.

Bildung, lebenslanges Lernen und Mobilität

Zu begrüßen ist die Hervorhebung des Stellenwerts der nicht-formalen und informellen Bildung als unverzichtbare und gleichwertige Teile des Lernens neben dem formalen Wissenserwerb. Im übrigen bleibt die Darstellung im Verhältnis zum Stellenwert des Themas für junge Menschen auffallend allgemein. Der Bildungsbegriff bleibt undifferenziert und an keiner Stelle wird Bezug  auf eine notwendige Zielgruppenspezifik genommen. Das grundlegende Recht der Jugend auf Bildung und die umfassende Förderung ihrer Fähigkeiten wäre prononcierter zu fassen, Anforderungen an die Institutionen formaler Bildung als Lebensorte junger Menschen zu präzisieren. Eine bessere Kooperation von formalen und nicht-formalen Bildungseinrichtungen ist dabei unbedingt zu unterstützen, die sinnvolle Zertifizierung von nicht-formaler Bildung ist anzustreben.

Freiwilligendienst und ehrenamtliches Engagement

Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass das Weißbuch den hohen Stellenwert des längerfristigen Europäischen Freiwilligendienstes (EVS) hervorhebt. Genauso wichtig erscheint es allerdings auch den Bereich des Ehrenamtes zu erwähnen, der gerade in den Strukturen der Jugendarbeit von großer Wichtigkeit ist. Insbesondere seine Bedeutung für die Stabilität und die Weiterentwicklung der demokratischen Gesellschaften in Europa müssen in den Blick gerückt werden. Es wäre sinnvoll, eine genaue internationale Begriffsbestimmung von Freiwilligendienst und Ehrenamt vorzunehmen. Das Augenmerk ist auch im Bereich Freiwilligendienst / Ehrenamt stärker auf sozial benachteiligte junge Menschen zu richten.

Beschäftigung

Die Aussagen zur Beschäftigung sind erfreulich konkret und können im Zusammenhang mit denen zur sozialen Integration gesehen durchaus als allgemeine Bezugspunkte für eine Politik zur beruflichen Integration junger Menschen dienen. Hier kommt zum Ausdruck, dass die Europäische Union bereits seit vielen Jahren im Rahmen eigener Förderprogramme gerade die Beschäftigung benachteiligter junger Menschen institutionalisiert hat, so dass hier auch greifbare und konkrete Erfahrungen und Strukturen vorhanden sind.

Soziale Integration

Im Hinblick auf die soziale Integration sollten migrationsbedingte Integrationsprobleme junger Menschen sowie die Bekämpfung von Armut deutlicher in den Vordergrund rücken. Sie sind primär auch als Herausforderung an die Jugendpolitik im engeren Sinne zu betrachten und nicht nur als Thema von Mobilisierungsmaßnahmen gegen Fremdenfeindlichkeit und für Toleranz.

Autonomie Jugendlicher

Die Ausführungen zur Autonomie Jugendlicher sind zu unbestimmt. Es geht hier offensichtlich um eine materielle und soziale Mindestsicherung aller jungen Menschen, aber auch um bestimmte Handlungsfreiheiten, die ggf. in einem Spannungsverhältnis zu Standards des sozialen Schutzes etwa von Minderjährigen stehen. Hier besteht noch erheblicher Klärungsbedarf. Die vorgeschlagene Zusammensetzung der ‚High-Level-Gruppe’ ist mit den Strukturen der Mitgliedsstaaten abzustimmen.

Finanzielle Dimension des Weißbuchs

Die im Rahmen des Weißbuchs vorgeschlagenen Initiativen bedürfen einer finanziellen Unterstützung durch die Europäische Union, diese sollte zusätzlich zur Verfügung gestellt werden und darf nicht zu Lasten bestehender Programme (z.B. JUGEND) gehen.


III. Schlussfolgerungen

Die bundesdeutsche jugend(hilfe)politische Debatte, die durch die Veröffentlichung des Weißbuches herausgefordert wurde, muss anhand von drei zentralen Fragestellungen weitergeführt werden:

  • Geht es um Jugendpolitik in Europa oder um eine europäische Jugendpolitik? Wie ist das gemeinsame Ziel, die Situation von Jugendlichen nachhaltig zu verbessern, zu erreichen?
  • Wie kann sowohl die Beteiligung von organisierter Zivilgesellschaft als auch die direkte Beteiligung von jungen Menschen transparent und nachvollziehbar gestaltet und demokratisch legitimiert werden? Wie ist eine solche Beteiligung mit den institutionalisierten politischen bzw. jugendhilfepolitischen Vertretungsstrukturen zur Deckung zu bringen?
  • Was ist genau unter der offenen Methode der Koordinierung zu verstehen? Es muss geklärt werden, ob die offene Methode der Koordinierung zur Neuordnung von Kompetenzen, oder zur Qualifizierung der Zusammenarbeit im Rahmen bestehender Kompetenzen führt.


Das Weißbuch ist ein wichtiger Meilenstein zur Weiterentwicklung einer gemeinsamen Jugend(hilfe)politik in Europa. Es bedarf auf nationaler Ebene einer umfassenden Vermittlung der Inhalte des Weißbuchs und einer Umsetzungsstrategie für die dort beschriebenen Vorschläge.

Der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe Berlin, den 09./10.04.2002


[1] Die Alterspanne, die dem Begriff Jugend im Weißbuch zugrunde liegt, beträgt 15 bis 25 Jahre.