„Kurz vor dem Zieleinlauf – Weiterentwicklungschancen im SGB VIII nutzen“

Stellungnahme zum KJSG-RegE 2020 der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ [1]

Stellungnahme als PDF

Unter dem Titel „Was lange währt, wird endlich gut“ hat die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ bereits zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (KJSG-RefE 2020) Stellung genommen. Sie sieht in der Reform eine wertvolle fachliche Weiterentwicklung des Kinder- und Jugendhilferechts. Als besonders unterstützungswürdig betrachtet die AGJ die inklusive Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe, obgleich sie sich einen schnelleren und mutigeren Schritt zur Zusammenführung der Zuständigkeit der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderung unter dem Dach des SGB VIII gewünscht hätte. Auch durch die Betonung der Subjektstellung der Adressat*innen, die Stärkung ihrer Beratungs- und Beteiligungsrechte, die rechtliche Sicherung von Ombudsstellen und Förderung der Selbstvertretung ihrer Adressat*innen sieht sie fachliche Wesensmerkmale der Kinder- und Jugendhilfe nochmals positiv im Recht hervorgehoben.

In dem vom Bundeskabinett verabschiedeten Gesetzentwurf mit Stand 17.12.2020 (KJSG-RegE; BT-Drs. 19/26107) wurden Kritikpunkte aus den Stellungnahmen aufgegriffen, die die AGJ, aber auch ihre Mitglieder in gesonderten Stellungnahmen sowie Akteure aus Schnittstellenbereichen eingebracht hatten. Nachfolgend wird auf die aus Sicht der AGJ offenen Punkte eingegangen und hervorgehoben, zu welchen Regelungen die AGJ eine Nachbesserung im parlamentarischen Verfahren dringend empfiehlt. Kleinere Änderungen, welche die AGJ für unproblematisch hält, werden nicht gesondert aufgeführt.

1. Kinderschutz

Die AGJ hatte schon bezogen auf den Referentenentwurf deutlich gemacht und kritisiert, dass der Beteiligungsprozess sich in bestimmten Regelungsvorschlägen im Themenfeld Kinderschutz nicht wiederfindet. Einhellig oder mit überwältigender Mehrheit getragene Positionierungen und Hinweise aus dem Dialogprozess Mitreden-Mitgestalten sind auch im Regierungsentwurf nicht berücksichtigt. Da nun in den Ausschüssen des Bundesrats teils weitere, der Konstruktion des Kinderschutzsystems in Deutschland diametral gegenläufige Änderungen empfohlen werden (Empfehlungen der Ausschüsse zur 1000. Sitzung des Bundesrates am 12. Februar 2021, BR-Drs. 5/1/21), droht aus Sicht der AGJ ein Einbruch der mühsam errungenen abgewogenen fachlichen Kinderschutzarbeit. Unbedingt Abstand genommen werden sollte daher

  • von der Einführung einer Meldepflicht in § 4 Abs. 3 KKG (57. Empfehlung BR-Ausschüsse),
  • von der Veränderung des Schutz- und Hilfeauftrags des Jugendamts hin zu einer polizeilichen Gefahrenabwehrbehörde, die bereits bei Verdacht vor Tätern warnt (§ 8a Abs. 3 S. 3 SGB VIII-E/6. Empfehlung BR-Ausschüsse)
  • von einer Umstellung des § 4 KKG-E, dessen Veränderung zu einer Mitteilungspflicht sowie der Ausformung der vorgeschlagenen Rückmeldepflicht (KJSG-RegE);
  • vom Anreiz, Fallverläufe als Kindeswohlgefährdung zu etikettieren (§ 73c SGB V-E) 
  • von der Verpflichtung zur Übersendung vollständiger Hilfepläne an das Familiengericht (§ 50 SGB VIII-E) [2].

Die AGJ warnt vor politischen Überlegungen, die Normierung einer Befugnis zur Mitteilung an das Jugendamt in eine Verpflichtung zu verwandeln (§ 4 Abs. 3 KKG-E/57. Empfehlung BR-Ausschüsse). Vorgeblich wird damit der Ansatz verfolgt, Kinder schnell und effektiv zu schützen. Die AGJ geht jedoch gestützt auf Forschung zu Meldepflichten im Ausland davon aus, dass hiermit das Gegenteil erreicht wird. Es ist mehr als nur fragwürdig, wenn die Begründung zu diesem Änderungsansinnen unterstellt, dass Berufsgeheimnisträger*innen in der Kenntnis gewichtiger Anhaltspunkte für eine Kinderwohlgefährdung ihre bestehende Befugnis leichtfertig übergehen, sie aber nach Ersetzung dieser Befugnis durch eine (muss- oder auch soll-)Verpflichtung regelkonformer tätig werden würden. Diese Unterstellung übergeht, dass das Angebot von Vertraulichkeit für etliche Akteure im Kinderschutz die zentrale Voraussetzung ist, um Kinder und Jugendliche schützen zu können. So könnten spezialisierte Beratungsstellen zum sexuellen Missbrauch bei Einführung einer Pflicht zur unverzüglichen Meldung an das Jugendamt ihr niederschwelliges Angebot an Kinder und Jugendliche, sich zu öffnen, oder an Bezugspersonen, sich mit ihrem Verdacht anzuvertrauen, nicht mehrrealisieren. Zugänge zu Schwangerschaftsberatungsstellen, Frauenhäusern oder Frauenberatungsstellen würden versperrt, weil diese unverzüglich informieren müssten. Die Frühen Hilfen würden in weiten Teilen ihre Niedrigschwelligkeit einbüßen – um nur einige der Konsequenzen zu benennen.

Der Vorschlag, das Jugendamt zu verpflichten, bei Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung öffentliche Warnungen auszusprechen (§ 8a Abs. 3 S. 3 SGB VIII-E/6. Empfehlung BR-Ausschüsse), würde den bisherigen Schutz- und Hilfeauftrag des Jugendamtes grundlegend hin zu einer Aufgabe der polizeilichen Gefahrenabwehr verändern. Gerade die Rechtsprechung in der Folge des Staufener Missbrauchsfalls hat jedoch gezeigt, dass das Jugendamt auch bei Kenntnis, dass ein wegen sexuellen Missbrauchs Verurteilter mit einem Kind zusammenlebt, das Kind nicht einfach aus der Familie nehmen darf, sondern in Aufgaben zum Schutz und zur Hilfe gefragt ist. Müsste das Jugendamt Arbeitgeber, Sportvereine oder weitere Dritte vor dem Täter warnen, könnte es diesem Auftrag nicht mehr nachkommen. Außerdem droht die Normkonstruktion durch die Kombination von einem vagen Anlass („Tatsachen“, „nahelegen“, „unbestimmte Anzahl von Fällen“) mit einer harten Pflicht („hat“) Unklarheiten zu erzeugen und zu im Einzelfall unangemessenen Ergebnissen zu führen. So kommt es bspw. in Kindertageseinrichtungen immer wieder zu einem Verdacht auf sexuellen Missbrauch durch männliche Erzieher. Dieser bestätigt sich oftmals nicht. Wenn das Jugendamt nun die Pflicht hätte, Dritte wie die Familie des Erziehers, den Träger der Jugendarbeit oder andere Akteure, bei denen sich der Erzieher in seiner Freizeit engagiert, über den Verdacht zu informieren, hätte dies grundlegende Folgen für den weiteren Lebensweg des ggf. falsch Verdächtigten. Das völlige Fehlen von Kriterien für die schwierigen Abwägungsfragen in der Vorschrift lässt sie in einem so sensiblen Regelungsbereich inakzeptabel erscheinen.

Der aktuelle Aufbau des § 4 KKG verdeutlicht die Handlungsreihenfolge, welche die Berufsgeheimnisträger*innen in Fällen, in denen sie gewichtige Anhaltspunkte auf eine Kindeswohlgefährdung sehen, einhalten sollen. Die Umstellung konterkariert nicht nur die Fortbildungs- und Aufklärungsarbeit sowie die vielfältige Konzeptentwicklung, die hierzu seit Inkrafttreten des Bundeskinderschutzgesetzes unternommen wurde, sondern würde darüber hinaus einen hohen Aufwand für die Überarbeitung der Konzepte, ja sogar der medizinischen Leitlinie „Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie)“3 erforderlich machen. Sie lässt die eigene Handlungspflicht der Berufsgeheimnisträger*innen nach hinten rücken, obgleich diese in den Fokus zu rücken eine der Errungenschaften des Bundeskinderschutzgesetzes war. Das Argument, es brauche eine Verdeutlichung gegenüber den Berufsgeheimnisträger*innen, dass sie ein Offenbarungsrecht gegenüber dem Jugendamt in Kinderschutzfällen haben, kann nicht überzeugen. Wer eine Norm „Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung“ jetzt noch nicht zu Ende liest, wird dazu nach der vorgeschlagenen Umstellung erst Recht keinen Anreiz mehr sehen. Die bisherige Regelung betont und stärkt den eigenen Beratungs- und Unterstützungsauftrag der Berufsgeheimnisträger*innen. Durch dieses Nutzen des Zugangs zur Familie im Rahmen des bestehenden Vertrauensverhältnisses gelingen (mit Wissen und möglichst auch Wollen der Betroffenen) die erfolgversprechendsten Überleitungen an das Jugendamt, was unbedingt beibehalten werden sollte.

Zur Rückmeldepflicht (§ 4 Abs. 4 KKG-E) ist der AGJ wichtig hervorzuheben, dass sie keinesfalls gegen Rückmeldungen an sich ist. Die AGJ begrüßt vielmehr auch die erfolgte Nachbesserung, dass Rückmeldungen nicht nur für Berufsgeheimnisträger*innen aus den Heilberufen erfolgen sollen. Allerdings ist die vorgeschlagene Ausgestaltung der Rückmeldung dringend nachbesserungsbedürftig, da sie keine Differenzierung danach zulässt, ob es infolge der Mitteilung an das Jugendamt eine vertiefte Einbeziehung in das Schutzkonzept braucht oder ob nicht vielmehr eine einfache Rückmeldung angemessen ist. Hier reicht, dass sich das Jugendamt mit dem eingegangenen Hinweis auseinandersetzt, ohne dass weitere Informationen zur Familie weitergegeben werden und damit das Vertrauen aus der Arbeitsbeziehung der Betroffenen mit dem Jugendamt gefährdet werden würde. Es irritiert, dass zwar die datenschutzrechtliche Berechtigung für Rückmeldungen (§ 64 Abs. 4 SGB VIII-E) durch den KJSG-RegE eingefügt wurde, aber offenbar keine Auseinandersetzung mit der für das Datenschutzrecht so bedeutsamen Abwägung stattgefunden hat. Dem Interesse am Erhalt einer zum Fallverlauf angereicherten Rückmeldung steht nicht nur die für die soziale Arbeit und den Kinderschutz so essenzielle Transparenz gegenüber der Familie, sondern eben auch das als Grundlage für die Arbeitsbeziehungen mit der Familie notwendige Vertrauensverhältnis gegenüber. Auch Personen, die dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung mitgeteilt haben, sind aus vielfältigen Gründen nicht automatisch in ein Schutzkonzept eingebunden und sollten das auch weiterhin nicht sein. Der Vorschlag des § 4 Abs. 4 KKG-E vereinfacht diese Komplexität in einer Weise, die dem Kinderschutz widerspricht.

Zu § 73c SGB V-E hat die AGJ bereits eingebracht, dass die Abrechenbarkeit der Zusammenarbeit der Vertragsärzte mit den Jugendämtern ein wichtiger Baustein für das Gelingen multidisziplinärer Zusammenarbeit im Interesse der gemeinsamen Adressat*innen ist. Die Formulierung greift aber weder die bereits gesetzlich vorgegebene Zusammenarbeit im Bereich der Behandlung, Beratung und Unterstützung (vgl. § 36 Abs. 3 SGB VIII) auf noch berücksichtigt sie die für den Kinderschutz so wichtige Kooperation im präventiven Bereich. Die Formulierung setzt vielmehr einen fatalen Anreiz der verfrühten Etikettierung von Fallverläufen unter das Label Kindeswohlgefährdung.

