Kontrolle als Teil fachlichen Handelns in den sozialen Diensten der Kinder- und Jugendhilfe

Fachausschusses VI „Sozialpädagogische Dienste, erzieherische Hilfen“ der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ

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1. Wie viel staatliche Kontrolle ist gewollt und erlaubt? Aktuelle Fälle von massiven Vernachlässigungen und Misshandlungen von Kindern - teilweise mit Todesfolge - werden medial breit erörtert und lassen Rufe nach stärkerer Kontrolle von Familien bzw. Eltern durch die Jugendhilfe lauter werden. Kernfrage der Diskussion um Kontrolle und Intervention in den sozialen Diensten der Kinder- und Jugendhilfe ist daher, inwieweit der Staat vor dem Hintergrund des SGB VIII geeignet und legitimiert ist, das Handeln von Familien zu kontrollieren (siehe Vorschläge zur verpflichtenden Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen und erleichterte Auskünfte aus dem Bundeszentralregister für Jugendämter). Hierzu gehört auch die selbstkritische Prüfung, inwieweit sich die Berufsgruppe der Sozialpädagoginnen und -pädagogen aufgrund eigener Unsicherheiten in der berufsethischen Grundhaltung hinter dem Verweis auf das Grundgesetz versteckt. Hier ist die Jugendhilfe selbst gefordert, Positionen zu entwickeln. Auch mit einer stärkeren Kontrolle von Kindern und ihren Familien durch die sozialen Dienste der Kinder- und Jugendhilfe wird nicht jede Gefährdungslage junger Menschen erkannt werden. Kontrollsysteme sind da angezeigt, wo sie ermöglichen, tatsächlich Indikatoren für Gefährdungslagen zu liefern, auf die die Jugendhilfe dann Antworten (Angebote der Prävention und konkrete Hilfeangebote in Form von Leistungen und / oder Interventionen) geben muss.


2. Kontrollmechanismen sind ebenso wie Leistungen nach dem SGB VIII / KJHG konstitutive Elemente des professionellen Handelns sozialer Dienste der Kinder- und Jugendhilfe. „Leistung“ und „Kontrolle“ sind in den sozialen Diensten der Kinder- und Jugendhilfe gleichermaßen als Hilfe zu verstehen. Die Struktur der Arbeit sozialer Dienste ist durch die Gleichzeitigkeit von Leistung und Kontrolle als Hilfeform geprägt. Die sozialen Dienste der Kinder- und Jugendhilfe beinhalten neben reinen Leistungsangeboten auch kontrollierende Instrumentarien; Fachkräfte sozialer Dienste der Kinder- und Jugendhilfe sind daher Träger eines „doppelten Hilfemandats“ im Sinne eines Anwalts der Hilfebedürftigen, aber auch als Kontrolleure im Auftrag des Staates. 


3. Einen Paradigmenwechsel in der Kinder- und Jugendhilfe dahingehend, dass „Leistung als Hilfe“ durch „Kontrolle als Hilfe“ ersetzt werden solle, gibt es nicht. Feststellbar ist eine Unsicherheit im Spannungsfeld von Leistung und Kontrolle als Hilfe, die durch die Dienstleistungsdebatte der letzten Jahre verstärkt wurde. In der Kinder- und Jugendhilfe gab es immer wieder Phasen, in denen das Verhältnis von Leistung und Kontrolle auf den „Prüfstand“ gestellt und im fachlichen Diskurs weiterentwickelt und neu austariert wurde (etwa die durch Fürsorgeskandale ausgelösten Diskussionen im letzten Jahrhundert wie z.B. die Heimkampagne).


4. Das Selbstverständnis und die Haltungen der Träger und Fachkräfte sozialer Dienste in der Kinder- und Jugendhilfe müssen überprüft und die konzeptionelle Weiterentwicklung der Hilfeangebote gefördert werden. Forderungen nach mehr „Kontrolle“ in der Kinder- und Jugendhilfe werden aktuell in erster Linie von außen (seitens der Politik, der medialen Öffentlichkeit und anderer Institutionen wie Polizei, Justiz etc.) an die Profession herangetragen. Leistungen und Kontrollmechanismen berühren als konstitutive Elemente professionellen Handelns der sozialen Dienste (s. o.) das Selbstverständnis der Träger und  Fachkräfte des Sozialdienstes der Jugendhilfe. Wie geklärt ist deren Verhältnis zu Fragen der Kontrolle vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen der 60er und 70er Jahre des vorherigen Jahrhunderts und der zunehmenden Akademisierung des Feldes, durch die die derzeitige Generation von Professionellen geprägt wurde? 

