Auftrag und Anspruch politischer Bildung in der Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit.
Eine kritische Betrachtung des Status Quo.

Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ[1]

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Abstract

Die Auseinandersetzung mit Prozessen politischer Bildung ist insbesondere durch die Veröffentlichung des 16. Kinder- und Jugendberichtes (KJB) der Bundesregierung zum Thema „Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter“ im Jahr 2020 vermehrt in den Fokus der Aufmerksamkeit in den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe gerückt. Der 16. KJB liefert einen breiten und systematischen Überblick über die sozialen Räume, in denen junge Menschen politische Bildung erfahren und zeigt Handlungsempfehlungen und Entwicklungsperspektiven für die unterschiedlichen sozialen Räume und die dazugehörigen Akteur*innen auf. 

Mit dem vorliegenden Positionspapier richtet die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ ihren Blick auf politische Bildung in den Handlungsfeldern Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit und formuliert hier den Auftrag politischer Bildungsarbeit aus. Dabei stellt die AGJ fest, dass Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit einen wichtigen Beitrag zur Vermittlung demokratischer Haltungen und zur Ausgestaltung einer lebendigen Demokratie in Deutschland leisten. Junge Menschen werden zum politischen Handeln befähigt sowie dazu, selbstbestimmt agieren zu können und Diskurse kritisch infrage zu stellen. Zu erreichende Ziele der Kinder- und Jugendhilfe bleiben, allen jungen Menschen bedarfsgerechte und lebensweltbezogene Zugänge zu politischer Bildung zu bieten, das Bewusstsein in der Fachpraxis zu festigen sowie hierzu mehr Anstrengungen zu unternehmen.

Die AGJ diskutiert in ihrem Positionspapier weiter den Auftrag, den Stellenwert, die Ansätze und die aktuellen Herausforderungen politischer Bildung in der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit sowie die bestehenden und notwendigen Rahmenbedingungen. Dafür fordert die AGJ die Schaffung von Freiräumen für junge Menschen zur Persönlichkeitsentwicklung sowie Reibungsfelder zur persönlichen Entwicklung, in denen Aushandlungsprozesse und Perspektivwechsel stattfinden können. Als weitere wichtige Forderung nennt die AGJ die Entwicklung und Schaffung von Beteiligungsmöglichkeiten junger Menschen in ihren sozialen Räumen. Des Weiteren werden verlässliche Strukturen für Jugendpolitik und die Stärkung der Strukturen der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit gefordert sowie auf die Verantwortung der Träger der Kinder- und Jugendhilfe für politische Bildung hingewiesen. Dies schließt die Aus-, Fort,- und Weiterbildung der Fachkräfte ein, die aufgefordert werden, eine klare Haltung zu politischer Bildung zu entwickeln. Die AGJ macht deutlich, dass die Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit Verbündete für das Vorantreiben politischer Bildung benötigt und es zudem interdisziplinäre Diskurse und Kooperationen braucht. 

1. Einleitung 

Anknüpfend an die Veröffentlichung des 16. Kinder- und Jugendberichtes der Bundesregierung 2020 hat die Diskussion zu politischer Bildung und den sozialen Räumen, in denen junge Menschen politische Bildung erleben, erneut Rückenwind bekommen. Schon 2017 machte die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ in ihrem Positionspapier „Politische Bildung junger Menschen – ein zentraler Auftrag für die Jugendarbeit“[2] deutlich, dass politische Bildung unabhängig von aktuellen politischen Entwicklungen ein zentraler Bestandteil für das Aufwachsen junger Menschen ist.[3]