Noch kritischer steht die AGJ dem Vorhaben gegenüber, eine Verpflichtung zur Übersendung von Hilfeplänen in familiengerichtlichen Verfahren aufzunehmen (§ 50 Abs. 2 SGB VIII-E). Dieser Vorschlag überdeckt im Schein einer vollständigen Informationsübermittlung durch ein bürokratisches Übersenden, dass es eigentlich eine zielgerichtete Weitergabe und Aufbereitung der vom Familiengericht für seine Entscheidungsfindung benötigten Informationen bräuchte, die diese im Sinne einer fachbehördlichen Expertise aufarbeitet. Die Rückwirkungen der vorgeschlagenen Veränderung auf den Charakter des Hilfeplans sind von immensem Nachteil. Das Wissen darum, dass alles von Dritten (Familiengericht und potenziellen Verfahrensbeteiligten) gelesen werden wird, schadet dieser vertrauensvollen Dokumentation der Arbeitsbeziehung entlang des Hilfeprozesses. Es liegt nahe, dass Betroffene nochmals verstärkt prüfen, inwiefern sie vor diesem Hintergrund private Informationen überhaupt einbringen, was wiederum der Wirksamkeit der Hilfe enorm schaden kann. Die AGJ fordert nachdrücklich, diesen Vorschlag zu korrigieren und – statt die Übersendung von „allem“ zu verlangen – den Jugendämtern zuzutrauen, angemessene Fachberichte an die Familiengerichte zu verfassen. Sinnvoll wäre aus Sicht der AGJ eine Pflicht zur Berichterstattung der Jugendämter gegenüber den Familiengerichten, mit der der für die Entwicklung des Kindes vertretbare Zeitraum erfasst und der Stand der Perspektivklärung sowie die Arbeit an einer Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie nach § 37c Abs. 2 SGB VIII-E erläutert werden.

Die AGJ begrüßt hingegen die ausdrückliche Öffnung der möglichen Einbeziehung von mehr Berufsgeheimnisträger*innen in die Beratung zur Gefährdungseinschätzung des Jugendamtes nach einer Mitteilung wegen Anhaltspunkten auf Kindeswohlgefährdung (§ 8a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB VIII-E).
Die AGJ begrüßt ferner, dass bei der Einführung der Informationspflicht der Strafbehörden bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung (§ 5 KKG-E) eine Angleichung an die im Kinderschutzbereich sonst übliche Begrifflichkeit erfolgt ist und so – anders als noch im KJSG-RefE – klargestellt wird, dass hier kein anderer Gefährdungsgrad als Schwelle der Mitteilung ans Jugendamt gemeint ist. Auch die Erweiterung in Absatz 2 auf solche Personen, die regelmäßigen Umgang mit einem/einer Minderjährigen haben oder haben werden, trägt die AGJ mit.

Bezogen auf die Vorgabe zum behördenübergreifenden Zusammenwirken in JGG-Verfahren (§ 52 Abs. 1 SGB VIII-E, § 37a JGG-E) regt die AGJ nochmals an, zwischen der Verpflichtung zu fallübergreifender, struktureller Zusammenarbeit und der Einzelfallkooperation zu unterscheiden, da nur so deutlich wird, dass bei letzterer auch Vertrauensgesichtspunkte zu berücksichtigen sind.
Zu den Änderungen im KJSG-RegE im Vergleich zum KJSG-RefE im Bereich der Betriebserlaubnis hat aus Sicht der AGJ besonders die Veränderung an der Definition des Einrichtungsbegriffs Bedeutung. Die vorgeschlagene Definition teilt die AGJ dabei grundsätzlich. Den nun in Satz 1 vorgeschlagenen Einschub „unter der Verantwortung eines Trägers“ hätte die AGJ als Klarstellung im letzten Halbsatz des Satzes 2 besser platziert gesehen. Kritisch steht die AGJ jedoch dem im KJSG-RegE erstmals vorgeschlagenen Landesvorbehalt zu familienähnlichen Betreuungsformen (§ 45a S. 4 SGB VIII-E) gegenüber. Der AGJ ist bewusst, dass mit dieser Ergänzung auf den Vorwurf reagiert wird, dass über den vorgeschlagenen Einrichtungsbegriff (Satz 1) und die diesbezügliche Klarstellung zu familienähnlichen Betreuungsformen (Sätze 2 und 3) noch Lücken zwischen der Erlaubnispflicht wegen Zugehörigkeit zu einer betriebserlaubnispflichtigen Einrichtung (gem. §§ 45 ff. SGB VIII) und der Erlaubnispflicht als Pflegeverhältnis (gem. § 44 SGB VIII, sofern keine Ausnahme des Absatz 1 Satz 2 einschlägig ist) verbleiben würden. Die AGJ teilt diese Kritik nicht, sondern befürchtet vielmehr, dass die Ergänzung des Satzes 4 Rechtsunsicherheit provozieren würde, da der Eindruck entsteht, eine solche Lücke würde bestehen. Wenn einzelne Länder familienähnliche Wohnformen trotz fehlender übergeordneter Leitungsverantwortung eines Trägers und trotz dauerhafter Zuordnung der aufgenommenen jungen Menschen zur betreuenden Fachkraft (und damit eigentlich einer Erlaubnispflicht gem. § 44 SGB VIII zur Vollzeitpflege) der stationären Betreuung i. S. d. § 34 SGB VIII in einer Einrichtung zuordnen, erfolgt dies in Missachtung dogmatischer Erwägungen zum Einrichtungsbegriff aufgrund von pragmatischen Erwägungen, um so den Zugang zu den fachlich als angemessen anzusehenden höheren Vergütungssätzen zu eröffnen. Eine Erlaubnislücke besteht auch nicht, obgleich in diesen Fällen i. d. R. die Ausnahme des § 44 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII (Aufnahme des/der Minderjährigen durch die Pflegeperson im Rahmen einer Leistungsbewilligung gem. §§ 27 oder 35a SGB VIII) greift. Denn hier erfolgt die Überprüfung eben im Rahmen der Hilfeplanung durch das leistungserbringende Jugendamt. Die bisher drängende Schutzlücke (durch zu wenig Wissen über die Pflegeperson bzw. die nicht als Einrichtung einzuordnende familienähnliche Wohnform) wird durch die nunmehr vorgeschlagene Beteiligung des örtlichen zuständigen Jugendamtes, in dessen Bereich die Pflegeperson ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, bei deren Belegung einer Pflegestelle durch ein anderes Jugendamt geschlossen (§ 37c Abs. 3 S. 4 SGB VIII-E). Diesen neuen Vorschlag begrüßt die AGJ ausdrücklich.

Die AGJ unterstützt die Anpassung der Vorgaben zum Erheben und Speichern von Daten aus der Einsichtnahme in Erweiterte Führungszeugnisse (§ 72a Abs. 5 SGB VIII-E), hätte allerdings die Neuschaffung eines Negativ-Attests hinsichtlich der Eintragung von einschlägigen Straftaten für eine noch bessere Lösung gehalten, um den bestehenden Praxisproblemen entgegenzuwirken.
Die AGJ würde es darüber hinaus begrüßen, wenn die mit dem Reformprozess intendierte Verbesserung des Kinderschutzes auch dazu führen würde, dass in § 43 SGB VIII klargestellt wird, dass auch Kindertagespflegepersonen zur Arbeit auf Grundlage von Kinderschutzkonzepten verpflichtet sind und die Finanzausstattung der Bundesstiftung Frühe Hilfen angemessen erhöht wird (§ 3 Abs. 4 KKG). 

2. Stärkung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen und Pflegefamilien

Die AGJ begrüßt die vorgesehene Stärkung von Kindern, Jugendlichen sowie von ihren Herkunfts- und Pflegeeltern. Sie erkennt im KJSG eine wertvolle Betonung der Subjektstellung der Adressat*innen durch das Recht (Einbeziehung der Geschwisterperspektive, Beteiligung unabhängig vom Sorgerechtsstatus, eigene Beratungs- und Unterstützungsansprüche). 
Der AGJ ist es in diesem Reform-Bereich wichtig, auf die Situation von jungen Menschen am Übergang aus der Kinder- und Jugendhilfe hinaus (Care Leaver) erneut einzugehen. Wie bereits in der Stellungnahme zum KJSG-RefE herausgearbeitet, begrüßt die AGJ grundsätzlich die Neugestaltung und das Anheben des Verpflichtungsgrads der Hilfen für junge Volljährige (§ 41 Abs. 1 S. 1 SGB VIII-E). Die AGJ bedauert jedoch, dass in der Normierung der Tatbestandsvoraussetzungen bislang die Chance verpasst wird, klarzustellen, dass neben einem Bedarf in der Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen auch die Stabilisierung seines/ihres Bildungsverlaufs anspruchsauslösend ist. Hierdurch würden (Hilfe-)Erfolge der jungen Menschen auf ihrem Weg zu einer eigenständigen Lebensführung abgesichert und diese wären weniger gezwungen, sich in ihrem Streben um eine Verlängerung der Hilfe defizitär darzustellen.

Der AGJ ist zudem wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich nicht nur sie selbst, sondern die große Mehrheit der Beteiligten am Dialogprozess Mitreden-Mitgestalten für den vollständigen Verzicht auf eine Kostenheranziehung von jungen Menschen (§ 94 Abs. 6 S. 1 SGB VIII-E) ausgesprochen hat. Anders als in der Aussprache zur 1. Lesung im Bundestag am 29.01.2021 berichtet, haben sich nach Kenntnis der AGJ nur die kommunalen Spitzenverbände für eine Kostenheranziehung ausgesprochen.
Eine tragfähige Verfahrensregelung für Übergänge zu anderen Sozialleistungssystemen zu finden, ist ein bedeutsames Anliegen innerhalb der Reform, das die AGJ entschieden unterstützt. Die vorgeschlagene Klärung des Übergangsprozesses durch den Abschluss von Verwaltungsvereinbarungen (§ 36b Abs. 1 SGB VIII-E, vgl. zu Absatz 2 im Themenbereich Inklusion) erscheint zwar auf den ersten Blick als sinnvolle Einbeziehung aller Beteiligter auf Augenhöhe. Bei genauerem Überlegen ist aber zu befürchten, dass die Vorgabe als allenfalls formaler, bürokratischer Akt in der Praxis umgesetzt werden wird. Die AGJ vermisst nicht nur eine ausdrückliche Verpflichtung zur Beteiligung der betroffenen Bürger*innen, sondern auch die Verpflichtung der anderen Sozialleistungsträger zur Beteiligung an der Übergangsgestaltung. Es bleibt zu befürchten, dass diese ohne eigene gesetzliche Aufforderung die Kooperationsbemühungen von Seiten der Jugendämter ignorieren – worauf übrigens auch schon vielfach zur unidirektionalen Kooperationsverpflichtung des § 81 SGB VIII hingewiesen wurde. Um wirklich zu verhindern, dass keine Leistungslücke durch den Übergang entsteht, braucht es eine klare Vorgabe zur Zuständigkeit (weitergreifend bis die Übernahme tatsächlich erfolgt ist), ergänzt durch eine Kostenerstattungspflicht des verzögernden Leistungsträgers.
Die AGJ begrüßt Hinweise aus dem parlamentarischen Raum, wonach auch Überlegungen zu gemeinsamen Wohnformen von Müttern/Vätern und Kindern (§ 19 SGB VIII) nochmals aufgegriffen werden sollen. Neben der angedeuteten Erweiterung einer gemeinsamen Unterbringung der ganzen Familien als zeitlich begrenzte Intervention und Unterstützung ist es der AGJ wichtig, darauf hinzuweisen, dass es in Fällen einer voraussichtlich vorübergehenden Inobhutnahme sehr sinnvoll sein kann, wenn die Mutter/der Vater in der Einrichtung verbleiben und hier auf die Rückführung vorbereitet wird, statt den Schock der Inobhutnahme allein und verbunden mit Verlassen der Einrichtung verarbeiten zu müssen. Beide Vorgehensweisen sind bereits aktuell als Hilfe zur Erziehung gem. § 27 Abs. 2 SGB VIII möglich, eine Änderung der Norm kann jedoch ein wichtiger Impuls für die verlässliche Weiterentwicklung der Praxis sein.