Die aktuelle Debatte um mehr „Kontrolle“ sollte von der Fachlichkeit der Kinder- und Jugendhilfe als Chance genutzt werden, die eigenen theoretischen Konzepte kritisch und unter Einbeziehung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse zu überprüfen. Professionelles Handeln bedarf stetiger Reflexion der eigenen sozialpädagogischen Konzepte, Methoden und der dahinter stehenden Grundannahmen. Neue Konzepte sind derzeit z. B. für die Arbeit und den Umgang der Jugendhilfe mit Säuglingen, Kleinkindern und deren Eltern zu entwickeln. Neue fachliche Akzentuierungen in der Arbeit sozialer Dienste der Kinder- und Jugendhilfe müssen ggf. entwickelt und „zugelassen“ werden (z. B. die Frage: Gilt der Grundsatz „Leistung vor Kontrolle als Hilfe“ stets in jedem Fall?). 


6. Differenzierung zwischen der öffentlichen und der freien Jugendhilfe ist notwendig. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe hat eine herausgehobene Verantwortung und besondere Aufgabe im Kontext von Kinderschutz und beim Einsatz kontrollierender Mechanismen. Dies spiegelt sich u. a. in § 8a SGB VIII wieder, der deutlich macht, dass zwar auch Einrichtungen und Dienste der freien Jugendhilfe einen Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung haben, sie aber zur Risikoeinschätzung und Wahrnehmung dieses Auftrages nach § 8a SGB VIII nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar durch Vereinbarungen mit dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe, verpflichtet werden können.    


7. Fachlichkeit bedarf einer „Organisationskultur“ von formalen und informellen Strukturen und Handlungs-mechanismen der Organisation. Fachliche Arbeit der sozialen Dienste im Spannungsfeld von Prävention, Kontrolle und Intervention ist stets eingebunden in die „Organisation“ Jugendamt. Die individuelle Arbeit der einzelnen Fachkraft wird als Teil bzw. Mitglied dieser Organisation erbracht. Probleme und Mängel in der jeweiligen Organisationsgestaltung und -struktur müssen daher ebenso wie angeblich „individuelle“ Fehler zur Kenntnis genommen, analysiert und jeweils in Beziehung gesetzt und als Chance zur Weiterentwicklung verstanden werden. Kontrollierende Mechanismen und Instrumentarien sind in den meisten Jugendämtern eingebunden in Dienstanweisungen, Handlungs-empfehlungen und Leitlinien, die sich orientieren an konkreten Verfahrensanforderungen an die Fachkräfte und nicht nur der fachlichen Leitorientierung, sondern auch der rechtlichen und administrativen Absicherung dienen sollen. Leitlinien, strukturierte Verfahren und nachvollziehbare Dokumentation der Verfahrens-abläufe ergeben mehr Handlungssicherheit und sind daher im Sinne einer Qualitätsentwicklung und -verbesserung der gesamten Organisation auszubauen und stetig weiter zu entwickeln. Am Ende müssen sie sich an der Frage messen lassen, ob sie dem Kindeswohl dienen oder der Absicherung der eigenen Person und Organisation.


8. Transparenz und Partizipation sind entscheidende Faktoren für gelingende Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe. Es gilt, das Handeln der Fachkräfte im Jugendamt, insbesondere auch deren Austausch mit anderen Professionen und Institutionen, für Nutzerinnen und Nutzer transparenter zu gestalten und parallel ein externes Beschwerdemanagement im Sinne eines „Verbraucher-schutzes“ in der Jugendhilfe aufzubauen. Kontrollmechanismen innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe müssen nach außen sichtbar und ihr pädagogischer Sinn nachvollziehbar und verstehbar sein.

 

AGJ-Fachausschuss VI „Sozialpädagogische Dienste, erzieherische Hilfen“ 
Berlin, im April 2007