Auf die Beteiligung des örtlich zuständigen Jugendamtes der Pflegeperson bei deren Auswahl durch ein anderes Jugendamt (§ 37c Abs. 3 S. 4 SGB VIII-E) wurde oben bereits eingegangen. Die AGJ begrüßt die Schließung der Lücke im Kinderschutz nachdrücklich.
Ausdrücklich positiv möchte die AGJ schließlich die durch den KJSG-RegE vorgenommene Korrektur am Vorschlag zur Aufhebung der Dauerverbleibensanordnung (§ 1696 Abs. 3 BGB) hervorheben. In den parlamentarischen Gesprächen mit Abgeordneten der Regierungsfraktionen hatte die AGJ ihre Kritik zur vorherigen Fassung eingebracht, woraufhin zunächst auf die schwierigen politischen Verhandlungen zur gesamten Dauerverbleibensanordnung verwiesen worden war. Die im KJSG-RegE erfolgte Änderung nimmt die AGJ als klares Zeichen konstruktiver Kritikfähigkeit auf. Problematisch erscheint, dass die Dauerverbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 S. 2 BGB-E zukünftig nur auf Antrag der Eltern aufgehoben werden soll. Zum Wohl des Kindes kann es erforderlich sein, dass ein Pflegekind zwar nicht zu seinen Eltern zurückkehrt, aber aus der Pflegefamilie herausgenommen und anderweitig untergebracht wird. Möglicherweise als selbstverständlich übersehen wurde, dass es daher neben dem Antragsrecht der Eltern auch eines gesetzlich gesicherten Initiativrechts des Jugendamtes zur Aufhebung der Dauerverbleibensanordung braucht.

Ergänzend möchte die AGJ zur vorgeschlagenen Ergänzung der Norm zum Kindeswohlprinzip bei einem Leben in Familienpflege (§ 1697a Abs. 2 S. 2 BGB-E) anregen, statt der Berücksichtigung von „kontinuierlichen und stabilen Lebensverhältnissen“ eine Berücksichtigung von positiven und stabilen Bindungen vorzugeben, da Kontinuität ohne positive Bindungen von nachrangiger Bedeutung für das Kindeswohl ist. 

3. Hilfen aus einer Hand für Kinder mit und ohne Behinderung

Das Anliegen, Exklusion entgegenzuwirken, die Kinder- und Jugendhilfe inklusiv weiterzuentwickeln und hierfür (nicht als alleinigen, aber doch entscheidenden Schritt) die durch die sozialrechtlichen Zuständigkeitsregeln provozierte Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen mit körperlicher oder geistiger Behinderung sowie ihrer Familien aus der Kinder- und Jugendhilfe zu beenden, ist für die AGJ zentrales fachpolitisches Ansinnen.

Bereits in den Vorschlägen des KJSG-RefE vermisst die AGJ die deutliche Verpflichtung zur Herstellung der sogenannten Gesamtzuständigkeit unter dem Dach des SGB VIII (der „großen“ bzw. inklusiven Lösung). Sie war aber bereit, das dreischrittige Vorgehen als politischen Kompromiss und das Zugeständnis einer hinreichend langen Umsetzungsphase hinzunehmen. Aus Sicht der AGJ sind die Veränderungen durch den KJSG-RegE in diesem Reform-Bereich allerdings eine gravierende Verschlechterung im Vergleich zum KJSG-RefE. So klein sie im Einzelnen erscheinen mögen, stellen sie doch eine Hinterfragung des gesellschafts- und sozialpolitisch überfälligen ganzheitlichen Blicks und der ganzheitlichen Unterstützung dieser Familien durch die Kinder- und Jugendhilfe dar. Die AGJ stellt nicht in Zweifel, dass auch bei einer Überführung der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit körperlicher oder geistiger Behinderung aus dem SGB IX ins SGB VIII Schnittstellen zu anderen Sozialleistungsbereichen (Reha-Träger wie die gesetzliche Krankenversicherung, aber auch die Pflegeversicherung) verbleiben. Was die Jugendämter auszeichnet – anders und mehr als die öffentlichen Träger der Eingliederungshilfe, selbst wenn man diesen einen erfolgreichen Kulturwandel i. S. d. Anliegens des BTHG unterstellt, ist , die Entwicklungsherausforderungen jedes Minderjährigen nicht nur auf diesen bezogen zu betrachten, sondern die Familie des jungen Menschen mitzudenken. Jugendämter treibt fachlich das Anliegen an, die jungen Menschen und ihre Familien als sich stützendes, miteinander verflochtenes System zu begreifen und Unterstützung dort anzubieten, wo diese gebraucht wird – zugunsten des jungen Menschen mit Behinderung, zugunsten seiner Eltern und eben auch zugunsten der Geschwisterkinder. Anders als das immer noch zu häufig kolportierte Schreckgespinst einer übergriffigen Behörde geht es gerade um eine Stärkung der Selbstwirksamkeit der Familien. Soweit allein eine behinderungsspezifische Leistung für den jungen Menschen ausreicht, wird sich die Kinder- und Jugendhilfe (schon aufgrund der fiskalischen Grenzen) nicht mit mehr Hilfen aufdrängen, sondern allenfalls die ihr als Fachbehörde zum Aufwachsen junger Menschen zur Verfügung stehenden Angebote sichtbar machen und Türen zu inklusiven Leistungen mit anderen jungen Menschen öffnen.

Echte Empörung hat innerhalb der AGJ ausgelöst, dass die vorgeschlagene Aufnahme des modernen Behinderungsverständnisses in die Begriffsbestimmungen (§ 7 Abs. 2 SGB VIII-E) unmittelbar wieder ausgehebelt wird bezogen auf die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit (drohender) seelischer Behinderung (§ 35 Abs. 1 S. 2 SGB VIII-E). Das Verständnis von Behinderung beruht auf der UN-Behindertenrechtskonvention und ist in § 2 Abs. 1 SGB IX für alle Rehabilitationsträger niedergelegt. Diesen Behinderungsbegriff als durch die Leistungsgesetze „modifizierbar“ darzustellen (Begründung KJSG-RegE S. 75), verkennt dessen grundlegende Bedeutung. Die AGJ hat bereits zum KJSG-RefE 2020 angemahnt, dass im Gegenteil eine Anpassung des § 35a Abs. 1 SGB VIII an die Vorgaben der immerhin seit 2009 in Deutschland in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention und an § 2 Abs. 1 SGB IX überfällig ist. Die Kinder- und Jugendhilfe prüft zwar aufgrund ihres systemischen Verständnisses Wechselwirkungen zwischen Gesundheitsbeeinträchtigung und Umweltbarrieren seit langem, in § 35a SGB VIII wird dies jedoch nicht deutlich. Der vermeidbare Auslegungsstreit und die Verunsicherung der Praxis sollte durch den Gesetzgeber ausgeräumt werden. Hier besteht dringender Handlungsbedarf für das Parlament!

Zumindest kurz möchte die AGJ zudem anmerken, dass auch der Versuch, die Bedeutung von Ausführungen zur Teilhabebeeinträchtigung in der ärztlichen Stellungnahme klarzustellen (§ 35a Abs. 1a S. 4 SGB VIII-E), bislang nicht gelungen ist und der Vorschlag Fragen im Verhältnis zu § 17 SGB IX aufwirft. Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) und einzelne Stimmen im Fachdiskurs leiten aus dem Wortlaut des Absatzes 1a „Stellungnahme“ ab, dass es sich um gar kein Gutachten i. S. d. § 17 SGB IX handele und die hierfür normierten Vorgaben (Benennung von drei wohnortnahen Sachverständigen, Fristen etc.) nicht gelten würden. Teile der Praxis versuchen, die strengen Fristenregelungen der §§ 14, 15 SGB IX zu umgehen, indem sie ohne Vorlage der ärztlichen Stellungnahme bzw. eines Gutachtens eingereichte Anträge als nicht vollständig bewerten, weshalb der Fristlauf nicht in Gang gesetzt werde. Beide Entwicklungen konterkarieren die Intention des BTHG und sollten ebenfalls durch ein klares Signal des Gesetzgebers unterbunden werden. Der Verweis auf die Geltung der Vorschriften des SGB IX zum Teilhabeplanverfahren (§ 36 Abs. 3 S. 3 SGB VIII-E) ist ein guter Schritt, an den bezogen auf die Fristauswirkungen der Absatz 1a-Stellungnahmen angeschlossen werden muss.

Außer Frage dürfte inzwischen stehen, dass das gegliederte Sozialleistungssystem Hürden birgt, die für Bürger*innen eine Wahrnehmung ihrer Leistungsrechte erschweren. Der Gesetzgeber versucht, dieser Problematik zunehmend gegenzusteuern. Auch das KJSG greift dies auf. Die AGJ ist der festen Überzeugung, dass es zur wirksamen Unterstützung von Kindern mit Behinderung und ihrer Familien mehr als eine Schnittstellenbereinigung oder gute Überleitungen braucht. Hierauf verkürzt der KJSG-RegE die Reform jedoch. Kinder mit und ohne Behinderung müssen zuvörderst als Kinder mit ihren spezifischen Bedarfen im Aufwachsen gesehen werden. Sie sind als Teil einer Familie anzuerkennen, die durch viele Faktoren geprägt ist. Die Veränderungen vom KJSG-RefE zum KJSG-RegE zur Beratung und zum Übergang mögen bei flüchtiger Betrachtung kaum ins Gewicht fallen, nehmen aber die Zuversicht, dass der angestrebte ganzheitliche Blick auf den jungen Menschen mit Behinderung und seine Familie wirklich noch gewollt ist. Nachbesserungen im Sinne dieses Anliegens blieben am KJSG-RefE zudem aus, so dass zusammengenommen die versprochene große Lösung, die in sorgfältig abgewogenen Teilschritten vollzogen werden sollte, kaum noch zu erkennen ist. Der Bundestag sollte sich diesem Herzensanliegen der Fachszene mit höchster Dringlichkeit zuwenden. Die Fachdisziplinen übergreifende Bedeutung wurde sowohl in der entsprechenden Debatte im Dialogprozess „Mitreden-Mitgestalten“ wie auch im Appell „Exklusion beenden: Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen und ihre Familien!“ hervorgehoben.

Die AGJ kritisiert, dass in § 10a SGB VIII-E der Beratungsanspruch auf die Wahrnehmung der Rechte nach dem SGB VIII verkürzt wurde.
In § 36b Abs. 2 SGB VIII-E wurde zwar sinnvollerweise an das Teilhabeplanverfahren angeknüpft, die Norm aber so verwirrend gefasst, dass Verwaltung sie wohl nicht als handlungsleitend lesen wird. Die AGJ fordert, dass die Beteiligung der Adressat*innen auch in diesem Teilhabeplanverfahren zum Übergang ebenso wie die Durchführung einer Teilhabeplankonferenz verbindlich festgelegt wird. Die Hinweise zum Teilhabeplanverfahren sollten übersichtlicher gestaltet werden. Die AGJ unterstützt daher die 22. Empfehlung BR-Ausschüsse sehr. 

Die beratende Teilnahme der Jugendämter an Gesamtplanverfahren minderjähriger Leistungsberechtigter, die aufgrund des zeitlichen Verschiebens der inklusiven Lösung ja vorerst im Zuständigkeitsbereich der Eingliederungshilfeträger verbleiben (§ 10a Abs. 3 SGB VIII-E, § 117 Abs. 6 S. 1 SGB IX-E), würde zwar die Fachexpertise zu den Herausforderungen des Aufwachsens und kindlicher Entwicklung in diese Verfahren bringen. Es ist fachlich nicht nachvollziehbar, dass sowohl über die Einschränkung „soweit dies zur Feststellung der Leistungen der Eingliederungshilfe nach den Kap. 6 bis 6 erforderlich ist“ sowie die Abweichoption der Träger der Eingliederungshilfe (§ 117 Abs. 6 S. 2 SGB IX-E) die Glaubhaftigkeit dieses Ansatzes unterwandert wird. Um das Instrument nicht leerlaufen zu lassen, muss beides gestrichen werden.

Hinsichtlich des Vorschlags der vorübergehenden Einführung von Verfahrenslotsen (§ 10b SGB VIII-E) hat die AGJ bereits zum KJSG-RefE deutlich gemacht, dass sie diesen Vorschlag als befristeten Versuch einer zusätzlichen Unterstützung der Adressat*innen beim Zurechtfinden im gegliederten Sozialleistungssystem und gleichzeitigen Weg des Ressourcenaufbaus in den Jugendämtern zur Vorbereitung des Zuständigkeitsübergangs der Eingliederungshilfe für Minderjährige mit körperlicher oder geistiger Behinderung aus dem SGB IX-2. Teil ins SGB VIII mitträgt. Dennoch ist ihr wichtig anzumerken, dass die vorgesehene Doppelfunktion der Verfahrenslotsen (Einzelfallberatung gem. Absatz 1, Beitrag zur Organisationsentwicklung gem. Absatz 2) zwei unterschiedliche Aufgabenbereiche umfasst, deren parallele Umsetzung durch eine Fachkraft nicht einfach sein wird, zumal aus dem Gesetzesentwurf nicht eindeutig hervorgeht, wo diese Fachkräfte perspektivisch angesiedelt werden sollen. Die AGJ vertritt einen entsprechenden Kompetenzaufbau in den Jugendämtern. Auch verweist die AGJ darauf, dass diese Phase als Test zu verstehen ist, mit dem für eine spezifische Adressat*innengruppe zusätzliche spezifische Beratungskapazitäten zur Verfügung gestellt werden. Die AGJ geht davon aus, dass eine solche Unterstützung auf dem Weg zur Wahrnehmung ihrer Leistungsrechte auch für andere Zielgruppen (Care-Leaver*innen, Eltern mit psychischen Erkrankungen und Existenzsicherungsbedarf) sehr sinnvoll wäre.

Mit völligem Unverständnis wurde innerhalb der AGJ wahrgenommen, dass die per se eher schwache gesetzgeberische Selbstverpflichtung (§ 10 Abs. 4 SGB VIII-E), für die Herstellung des Zuständigkeitsübergangs der Eingliederungshilfe für Minderjährige mit körperlicher oder geistiger Behinderung aus dem SGB IX-2. Teil ins SGB VIII zu sorgen, durch eine Übergangsregelung mit Festschreibung des Status quo (§ 107 SGB VIII-E) ergänzt wurde. Wenn durch die inklusive Lösung Probleme in der Praxis angegangen werden und eine Verbesserung der rechtlichen Lage von Kindern und Jugendlichen mit körperlicher oder geistiger Behinderung erreicht werden soll, darf man dieser Reform nicht von vorneherein jeden gestalterischen Wind aus den Segeln nehmen und zudem Kostenneutralität festschreiben. Geradezu absurd ist, dass diese Festschreibung des Status quo nach der Systematik des KJSG-RegE unmittelbar in allen Ausgaben des Achten Sozialgesetzbuches sichtbar werden wird, das Versprechen der Reform in § 10 Abs. 4 SGB VIII-E aber durch das spätere Inkrafttreten (bei gleichzeitiger Ablösung durch das angekündigte Bundesgesetz mit der eigentlichen Reform).

Als Beispiele verbleibender Leerstellen zulasten von Familien, in denen Familienmitglieder mit (drohender) Behinderung leben, hat die AGJ bereits zum KJSG-RefE benannt: eine fachlich dem Jugendhilfestandard entsprechende Begleitung der Pflegeeltern von Kindern mit Behinderung; Eltern von Kindern mit Behinderung im Alltag und im Freizeitbereich entlastende Angebote und Dienste, welche aktuelle nur unzureichend aus einem Abzweigen der Leistungen zu Verhinderungspflege und des Pflegegelds finanziert werden; Hilfen für Eltern mit Behinderung, bei denen aus der Formulierung des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII a.F. im Verhältnis zu § 78 Abs. 3 SGB IX resultierende Zuständigkeitsprobleme bislang allenfalls durch kreative Praxis gelöst werden. Im Parlament sollte anerkannt werden, dass auch mit der vorgeschlagenen Reform im Bereich Inklusion gesetzgeberisch einiges zu tun bleibt und es nicht sinnvoll ist, den Reformwillen von Anfang an zu beschneiden.

4. Mehr Prävention vor Ort

Die Frage, wie mehr Verbindlichkeit zur Absicherung einer bedarfsgerechten Finanzierung der niedrigschwelligen infrastrukturellen Angebote erreicht werden kann, treibt die Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe um. Die Sorge und das Erleben von Kürzungen in diesem für Prävention und Teilhabe wichtigen Bereich, der in besonderem Maß zum Ausgleich sozialer Ungleichheit und Inklusion beiträgt, ist weit verbreitet. Jenseits der wohl utopistischen Anregung einer durchgehenden Implikation von einklagbaren Rechtsansprüchen zu allen Leistungen und Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe erscheint der im KJSG gewählte Weg richtig, die Pflicht zur Planung und Bereitstellung einer bedarfsgerechten, niedrigschwelligen, sozialräumlichen Infrastruktur (§§ 79 Abs. 1 Nr. 1, 80 Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 3 i. V. m. 36a Abs. 2 S. 3 SGB VIII-E) zu schärfen.

Die AGJ begrüßt zudem die Klarstellung im Wortlaut zu den Angeboten der Familienförderung (§ 16 Abs. 1 S. 2 SGB VIII-E) dahingehend, dass diese weiter Erziehungsberechtigte bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsverantwortung unterstützen sollen.

Sehr nachdrücklich ist innerhalb der AGJ darauf hingewiesen worden, dass ein Aufgreifen der Finanzierungsprobleme in der Jugendsozialarbeit (§ 13 SGB VIII) sowie der Schulsozialarbeit in ihren unterschiedlichen Ausprägungsformen durch das KJSG unterblieb. Diskussionswürdig ist zudem der Vorschlag der Länder, die Schulsozialarbeit nicht mehr länger als Unterfall der Jugendsozialarbeit zu verstehen, sondern diese in einem eigenen Paragrafen zu regeln (15. Empfehlung BR-Ausschüsse). Die Jugendsozialarbeit hat insgesamt – auch während der Corona-Krise – sehr damit zu kämpfen gehabt, dass ihre Angebote teils durch die Jugendämter, teils die Jobcenter, teils den Europäischen Sozialfonds finanziert werden. Während der Kinder- und Jugendhilfe an einem Erhalt der Angebote und einer kreativen Umsteuerung auf digitale Angebote zugunsten der Zielgruppe lag, wurden in den anders finanzierten Bereichen Lücken hingenommen. Nicht zuletzt in diesem Schnittstellenbereich, aber auch an der Schnittstelle zum Gesundheitswesen (besonders zu Kinder- und Jugendpsychiatrie) stellen sich noch ungelöste Fragen einer Finanzierung integrierter oder kombinierter Hilfen, die einer Absicherung durch entsprechende Regelungen bedürfen. Auch an dieser Stelle ist es der AGJ nochmals wichtig, darauf hinzuweisen, dass ohne eine eigene gesetzliche Aufforderung der Schnittstellenpartner Kooperationsbemühungen von Seiten der Kinder- und Jugendhilfe immer noch häufig ignoriert werden. Es braucht daher spiegelbildliche Regelungen zur Kooperationsverpflichtung des § 81 SGB VIII in den anderen Sozialgesetzbüchern sowie für die Schule auf Landesebene.

Bezogen auf den Anspruch auf Betreuung und Versorgung in Notsituationen (§ 20 SGB VIII a.F. bzw. §§ 28a i. V. m. 36 Abs. 2 SGB VIII-E) sieht die AGJ die Potenziale, welche sich zugunsten von Adressat*innen, die zwischen Krisen und Ruhephasen schwanken (insb. Familien von Eltern mit psychischer Erkrankung und Sucht), durch die Implementierung einer solchen an erfolgreichen Praxismodellen orientierten „mitschwingenden und bei Erstarken des Bedarfs schnell zugänglichen“ Hilfeform in den Katalog der §§ 28 ff. SGB VIII ergibt, und hält die angestrebten Ziele für realistisch. Die AGJ bittet das Parlament, diese Chance der Erweiterung des per se offenen, der Praxis aber Orientierung gebenden Hilfekatalogs wahrzunehmen.

5. Mehr Beteiligung von jungen Menschen, Eltern und Familien

Große Fortschritte in der Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe sieht die AGJ im Themenbereich Beteiligung des KJSG. Dazu gehören die Implementierung von Selbstvertretung (§ 4a SGB VIII-E), Ombudsstellen (§ 9a SGB VIII-E), aber auch die an verschiedenen Stellen gestärkten Beratungs- und Beteiligungsansprüche (§ 4 Abs. 3, § 8 Abs. 3, §§ 10a, 36 Abs. 1 S. 2 und Abs. 5, §§ 37, 37a, 42 Abs. 2, § 45 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 SGB VIII-E).

Damit alle jungen Menschen in ihrer Vielfalt erkennbar in der Grundrichtung der Erziehung (§ 9 SGB VIII-E) erfasst und nicht gleichzeitig geschlechtsspezifische Angebote negiert werden, regt die AGJ an, statt der neutralen Fassung in Nr. 3 „der Geschlechter“ Jungen, Mädchen und jungen Menschen mit diversem Geschlecht im Wortlaut zu adressieren. Alternativ hätte sich die AGJ auch eine Nr. 3 und 4 zusammenfassende Benennung der unterschiedlichen Diversitätskriterien Geschlecht/Gender, Alter, Herkunft, Migrationshintergrund, Religionszugehörigkeit, sexuelle Orientierung, Bildung, soziale Lebenslage sowie Behinderung verbunden mit dem Auftrag, hiermit verbundene Benachteiligungen abzubauen und sich für gleichberechtigte Teilhabe einzusetzen, vorstellen können.

Ergänzend zu ihren Ausführungen zum KJSG-RefE ist es der AGJ ein Anliegen anzumahnen, dass der Versuch eine juristisch-formale Definition zu selbstorganisierten Zusammenschlüssen (§ 4a Abs. 1 SGB VIII-E) zu finden, nicht zu stark aufgeladen werden sollte. Es ist ein Charakteristikum von Selbstorganisationen, dass diese zunächst meist keine klare Form haben. Die AGJ befürchtet, dass nach der nochmaligen rechtstechnokratischen Veränderung im KJSG-RegE die Adressat*innen dieser Norm möglicherweise gar nicht mehr verstehen, dass sie gemeint sein könnten. Die AGJ nimmt wahr, dass hiermit der Versuch unternommen wird, eine vermeintlich uferlose Inanspruchnahme und unbequeme Gruppen abzuwehren. Aus Sicht der AGJ ist das weder sinnvoll noch nötig, da keine unmittelbare Förderpflicht aus der Norm hervorgeht, sondern diese vielmehr eine Infrastrukturverpflichtung beinhaltet, die nach Maßgabe der §§ 74, 77 SGB VIII umzusetzen ist.
Zum Vorschlag der gesetzlichen Implementierung von Ombudsstellen (§ 9a SGB VIII-E) nimmt die AGJ die Veränderungen durch den KJSG-RegE gegenüber dem KJSG-RefE als nochmals deutliche Verbesserung wahr. Die AGJ begrüßt, dass die Stellen in der Norm geschärft wurden, die zuvor als Einfallstor einer Aufweichung des spezifischen fachlichen Konzepts hätten missbraucht werden können. Wie schon mehrfach betont, ist die AGJ auch mit der Ausweitung des ombudschaftlichen Beratungsauftrags über die Hilfen zur Erziehung auf alle Leistungen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe grundsätzlich einverstanden. Die bisher in der Kinder- und Jugendhilfe bestehenden ombudschaftlichen Initiativen fokussieren auf den Bereich der individuellen Hilfen (zumeist §§ 27, 35a, 41, 13 Abs. 3, 19 SGB VIII, oft auch Inobhutnahmen gem. § 42 ff. SGB VIII), weil in diesen die strukturelle Machtasymmetrie besonders deutlich ausgeprägt ist. Die AGJ bittet zu berücksichtigen, dass ombudschaftliche Beratung in den anderen Leistungsbereichen konzeptionell und organisatorisch noch ganz neu entwickelt werden muss, da sich die hier geltenden Verfahren und Rechte stark von den Hilfen zur Erziehung unterscheiden. Den vorgeschlagenen Schritt der Implementierung von Ombudsstellen ins Kinder- und Jugendhilferecht (zunächst begrenzt auf die Hilfe zur Erziehung oder gleich auf das ganze Spektrum gem. § 2 SGB VIII) hält die AGJ für einen großen rechtsstaatlichen Gewinn. Durch diesen macht der Gesetzgeber deutlich, dass es in diesem Rechtsstaat eben nicht allein um Recht haben, sondern auch um vom Recht wissen, Recht bekommen und Recht gegebenenfalls auch durchsetzen geht.

Angesichts der weitreichenden fachlich-inhaltlichen Veränderungen, die innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe und für ihre Adressat*innen durch das KJSG teilweise in einem mehrjährigen Prozess umgesetzt werden sollen, unterstützt die AGJ den Vorschlag einer Evaluation dieses Prozesses. Sie befürwortet dabei eine pro- und retrospektive Evaluation im Rahmen einer unabhängigen Begleitforschung, die im Kontext einer Bund-Länder-Initiative gefördert und umgesetzt werden sollte.

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 11. Februar 2021

[1] Ansprechperson für diese Stellungnahme der AGJ ist die stellvertretende Geschäftsführerin. Angela Smessaert (angela.smessaert@agj.de).
[2] Vgl. AGJ-Stellungnahme „Was lange währt, wird endlich gut: Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen“, 2020, S. 3-4, 6, 20.
[3] Langfassung der Leitlinie „Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie)", S. 78 ff.

„Kurz vor dem Zieleinlauf – Weiterentwicklungschancen im SGB VIII nutzen“

Stellungnahme zum KJSG-RegE 2020 der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ [1]

Unter dem Titel „Was lange währt, wird endlich gut“ hat die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ bereits zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (KJSG-RefE 2020) Stellung genommen. Sie sieht in der Reform eine wertvolle fachliche Weiterentwicklung des Kinder- und Jugendhilferechts. Als besonders unterstützungswürdig betrachtet die AGJ die inklusive Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe, obgleich sie sich einen schnelleren und mutigeren Schritt zur Zusammenführung der Zuständigkeit der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderung unter dem Dach des SGB VIII gewünscht hätte. Auch durch die Betonung der Subjektstellung der Adressat*innen, die Stärkung ihrer Beratungs- und Beteiligungsrechte, die rechtliche Sicherung von Ombudsstellen und Förderung der Selbstvertretung ihrer Adressat*innen sieht sie fachliche Wesensmerkmale der Kinder- und Jugendhilfe nochmals positiv im Recht hervorgehoben.

In dem vom Bundeskabinett verabschiedeten Gesetzentwurf mit Stand 17.12.2020 (KJSG-RegE; BT-Drs. 19/26107) wurden Kritikpunkte aus den Stellungnahmen aufgegriffen, die die AGJ, aber auch ihre Mitglieder in gesonderten Stellungnahmen sowie Akteure aus Schnittstellenbereichen eingebracht hatten. Nachfolgend wird auf die aus Sicht der AGJ offenen Punkte eingegangen und hervorgehoben, zu welchen Regelungen die AGJ eine Nachbesserung im parlamentarischen Verfahren dringend empfiehlt. Kleinere Änderungen, welche die AGJ für unproblematisch hält, werden nicht gesondert aufgeführt.

1. Kinderschutz

Die AGJ hatte schon bezogen auf den Referentenentwurf deutlich gemacht und kritisiert, dass der Beteiligungsprozess sich in bestimmten Regelungsvorschlägen im Themenfeld Kinderschutz nicht wiederfindet. Einhellig oder mit überwältigender Mehrheit getragene Positionierungen und Hinweise aus dem Dialogprozess Mitreden-Mitgestalten sind auch im Regierungsentwurf nicht berücksichtigt. Da nun in den Ausschüssen des Bundesrats teils weitere, der Konstruktion des Kinderschutzsystems in Deutschland diametral gegenläufige Änderungen empfohlen werden (Empfehlungen der Ausschüsse zur 1000. Sitzung des Bundesrates am 12. Februar 2021, BR-Drs. 5/1/21), droht aus Sicht der AGJ ein Einbruch der mühsam errungenen abgewogenen fachlichen Kinderschutzarbeit. Unbedingt Abstand genommen werden sollte daher

  • von der Einführung einer Meldepflicht in § 4 Abs. 3 KKG (57. Empfehlung BR-Ausschüsse),
  • von der Veränderung des Schutz- und Hilfeauftrags des Jugendamts hin zu einer polizeilichen Gefahrenabwehrbehörde, die bereits bei Verdacht vor Tätern warnt (§ 8a Abs. 3 S. 3 SGB VIII-E/6. Empfehlung BR-Ausschüsse)
  • von einer Umstellung des § 4 KKG-E, dessen Veränderung zu einer Mitteilungspflicht sowie der Ausformung der vorgeschlagenen Rückmeldepflicht (KJSG-RegE);
  • vom Anreiz, Fallverläufe als Kindeswohlgefährdung zu etikettieren (§ 73c SGB V-E) 
  • von der Verpflichtung zur Übersendung vollständiger Hilfepläne an das Familiengericht (§ 50 SGB VIII-E) [2].

Die AGJ warnt vor politischen Überlegungen, die Normierung einer Befugnis zur Mitteilung an das Jugendamt in eine Verpflichtung zu verwandeln (§ 4 Abs. 3 KKG-E/57. Empfehlung BR-Ausschüsse). Vorgeblich wird damit der Ansatz verfolgt, Kinder schnell und effektiv zu schützen. Die AGJ geht jedoch gestützt auf Forschung zu Meldepflichten im Ausland davon aus, dass hiermit das Gegenteil erreicht wird. Es ist mehr als nur fragwürdig, wenn die Begründung zu diesem Änderungsansinnen unterstellt, dass Berufsgeheimnisträger*innen in der Kenntnis gewichtiger Anhaltspunkte für eine Kinderwohlgefährdung ihre bestehende Befugnis leichtfertig übergehen, sie aber nach Ersetzung dieser Befugnis durch eine (muss- oder auch soll-)Verpflichtung regelkonformer tätig werden würden. Diese Unterstellung übergeht, dass das Angebot von Vertraulichkeit für etliche Akteure im Kinderschutz die zentrale Voraussetzung ist, um Kinder und Jugendliche schützen zu können. So könnten spezialisierte Beratungsstellen zum sexuellen Missbrauch bei Einführung einer Pflicht zur unverzüglichen Meldung an das Jugendamt ihr niederschwelliges Angebot an Kinder und Jugendliche, sich zu öffnen, oder an Bezugspersonen, sich mit ihrem Verdacht anzuvertrauen, nicht mehrrealisieren. Zugänge zu Schwangerschaftsberatungsstellen, Frauenhäusern oder Frauenberatungsstellen würden versperrt, weil diese unverzüglich informieren müssten. Die Frühen Hilfen würden in weiten Teilen ihre Niedrigschwelligkeit einbüßen – um nur einige der Konsequenzen zu benennen.

Der Vorschlag, das Jugendamt zu verpflichten, bei Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung öffentliche Warnungen auszusprechen (§ 8a Abs. 3 S. 3 SGB VIII-E/6. Empfehlung BR-Ausschüsse), würde den bisherigen Schutz- und Hilfeauftrag des Jugendamtes grundlegend hin zu einer Aufgabe der polizeilichen Gefahrenabwehr verändern. Gerade die Rechtsprechung in der Folge des Staufener Missbrauchsfalls hat jedoch gezeigt, dass das Jugendamt auch bei Kenntnis, dass ein wegen sexuellen Missbrauchs Verurteilter mit einem Kind zusammenlebt, das Kind nicht einfach aus der Familie nehmen darf, sondern in Aufgaben zum Schutz und zur Hilfe gefragt ist. Müsste das Jugendamt Arbeitgeber, Sportvereine oder weitere Dritte vor dem Täter warnen, könnte es diesem Auftrag nicht mehr nachkommen. Außerdem droht die Normkonstruktion durch die Kombination von einem vagen Anlass („Tatsachen“, „nahelegen“, „unbestimmte Anzahl von Fällen“) mit einer harten Pflicht („hat“) Unklarheiten zu erzeugen und zu im Einzelfall unangemessenen Ergebnissen zu führen. So kommt es bspw. in Kindertageseinrichtungen immer wieder zu einem Verdacht auf sexuellen Missbrauch durch männliche Erzieher. Dieser bestätigt sich oftmals nicht. Wenn das Jugendamt nun die Pflicht hätte, Dritte wie die Familie des Erziehers, den Träger der Jugendarbeit oder andere Akteure, bei denen sich der Erzieher in seiner Freizeit engagiert, über den Verdacht zu informieren, hätte dies grundlegende Folgen für den weiteren Lebensweg des ggf. falsch Verdächtigten. Das völlige Fehlen von Kriterien für die schwierigen Abwägungsfragen in der Vorschrift lässt sie in einem so sensiblen Regelungsbereich inakzeptabel erscheinen.

Der aktuelle Aufbau des § 4 KKG verdeutlicht die Handlungsreihenfolge, welche die Berufsgeheimnisträger*innen in Fällen, in denen sie gewichtige Anhaltspunkte auf eine Kindeswohlgefährdung sehen, einhalten sollen. Die Umstellung konterkariert nicht nur die Fortbildungs- und Aufklärungsarbeit sowie die vielfältige Konzeptentwicklung, die hierzu seit Inkrafttreten des Bundeskinderschutzgesetzes unternommen wurde, sondern würde darüber hinaus einen hohen Aufwand für die Überarbeitung der Konzepte, ja sogar der medizinischen Leitlinie „Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie)“3 erforderlich machen. Sie lässt die eigene Handlungspflicht der Berufsgeheimnisträger*innen nach hinten rücken, obgleich diese in den Fokus zu rücken eine der Errungenschaften des Bundeskinderschutzgesetzes war. Das Argument, es brauche eine Verdeutlichung gegenüber den Berufsgeheimnisträger*innen, dass sie ein Offenbarungsrecht gegenüber dem Jugendamt in Kinderschutzfällen haben, kann nicht überzeugen. Wer eine Norm „Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung“ jetzt noch nicht zu Ende liest, wird dazu nach der vorgeschlagenen Umstellung erst Recht keinen Anreiz mehr sehen. Die bisherige Regelung betont und stärkt den eigenen Beratungs- und Unterstützungsauftrag der Berufsgeheimnisträger*innen. Durch dieses Nutzen des Zugangs zur Familie im Rahmen des bestehenden Vertrauensverhältnisses gelingen (mit Wissen und möglichst auch Wollen der Betroffenen) die erfolgversprechendsten Überleitungen an das Jugendamt, was unbedingt beibehalten werden sollte.

Zur Rückmeldepflicht (§ 4 Abs. 4 KKG-E) ist der AGJ wichtig hervorzuheben, dass sie keinesfalls gegen Rückmeldungen an sich ist. Die AGJ begrüßt vielmehr auch die erfolgte Nachbesserung, dass Rückmeldungen nicht nur für Berufsgeheimnisträger*innen aus den Heilberufen erfolgen sollen. Allerdings ist die vorgeschlagene Ausgestaltung der Rückmeldung dringend nachbesserungsbedürftig, da sie keine Differenzierung danach zulässt, ob es infolge der Mitteilung an das Jugendamt eine vertiefte Einbeziehung in das Schutzkonzept braucht oder ob nicht vielmehr eine einfache Rückmeldung angemessen ist. Hier reicht, dass sich das Jugendamt mit dem eingegangenen Hinweis auseinandersetzt, ohne dass weitere Informationen zur Familie weitergegeben werden und damit das Vertrauen aus der Arbeitsbeziehung der Betroffenen mit dem Jugendamt gefährdet werden würde. Es irritiert, dass zwar die datenschutzrechtliche Berechtigung für Rückmeldungen (§ 64 Abs. 4 SGB VIII-E) durch den KJSG-RegE eingefügt wurde, aber offenbar keine Auseinandersetzung mit der für das Datenschutzrecht so bedeutsamen Abwägung stattgefunden hat. Dem Interesse am Erhalt einer zum Fallverlauf angereicherten Rückmeldung steht nicht nur die für die soziale Arbeit und den Kinderschutz so essenzielle Transparenz gegenüber der Familie, sondern eben auch das als Grundlage für die Arbeitsbeziehungen mit der Familie notwendige Vertrauensverhältnis gegenüber. Auch Personen, die dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung mitgeteilt haben, sind aus vielfältigen Gründen nicht automatisch in ein Schutzkonzept eingebunden und sollten das auch weiterhin nicht sein. Der Vorschlag des § 4 Abs. 4 KKG-E vereinfacht diese Komplexität in einer Weise, die dem Kinderschutz widerspricht.

Zu § 73c SGB V-E hat die AGJ bereits eingebracht, dass die Abrechenbarkeit der Zusammenarbeit der Vertragsärzte mit den Jugendämtern ein wichtiger Baustein für das Gelingen multidisziplinärer Zusammenarbeit im Interesse der gemeinsamen Adressat*innen ist. Die Formulierung greift aber weder die bereits gesetzlich vorgegebene Zusammenarbeit im Bereich der Behandlung, Beratung und Unterstützung (vgl. § 36 Abs. 3 SGB VIII) auf noch berücksichtigt sie die für den Kinderschutz so wichtige Kooperation im präventiven Bereich. Die Formulierung setzt vielmehr einen fatalen Anreiz der verfrühten Etikettierung von Fallverläufen unter das Label Kindeswohlgefährdung.

Noch kritischer steht die AGJ dem Vorhaben gegenüber, eine Verpflichtung zur Übersendung von Hilfeplänen in familiengerichtlichen Verfahren aufzunehmen (§ 50 Abs. 2 SGB VIII-E). Dieser Vorschlag überdeckt im Schein einer vollständigen Informationsübermittlung durch ein bürokratisches Übersenden, dass es eigentlich eine zielgerichtete Weitergabe und Aufbereitung der vom Familiengericht für seine Entscheidungsfindung benötigten Informationen bräuchte, die diese im Sinne einer fachbehördlichen Expertise aufarbeitet. Die Rückwirkungen der vorgeschlagenen Veränderung auf den Charakter des Hilfeplans sind von immensem Nachteil. Das Wissen darum, dass alles von Dritten (Familiengericht und potenziellen Verfahrensbeteiligten) gelesen werden wird, schadet dieser vertrauensvollen Dokumentation der Arbeitsbeziehung entlang des Hilfeprozesses. Es liegt nahe, dass Betroffene nochmals verstärkt prüfen, inwiefern sie vor diesem Hintergrund private Informationen überhaupt einbringen, was wiederum der Wirksamkeit der Hilfe enorm schaden kann. Die AGJ fordert nachdrücklich, diesen Vorschlag zu korrigieren und – statt die Übersendung von „allem“ zu verlangen – den Jugendämtern zuzutrauen, angemessene Fachberichte an die Familiengerichte zu verfassen. Sinnvoll wäre aus Sicht der AGJ eine Pflicht zur Berichterstattung der Jugendämter gegenüber den Familiengerichten, mit der der für die Entwicklung des Kindes vertretbare Zeitraum erfasst und der Stand der Perspektivklärung sowie die Arbeit an einer Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie nach § 37c Abs. 2 SGB VIII-E erläutert werden.

Die AGJ begrüßt hingegen die ausdrückliche Öffnung der möglichen Einbeziehung von mehr Berufsgeheimnisträger*innen in die Beratung zur Gefährdungseinschätzung des Jugendamtes nach einer Mitteilung wegen Anhaltspunkten auf Kindeswohlgefährdung (§ 8a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB VIII-E).
Die AGJ begrüßt ferner, dass bei der Einführung der Informationspflicht der Strafbehörden bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung (§ 5 KKG-E) eine Angleichung an die im Kinderschutzbereich sonst übliche Begrifflichkeit erfolgt ist und so – anders als noch im KJSG-RefE – klargestellt wird, dass hier kein anderer Gefährdungsgrad als Schwelle der Mitteilung ans Jugendamt gemeint ist. Auch die Erweiterung in Absatz 2 auf solche Personen, die regelmäßigen Umgang mit einem/einer Minderjährigen haben oder haben werden, trägt die AGJ mit.

Bezogen auf die Vorgabe zum behördenübergreifenden Zusammenwirken in JGG-Verfahren (§ 52 Abs. 1 SGB VIII-E, § 37a JGG-E) regt die AGJ nochmals an, zwischen der Verpflichtung zu fallübergreifender, struktureller Zusammenarbeit und der Einzelfallkooperation zu unterscheiden, da nur so deutlich wird, dass bei letzterer auch Vertrauensgesichtspunkte zu berücksichtigen sind.
Zu den Änderungen im KJSG-RegE im Vergleich zum KJSG-RefE im Bereich der Betriebserlaubnis hat aus Sicht der AGJ besonders die Veränderung an der Definition des Einrichtungsbegriffs Bedeutung. Die vorgeschlagene Definition teilt die AGJ dabei grundsätzlich. Den nun in Satz 1 vorgeschlagenen Einschub „unter der Verantwortung eines Trägers“ hätte die AGJ als Klarstellung im letzten Halbsatz des Satzes 2 besser platziert gesehen. Kritisch steht die AGJ jedoch dem im KJSG-RegE erstmals vorgeschlagenen Landesvorbehalt zu familienähnlichen Betreuungsformen (§ 45a S. 4 SGB VIII-E) gegenüber. Der AGJ ist bewusst, dass mit dieser Ergänzung auf den Vorwurf reagiert wird, dass über den vorgeschlagenen Einrichtungsbegriff (Satz 1) und die diesbezügliche Klarstellung zu familienähnlichen Betreuungsformen (Sätze 2 und 3) noch Lücken zwischen der Erlaubnispflicht wegen Zugehörigkeit zu einer betriebserlaubnispflichtigen Einrichtung (gem. §§ 45 ff. SGB VIII) und der Erlaubnispflicht als Pflegeverhältnis (gem. § 44 SGB VIII, sofern keine Ausnahme des Absatz 1 Satz 2 einschlägig ist) verbleiben würden. Die AGJ teilt diese Kritik nicht, sondern befürchtet vielmehr, dass die Ergänzung des Satzes 4 Rechtsunsicherheit provozieren würde, da der Eindruck entsteht, eine solche Lücke würde bestehen. Wenn einzelne Länder familienähnliche Wohnformen trotz fehlender übergeordneter Leitungsverantwortung eines Trägers und trotz dauerhafter Zuordnung der aufgenommenen jungen Menschen zur betreuenden Fachkraft (und damit eigentlich einer Erlaubnispflicht gem. § 44 SGB VIII zur Vollzeitpflege) der stationären Betreuung i. S. d. § 34 SGB VIII in einer Einrichtung zuordnen, erfolgt dies in Missachtung dogmatischer Erwägungen zum Einrichtungsbegriff aufgrund von pragmatischen Erwägungen, um so den Zugang zu den fachlich als angemessen anzusehenden höheren Vergütungssätzen zu eröffnen. Eine Erlaubnislücke besteht auch nicht, obgleich in diesen Fällen i. d. R. die Ausnahme des § 44 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII (Aufnahme des/der Minderjährigen durch die Pflegeperson im Rahmen einer Leistungsbewilligung gem. §§ 27 oder 35a SGB VIII) greift. Denn hier erfolgt die Überprüfung eben im Rahmen der Hilfeplanung durch das leistungserbringende Jugendamt. Die bisher drängende Schutzlücke (durch zu wenig Wissen über die Pflegeperson bzw. die nicht als Einrichtung einzuordnende familienähnliche Wohnform) wird durch die nunmehr vorgeschlagene Beteiligung des örtlichen zuständigen Jugendamtes, in dessen Bereich die Pflegeperson ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, bei deren Belegung einer Pflegestelle durch ein anderes Jugendamt geschlossen (§ 37c Abs. 3 S. 4 SGB VIII-E). Diesen neuen Vorschlag begrüßt die AGJ ausdrücklich.

Die AGJ unterstützt die Anpassung der Vorgaben zum Erheben und Speichern von Daten aus der Einsichtnahme in Erweiterte Führungszeugnisse (§ 72a Abs. 5 SGB VIII-E), hätte allerdings die Neuschaffung eines Negativ-Attests hinsichtlich der Eintragung von einschlägigen Straftaten für eine noch bessere Lösung gehalten, um den bestehenden Praxisproblemen entgegenzuwirken.
Die AGJ würde es darüber hinaus begrüßen, wenn die mit dem Reformprozess intendierte Verbesserung des Kinderschutzes auch dazu führen würde, dass in § 43 SGB VIII klargestellt wird, dass auch Kindertagespflegepersonen zur Arbeit auf Grundlage von Kinderschutzkonzepten verpflichtet sind und die Finanzausstattung der Bundesstiftung Frühe Hilfen angemessen erhöht wird (§ 3 Abs. 4 KKG). 

2. Stärkung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen und Pflegefamilien

Die AGJ begrüßt die vorgesehene Stärkung von Kindern, Jugendlichen sowie von ihren Herkunfts- und Pflegeeltern. Sie erkennt im KJSG eine wertvolle Betonung der Subjektstellung der Adressat*innen durch das Recht (Einbeziehung der Geschwisterperspektive, Beteiligung unabhängig vom Sorgerechtsstatus, eigene Beratungs- und Unterstützungsansprüche). 
Der AGJ ist es in diesem Reform-Bereich wichtig, auf die Situation von jungen Menschen am Übergang aus der Kinder- und Jugendhilfe hinaus (Care Leaver) erneut einzugehen. Wie bereits in der Stellungnahme zum KJSG-RefE herausgearbeitet, begrüßt die AGJ grundsätzlich die Neugestaltung und das Anheben des Verpflichtungsgrads der Hilfen für junge Volljährige (§ 41 Abs. 1 S. 1 SGB VIII-E). Die AGJ bedauert jedoch, dass in der Normierung der Tatbestandsvoraussetzungen bislang die Chance verpasst wird, klarzustellen, dass neben einem Bedarf in der Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen auch die Stabilisierung seines/ihres Bildungsverlaufs anspruchsauslösend ist. Hierdurch würden (Hilfe-)Erfolge der jungen Menschen auf ihrem Weg zu einer eigenständigen Lebensführung abgesichert und diese wären weniger gezwungen, sich in ihrem Streben um eine Verlängerung der Hilfe defizitär darzustellen.

Der AGJ ist zudem wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich nicht nur sie selbst, sondern die große Mehrheit der Beteiligten am Dialogprozess Mitreden-Mitgestalten für den vollständigen Verzicht auf eine Kostenheranziehung von jungen Menschen (§ 94 Abs. 6 S. 1 SGB VIII-E) ausgesprochen hat. Anders als in der Aussprache zur 1. Lesung im Bundestag am 29.01.2021 berichtet, haben sich nach Kenntnis der AGJ nur die kommunalen Spitzenverbände für eine Kostenheranziehung ausgesprochen.
Eine tragfähige Verfahrensregelung für Übergänge zu anderen Sozialleistungssystemen zu finden, ist ein bedeutsames Anliegen innerhalb der Reform, das die AGJ entschieden unterstützt. Die vorgeschlagene Klärung des Übergangsprozesses durch den Abschluss von Verwaltungsvereinbarungen (§ 36b Abs. 1 SGB VIII-E, vgl. zu Absatz 2 im Themenbereich Inklusion) erscheint zwar auf den ersten Blick als sinnvolle Einbeziehung aller Beteiligter auf Augenhöhe. Bei genauerem Überlegen ist aber zu befürchten, dass die Vorgabe als allenfalls formaler, bürokratischer Akt in der Praxis umgesetzt werden wird. Die AGJ vermisst nicht nur eine ausdrückliche Verpflichtung zur Beteiligung der betroffenen Bürger*innen, sondern auch die Verpflichtung der anderen Sozialleistungsträger zur Beteiligung an der Übergangsgestaltung. Es bleibt zu befürchten, dass diese ohne eigene gesetzliche Aufforderung die Kooperationsbemühungen von Seiten der Jugendämter ignorieren – worauf übrigens auch schon vielfach zur unidirektionalen Kooperationsverpflichtung des § 81 SGB VIII hingewiesen wurde. Um wirklich zu verhindern, dass keine Leistungslücke durch den Übergang entsteht, braucht es eine klare Vorgabe zur Zuständigkeit (weitergreifend bis die Übernahme tatsächlich erfolgt ist), ergänzt durch eine Kostenerstattungspflicht des verzögernden Leistungsträgers.
Die AGJ begrüßt Hinweise aus dem parlamentarischen Raum, wonach auch Überlegungen zu gemeinsamen Wohnformen von Müttern/Vätern und Kindern (§ 19 SGB VIII) nochmals aufgegriffen werden sollen. Neben der angedeuteten Erweiterung einer gemeinsamen Unterbringung der ganzen Familien als zeitlich begrenzte Intervention und Unterstützung ist es der AGJ wichtig, darauf hinzuweisen, dass es in Fällen einer voraussichtlich vorübergehenden Inobhutnahme sehr sinnvoll sein kann, wenn die Mutter/der Vater in der Einrichtung verbleiben und hier auf die Rückführung vorbereitet wird, statt den Schock der Inobhutnahme allein und verbunden mit Verlassen der Einrichtung verarbeiten zu müssen. Beide Vorgehensweisen sind bereits aktuell als Hilfe zur Erziehung gem. § 27 Abs. 2 SGB VIII möglich, eine Änderung der Norm kann jedoch ein wichtiger Impuls für die verlässliche Weiterentwicklung der Praxis sein.

Auf die Beteiligung des örtlich zuständigen Jugendamtes der Pflegeperson bei deren Auswahl durch ein anderes Jugendamt (§ 37c Abs. 3 S. 4 SGB VIII-E) wurde oben bereits eingegangen. Die AGJ begrüßt die Schließung der Lücke im Kinderschutz nachdrücklich.
Ausdrücklich positiv möchte die AGJ schließlich die durch den KJSG-RegE vorgenommene Korrektur am Vorschlag zur Aufhebung der Dauerverbleibensanordnung (§ 1696 Abs. 3 BGB) hervorheben. In den parlamentarischen Gesprächen mit Abgeordneten der Regierungsfraktionen hatte die AGJ ihre Kritik zur vorherigen Fassung eingebracht, woraufhin zunächst auf die schwierigen politischen Verhandlungen zur gesamten Dauerverbleibensanordnung verwiesen worden war. Die im KJSG-RegE erfolgte Änderung nimmt die AGJ als klares Zeichen konstruktiver Kritikfähigkeit auf. Problematisch erscheint, dass die Dauerverbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 S. 2 BGB-E zukünftig nur auf Antrag der Eltern aufgehoben werden soll. Zum Wohl des Kindes kann es erforderlich sein, dass ein Pflegekind zwar nicht zu seinen Eltern zurückkehrt, aber aus der Pflegefamilie herausgenommen und anderweitig untergebracht wird. Möglicherweise als selbstverständlich übersehen wurde, dass es daher neben dem Antragsrecht der Eltern auch eines gesetzlich gesicherten Initiativrechts des Jugendamtes zur Aufhebung der Dauerverbleibensanordung braucht.

Ergänzend möchte die AGJ zur vorgeschlagenen Ergänzung der Norm zum Kindeswohlprinzip bei einem Leben in Familienpflege (§ 1697a Abs. 2 S. 2 BGB-E) anregen, statt der Berücksichtigung von „kontinuierlichen und stabilen Lebensverhältnissen“ eine Berücksichtigung von positiven und stabilen Bindungen vorzugeben, da Kontinuität ohne positive Bindungen von nachrangiger Bedeutung für das Kindeswohl ist. 

3. Hilfen aus einer Hand für Kinder mit und ohne Behinderung

Das Anliegen, Exklusion entgegenzuwirken, die Kinder- und Jugendhilfe inklusiv weiterzuentwickeln und hierfür (nicht als alleinigen, aber doch entscheidenden Schritt) die durch die sozialrechtlichen Zuständigkeitsregeln provozierte Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen mit körperlicher oder geistiger Behinderung sowie ihrer Familien aus der Kinder- und Jugendhilfe zu beenden, ist für die AGJ zentrales fachpolitisches Ansinnen.

Bereits in den Vorschlägen des KJSG-RefE vermisst die AGJ die deutliche Verpflichtung zur Herstellung der sogenannten Gesamtzuständigkeit unter dem Dach des SGB VIII (der „großen“ bzw. inklusiven Lösung). Sie war aber bereit, das dreischrittige Vorgehen als politischen Kompromiss und das Zugeständnis einer hinreichend langen Umsetzungsphase hinzunehmen. Aus Sicht der AGJ sind die Veränderungen durch den KJSG-RegE in diesem Reform-Bereich allerdings eine gravierende Verschlechterung im Vergleich zum KJSG-RefE. So klein sie im Einzelnen erscheinen mögen, stellen sie doch eine Hinterfragung des gesellschafts- und sozialpolitisch überfälligen ganzheitlichen Blicks und der ganzheitlichen Unterstützung dieser Familien durch die Kinder- und Jugendhilfe dar. Die AGJ stellt nicht in Zweifel, dass auch bei einer Überführung der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit körperlicher oder geistiger Behinderung aus dem SGB IX ins SGB VIII Schnittstellen zu anderen Sozialleistungsbereichen (Reha-Träger wie die gesetzliche Krankenversicherung, aber auch die Pflegeversicherung) verbleiben. Was die Jugendämter auszeichnet – anders und mehr als die öffentlichen Träger der Eingliederungshilfe, selbst wenn man diesen einen erfolgreichen Kulturwandel i. S. d. Anliegens des BTHG unterstellt, ist , die Entwicklungsherausforderungen jedes Minderjährigen nicht nur auf diesen bezogen zu betrachten, sondern die Familie des jungen Menschen mitzudenken. Jugendämter treibt fachlich das Anliegen an, die jungen Menschen und ihre Familien als sich stützendes, miteinander verflochtenes System zu begreifen und Unterstützung dort anzubieten, wo diese gebraucht wird – zugunsten des jungen Menschen mit Behinderung, zugunsten seiner Eltern und eben auch zugunsten der Geschwisterkinder. Anders als das immer noch zu häufig kolportierte Schreckgespinst einer übergriffigen Behörde geht es gerade um eine Stärkung der Selbstwirksamkeit der Familien. Soweit allein eine behinderungsspezifische Leistung für den jungen Menschen ausreicht, wird sich die Kinder- und Jugendhilfe (schon aufgrund der fiskalischen Grenzen) nicht mit mehr Hilfen aufdrängen, sondern allenfalls die ihr als Fachbehörde zum Aufwachsen junger Menschen zur Verfügung stehenden Angebote sichtbar machen und Türen zu inklusiven Leistungen mit anderen jungen Menschen öffnen.

Echte Empörung hat innerhalb der AGJ ausgelöst, dass die vorgeschlagene Aufnahme des modernen Behinderungsverständnisses in die Begriffsbestimmungen (§ 7 Abs. 2 SGB VIII-E) unmittelbar wieder ausgehebelt wird bezogen auf die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit (drohender) seelischer Behinderung (§ 35 Abs. 1 S. 2 SGB VIII-E). Das Verständnis von Behinderung beruht auf der UN-Behindertenrechtskonvention und ist in § 2 Abs. 1 SGB IX für alle Rehabilitationsträger niedergelegt. Diesen Behinderungsbegriff als durch die Leistungsgesetze „modifizierbar“ darzustellen (Begründung KJSG-RegE S. 75), verkennt dessen grundlegende Bedeutung. Die AGJ hat bereits zum KJSG-RefE 2020 angemahnt, dass im Gegenteil eine Anpassung des § 35a Abs. 1 SGB VIII an die Vorgaben der immerhin seit 2009 in Deutschland in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention und an § 2 Abs. 1 SGB IX überfällig ist. Die Kinder- und Jugendhilfe prüft zwar aufgrund ihres systemischen Verständnisses Wechselwirkungen zwischen Gesundheitsbeeinträchtigung und Umweltbarrieren seit langem, in § 35a SGB VIII wird dies jedoch nicht deutlich. Der vermeidbare Auslegungsstreit und die Verunsicherung der Praxis sollte durch den Gesetzgeber ausgeräumt werden. Hier besteht dringender Handlungsbedarf für das Parlament!

Zumindest kurz möchte die AGJ zudem anmerken, dass auch der Versuch, die Bedeutung von Ausführungen zur Teilhabebeeinträchtigung in der ärztlichen Stellungnahme klarzustellen (§ 35a Abs. 1a S. 4 SGB VIII-E), bislang nicht gelungen ist und der Vorschlag Fragen im Verhältnis zu § 17 SGB IX aufwirft. Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) und einzelne Stimmen im Fachdiskurs leiten aus dem Wortlaut des Absatzes 1a „Stellungnahme“ ab, dass es sich um gar kein Gutachten i. S. d. § 17 SGB IX handele und die hierfür normierten Vorgaben (Benennung von drei wohnortnahen Sachverständigen, Fristen etc.) nicht gelten würden. Teile der Praxis versuchen, die strengen Fristenregelungen der §§ 14, 15 SGB IX zu umgehen, indem sie ohne Vorlage der ärztlichen Stellungnahme bzw. eines Gutachtens eingereichte Anträge als nicht vollständig bewerten, weshalb der Fristlauf nicht in Gang gesetzt werde. Beide Entwicklungen konterkarieren die Intention des BTHG und sollten ebenfalls durch ein klares Signal des Gesetzgebers unterbunden werden. Der Verweis auf die Geltung der Vorschriften des SGB IX zum Teilhabeplanverfahren (§ 36 Abs. 3 S. 3 SGB VIII-E) ist ein guter Schritt, an den bezogen auf die Fristauswirkungen der Absatz 1a-Stellungnahmen angeschlossen werden muss.

Außer Frage dürfte inzwischen stehen, dass das gegliederte Sozialleistungssystem Hürden birgt, die für Bürger*innen eine Wahrnehmung ihrer Leistungsrechte erschweren. Der Gesetzgeber versucht, dieser Problematik zunehmend gegenzusteuern. Auch das KJSG greift dies auf. Die AGJ ist der festen Überzeugung, dass es zur wirksamen Unterstützung von Kindern mit Behinderung und ihrer Familien mehr als eine Schnittstellenbereinigung oder gute Überleitungen braucht. Hierauf verkürzt der KJSG-RegE die Reform jedoch. Kinder mit und ohne Behinderung müssen zuvörderst als Kinder mit ihren spezifischen Bedarfen im Aufwachsen gesehen werden. Sie sind als Teil einer Familie anzuerkennen, die durch viele Faktoren geprägt ist. Die Veränderungen vom KJSG-RefE zum KJSG-RegE zur Beratung und zum Übergang mögen bei flüchtiger Betrachtung kaum ins Gewicht fallen, nehmen aber die Zuversicht, dass der angestrebte ganzheitliche Blick auf den jungen Menschen mit Behinderung und seine Familie wirklich noch gewollt ist. Nachbesserungen im Sinne dieses Anliegens blieben am KJSG-RefE zudem aus, so dass zusammengenommen die versprochene große Lösung, die in sorgfältig abgewogenen Teilschritten vollzogen werden sollte, kaum noch zu erkennen ist. Der Bundestag sollte sich diesem Herzensanliegen der Fachszene mit höchster Dringlichkeit zuwenden. Die Fachdisziplinen übergreifende Bedeutung wurde sowohl in der entsprechenden Debatte im Dialogprozess „Mitreden-Mitgestalten“ wie auch im Appell „Exklusion beenden: Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen und ihre Familien!“ hervorgehoben.

Die AGJ kritisiert, dass in § 10a SGB VIII-E der Beratungsanspruch auf die Wahrnehmung der Rechte nach dem SGB VIII verkürzt wurde.
In § 36b Abs. 2 SGB VIII-E wurde zwar sinnvollerweise an das Teilhabeplanverfahren angeknüpft, die Norm aber so verwirrend gefasst, dass Verwaltung sie wohl nicht als handlungsleitend lesen wird. Die AGJ fordert, dass die Beteiligung der Adressat*innen auch in diesem Teilhabeplanverfahren zum Übergang ebenso wie die Durchführung einer Teilhabeplankonferenz verbindlich festgelegt wird. Die Hinweise zum Teilhabeplanverfahren sollten übersichtlicher gestaltet werden. Die AGJ unterstützt daher die 22. Empfehlung BR-Ausschüsse sehr. 

Die beratende Teilnahme der Jugendämter an Gesamtplanverfahren minderjähriger Leistungsberechtigter, die aufgrund des zeitlichen Verschiebens der inklusiven Lösung ja vorerst im Zuständigkeitsbereich der Eingliederungshilfeträger verbleiben (§ 10a Abs. 3 SGB VIII-E, § 117 Abs. 6 S. 1 SGB IX-E), würde zwar die Fachexpertise zu den Herausforderungen des Aufwachsens und kindlicher Entwicklung in diese Verfahren bringen. Es ist fachlich nicht nachvollziehbar, dass sowohl über die Einschränkung „soweit dies zur Feststellung der Leistungen der Eingliederungshilfe nach den Kap. 6 bis 6 erforderlich ist“ sowie die Abweichoption der Träger der Eingliederungshilfe (§ 117 Abs. 6 S. 2 SGB IX-E) die Glaubhaftigkeit dieses Ansatzes unterwandert wird. Um das Instrument nicht leerlaufen zu lassen, muss beides gestrichen werden.

Hinsichtlich des Vorschlags der vorübergehenden Einführung von Verfahrenslotsen (§ 10b SGB VIII-E) hat die AGJ bereits zum KJSG-RefE deutlich gemacht, dass sie diesen Vorschlag als befristeten Versuch einer zusätzlichen Unterstützung der Adressat*innen beim Zurechtfinden im gegliederten Sozialleistungssystem und gleichzeitigen Weg des Ressourcenaufbaus in den Jugendämtern zur Vorbereitung des Zuständigkeitsübergangs der Eingliederungshilfe für Minderjährige mit körperlicher oder geistiger Behinderung aus dem SGB IX-2. Teil ins SGB VIII mitträgt. Dennoch ist ihr wichtig anzumerken, dass die vorgesehene Doppelfunktion der Verfahrenslotsen (Einzelfallberatung gem. Absatz 1, Beitrag zur Organisationsentwicklung gem. Absatz 2) zwei unterschiedliche Aufgabenbereiche umfasst, deren parallele Umsetzung durch eine Fachkraft nicht einfach sein wird, zumal aus dem Gesetzesentwurf nicht eindeutig hervorgeht, wo diese Fachkräfte perspektivisch angesiedelt werden sollen. Die AGJ vertritt einen entsprechenden Kompetenzaufbau in den Jugendämtern. Auch verweist die AGJ darauf, dass diese Phase als Test zu verstehen ist, mit dem für eine spezifische Adressat*innengruppe zusätzliche spezifische Beratungskapazitäten zur Verfügung gestellt werden. Die AGJ geht davon aus, dass eine solche Unterstützung auf dem Weg zur Wahrnehmung ihrer Leistungsrechte auch für andere Zielgruppen (Care-Leaver*innen, Eltern mit psychischen Erkrankungen und Existenzsicherungsbedarf) sehr sinnvoll wäre.

Mit völligem Unverständnis wurde innerhalb der AGJ wahrgenommen, dass die per se eher schwache gesetzgeberische Selbstverpflichtung (§ 10 Abs. 4 SGB VIII-E), für die Herstellung des Zuständigkeitsübergangs der Eingliederungshilfe für Minderjährige mit körperlicher oder geistiger Behinderung aus dem SGB IX-2. Teil ins SGB VIII zu sorgen, durch eine Übergangsregelung mit Festschreibung des Status quo (§ 107 SGB VIII-E) ergänzt wurde. Wenn durch die inklusive Lösung Probleme in der Praxis angegangen werden und eine Verbesserung der rechtlichen Lage von Kindern und Jugendlichen mit körperlicher oder geistiger Behinderung erreicht werden soll, darf man dieser Reform nicht von vorneherein jeden gestalterischen Wind aus den Segeln nehmen und zudem Kostenneutralität festschreiben. Geradezu absurd ist, dass diese Festschreibung des Status quo nach der Systematik des KJSG-RegE unmittelbar in allen Ausgaben des Achten Sozialgesetzbuches sichtbar werden wird, das Versprechen der Reform in § 10 Abs. 4 SGB VIII-E aber durch das spätere Inkrafttreten (bei gleichzeitiger Ablösung durch das angekündigte Bundesgesetz mit der eigentlichen Reform).

Als Beispiele verbleibender Leerstellen zulasten von Familien, in denen Familienmitglieder mit (drohender) Behinderung leben, hat die AGJ bereits zum KJSG-RefE benannt: eine fachlich dem Jugendhilfestandard entsprechende Begleitung der Pflegeeltern von Kindern mit Behinderung; Eltern von Kindern mit Behinderung im Alltag und im Freizeitbereich entlastende Angebote und Dienste, welche aktuelle nur unzureichend aus einem Abzweigen der Leistungen zu Verhinderungspflege und des Pflegegelds finanziert werden; Hilfen für Eltern mit Behinderung, bei denen aus der Formulierung des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII a.F. im Verhältnis zu § 78 Abs. 3 SGB IX resultierende Zuständigkeitsprobleme bislang allenfalls durch kreative Praxis gelöst werden. Im Parlament sollte anerkannt werden, dass auch mit der vorgeschlagenen Reform im Bereich Inklusion gesetzgeberisch einiges zu tun bleibt und es nicht sinnvoll ist, den Reformwillen von Anfang an zu beschneiden.

4. Mehr Prävention vor Ort

Die Frage, wie mehr Verbindlichkeit zur Absicherung einer bedarfsgerechten Finanzierung der niedrigschwelligen infrastrukturellen Angebote erreicht werden kann, treibt die Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe um. Die Sorge und das Erleben von Kürzungen in diesem für Prävention und Teilhabe wichtigen Bereich, der in besonderem Maß zum Ausgleich sozialer Ungleichheit und Inklusion beiträgt, ist weit verbreitet. Jenseits der wohl utopistischen Anregung einer durchgehenden Implikation von einklagbaren Rechtsansprüchen zu allen Leistungen und Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe erscheint der im KJSG gewählte Weg richtig, die Pflicht zur Planung und Bereitstellung einer bedarfsgerechten, niedrigschwelligen, sozialräumlichen Infrastruktur (§§ 79 Abs. 1 Nr. 1, 80 Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 3 i. V. m. 36a Abs. 2 S. 3 SGB VIII-E) zu schärfen.

Die AGJ begrüßt zudem die Klarstellung im Wortlaut zu den Angeboten der Familienförderung (§ 16 Abs. 1 S. 2 SGB VIII-E) dahingehend, dass diese weiter Erziehungsberechtigte bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsverantwortung unterstützen sollen.

Sehr nachdrücklich ist innerhalb der AGJ darauf hingewiesen worden, dass ein Aufgreifen der Finanzierungsprobleme in der Jugendsozialarbeit (§ 13 SGB VIII) sowie der Schulsozialarbeit in ihren unterschiedlichen Ausprägungsformen durch das KJSG unterblieb. Diskussionswürdig ist zudem der Vorschlag der Länder, die Schulsozialarbeit nicht mehr länger als Unterfall der Jugendsozialarbeit zu verstehen, sondern diese in einem eigenen Paragrafen zu regeln (15. Empfehlung BR-Ausschüsse). Die Jugendsozialarbeit hat insgesamt – auch während der Corona-Krise – sehr damit zu kämpfen gehabt, dass ihre Angebote teils durch die Jugendämter, teils die Jobcenter, teils den Europäischen Sozialfonds finanziert werden. Während der Kinder- und Jugendhilfe an einem Erhalt der Angebote und einer kreativen Umsteuerung auf digitale Angebote zugunsten der Zielgruppe lag, wurden in den anders finanzierten Bereichen Lücken hingenommen. Nicht zuletzt in diesem Schnittstellenbereich, aber auch an der Schnittstelle zum Gesundheitswesen (besonders zu Kinder- und Jugendpsychiatrie) stellen sich noch ungelöste Fragen einer Finanzierung integrierter oder kombinierter Hilfen, die einer Absicherung durch entsprechende Regelungen bedürfen. Auch an dieser Stelle ist es der AGJ nochmals wichtig, darauf hinzuweisen, dass ohne eine eigene gesetzliche Aufforderung der Schnittstellenpartner Kooperationsbemühungen von Seiten der Kinder- und Jugendhilfe immer noch häufig ignoriert werden. Es braucht daher spiegelbildliche Regelungen zur Kooperationsverpflichtung des § 81 SGB VIII in den anderen Sozialgesetzbüchern sowie für die Schule auf Landesebene.

Bezogen auf den Anspruch auf Betreuung und Versorgung in Notsituationen (§ 20 SGB VIII a.F. bzw. §§ 28a i. V. m. 36 Abs. 2 SGB VIII-E) sieht die AGJ die Potenziale, welche sich zugunsten von Adressat*innen, die zwischen Krisen und Ruhephasen schwanken (insb. Familien von Eltern mit psychischer Erkrankung und Sucht), durch die Implementierung einer solchen an erfolgreichen Praxismodellen orientierten „mitschwingenden und bei Erstarken des Bedarfs schnell zugänglichen“ Hilfeform in den Katalog der §§ 28 ff. SGB VIII ergibt, und hält die angestrebten Ziele für realistisch. Die AGJ bittet das Parlament, diese Chance der Erweiterung des per se offenen, der Praxis aber Orientierung gebenden Hilfekatalogs wahrzunehmen.

5. Mehr Beteiligung von jungen Menschen, Eltern und Familien

Große Fortschritte in der Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe sieht die AGJ im Themenbereich Beteiligung des KJSG. Dazu gehören die Implementierung von Selbstvertretung (§ 4a SGB VIII-E), Ombudsstellen (§ 9a SGB VIII-E), aber auch die an verschiedenen Stellen gestärkten Beratungs- und Beteiligungsansprüche (§ 4 Abs. 3, § 8 Abs. 3, §§ 10a, 36 Abs. 1 S. 2 und Abs. 5, §§ 37, 37a, 42 Abs. 2, § 45 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 SGB VIII-E).

Damit alle jungen Menschen in ihrer Vielfalt erkennbar in der Grundrichtung der Erziehung (§ 9 SGB VIII-E) erfasst und nicht gleichzeitig geschlechtsspezifische Angebote negiert werden, regt die AGJ an, statt der neutralen Fassung in Nr. 3 „der Geschlechter“ Jungen, Mädchen und jungen Menschen mit diversem Geschlecht im Wortlaut zu adressieren. Alternativ hätte sich die AGJ auch eine Nr. 3 und 4 zusammenfassende Benennung der unterschiedlichen Diversitätskriterien Geschlecht/Gender, Alter, Herkunft, Migrationshintergrund, Religionszugehörigkeit, sexuelle Orientierung, Bildung, soziale Lebenslage sowie Behinderung verbunden mit dem Auftrag, hiermit verbundene Benachteiligungen abzubauen und sich für gleichberechtigte Teilhabe einzusetzen, vorstellen können.

Ergänzend zu ihren Ausführungen zum KJSG-RefE ist es der AGJ ein Anliegen anzumahnen, dass der Versuch eine juristisch-formale Definition zu selbstorganisierten Zusammenschlüssen (§ 4a Abs. 1 SGB VIII-E) zu finden, nicht zu stark aufgeladen werden sollte. Es ist ein Charakteristikum von Selbstorganisationen, dass diese zunächst meist keine klare Form haben. Die AGJ befürchtet, dass nach der nochmaligen rechtstechnokratischen Veränderung im KJSG-RegE die Adressat*innen dieser Norm möglicherweise gar nicht mehr verstehen, dass sie gemeint sein könnten. Die AGJ nimmt wahr, dass hiermit der Versuch unternommen wird, eine vermeintlich uferlose Inanspruchnahme und unbequeme Gruppen abzuwehren. Aus Sicht der AGJ ist das weder sinnvoll noch nötig, da keine unmittelbare Förderpflicht aus der Norm hervorgeht, sondern diese vielmehr eine Infrastrukturverpflichtung beinhaltet, die nach Maßgabe der §§ 74, 77 SGB VIII umzusetzen ist.
Zum Vorschlag der gesetzlichen Implementierung von Ombudsstellen (§ 9a SGB VIII-E) nimmt die AGJ die Veränderungen durch den KJSG-RegE gegenüber dem KJSG-RefE als nochmals deutliche Verbesserung wahr. Die AGJ begrüßt, dass die Stellen in der Norm geschärft wurden, die zuvor als Einfallstor einer Aufweichung des spezifischen fachlichen Konzepts hätten missbraucht werden können. Wie schon mehrfach betont, ist die AGJ auch mit der Ausweitung des ombudschaftlichen Beratungsauftrags über die Hilfen zur Erziehung auf alle Leistungen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe grundsätzlich einverstanden. Die bisher in der Kinder- und Jugendhilfe bestehenden ombudschaftlichen Initiativen fokussieren auf den Bereich der individuellen Hilfen (zumeist §§ 27, 35a, 41, 13 Abs. 3, 19 SGB VIII, oft auch Inobhutnahmen gem. § 42 ff. SGB VIII), weil in diesen die strukturelle Machtasymmetrie besonders deutlich ausgeprägt ist. Die AGJ bittet zu berücksichtigen, dass ombudschaftliche Beratung in den anderen Leistungsbereichen konzeptionell und organisatorisch noch ganz neu entwickelt werden muss, da sich die hier geltenden Verfahren und Rechte stark von den Hilfen zur Erziehung unterscheiden. Den vorgeschlagenen Schritt der Implementierung von Ombudsstellen ins Kinder- und Jugendhilferecht (zunächst begrenzt auf die Hilfe zur Erziehung oder gleich auf das ganze Spektrum gem. § 2 SGB VIII) hält die AGJ für einen großen rechtsstaatlichen Gewinn. Durch diesen macht der Gesetzgeber deutlich, dass es in diesem Rechtsstaat eben nicht allein um Recht haben, sondern auch um vom Recht wissen, Recht bekommen und Recht gegebenenfalls auch durchsetzen geht.

Angesichts der weitreichenden fachlich-inhaltlichen Veränderungen, die innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe und für ihre Adressat*innen durch das KJSG teilweise in einem mehrjährigen Prozess umgesetzt werden sollen, unterstützt die AGJ den Vorschlag einer Evaluation dieses Prozesses. Sie befürwortet dabei eine pro- und retrospektive Evaluation im Rahmen einer unabhängigen Begleitforschung, die im Kontext einer Bund-Länder-Initiative gefördert und umgesetzt werden sollte.

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 11. Februar 2021

[1] Ansprechperson für diese Stellungnahme der AGJ ist die stellvertretende Geschäftsführerin. Angela Smessaert (angela.smessaert@agj.de).
[2] Vgl. AGJ-Stellungnahme „Was lange währt, wird endlich gut: Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen“, 2020, S. 3-4, 6, 20.
[3] Langfassung der Leitlinie „Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie)", S. 78 ff.