Die großen und globalen aktuellen Herausforderungen prägen die Lebenswelten und Zukunftsperspektiven junger Menschen einschneidend (Klimawandel, Krieg und Aufrüstung, Flucht, Migration, Pandemie etc....).[4] Beschleunigt werden die Veränderungsprozesse durch Globalisierungs- und Digitalisierungsphänomene. Der Auftrag politischer Bildungsarbeit ist, diese lebensweltlichen Phänomene und Krisen aufzugreifen und mit den Teilnehmer*innen zu reflektieren, um sie auf diesem Weg in ihrer Selbstpositionierung zu diesen Fragen zu unterstützen. Damit kommt der politischen Bildung insbesondere auch in diesen Tagen eine wichtige Aufgabe zu. Politische Bildung befähigt im besten Fall, die eigene Situation zu reflektieren, Selbstverantwortung und Verantwortlichkeit für die Gesellschaft zu erkennen und zu übernehmen, Zusammenhänge zu erschließen und gestaltend auf Prozesse einzuwirken. Aber politische Bildung ist nicht nur angesichts schwieriger gesellschaftspolitischer Entwicklungen grundlegend bedeutend, denn sie leitet ihren Auftrag gerade nicht daraus ab, „gesellschaftspolitische Feuerwehr“ zu sein. Vielmehr begründet sich ihre Notwendigkeit in der Tatsache, dass demokratische Werte und demokratisches Verhalten von jeder Generation stets erneuert und eingeübt werden müssen.

Nach § 1 des SGB VIII haben junge Menschen ein gesetzlich geschütztes Recht darauf, Unterstützung dabei zu erfahren, zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit heranzuwachsen. Politische Bildung ist ein Bestandteil dieses Unterstützungssystems. Die Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe sind somit gefordert, auf die Entwicklungen und Krisen zu reagieren und in ihre alltägliche Arbeit und Handlungskonzepte zu integrieren und dies zudem stetig zu reflektieren. Junge Menschen bei der Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen, beinhaltet auch die Mitgestaltung in gesellschaftlichen und politischen Diskursen und Entscheidungsprozessen. Daraus erwächst die Befähigung zum politischen Handeln sowie zum selbstbestimmten Agieren. Dies schließt die kritische Infragestellung der Diskurse sowie die Suche nach alternativen Entwicklungsmöglichkeiten mit ein. 

Die Kinder- und Jugendhilfe und hier insbesondere die Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit (§§ 11-13a[5] SGB VIII) und ihre Felder[6] leisten einen wichtigen Beitrag zur Vermittlung demokratischer Haltungen und zur Ausgestaltung einer lebendigen Demokratie in Deutschland. Nicht durchgehend geschieht dies jedoch bewusst in der Handlungspraxis der Fachkräfte der Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit. Die Bedeutung der politischen Sozialisation und Bildung wird in der jeweiligen Fachpraxis und von der allgemeinen Fachdebatte um politische Bildung oft nicht angemessen wahrgenommen und reflektiert. Um Potenziale für politische Bildung in den Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe besser zu nutzen, fordert die AGJ die politisch Verantwortlichen, die Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe selbst und die weiteren Akteur*innen der politischen Bildung [7] auf, politische Bildung als unverzichtbaren Bestandteil der Arbeit nach dem SGB VIII weiter zu stärken. Ziel dabei muss sein, allen jungen Menschen bedarfsgerechte und lebensweltbezogene Zugänge zu politischer Bildung zu bieten, das Bewusstsein in der Fachpraxis zu festigen sowie hierzu mehr Anstrengungen zu unternehmen. Schon der 15. Kinder- und Jugendbericht hielt eine Neupositionierung der politischen Jugendbildung für dringend notwendig.[8] 

Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass der Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe, zur Befähigung junger Menschen beizutragen, damit diese an der Gesellschaft teilhaben können, mit dem fachlichen und gesetzlichen Auftrag des anwaltschaftlichen Engagements gegenüber Entscheidungsträger*innen für die Interessen junger Menschen einhergeht. Es gilt also im Sinne der Anwaltschaftlichkeit für junge Menschen auf Grundlage eben dieses Wirkens mit den Adressat*innen auf politische Prozesse und Entscheidungsträger Einfluss zu nehmen. 

Zum Begriffsverständnis politischer Bildung in der Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit

Was wird in diesem Kontext als politische Bildung in der Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit verstanden? Die AGJ folgt dem Begriffsverständnis, dass der Gegenstand politischer Bildung „das Politische“ ist, womit nicht allein (Partei-)Politik und das Wissen über politische Systeme gemeint sind, sondern vielmehr die Art und Weise, wie Menschen gemeinsam ihre öffentlichen Angelegenheiten regeln.[9] Das heißt, wie sie miteinander verbunden sind, sich austauschen, sich miteinander für Themen stark machen und wie sie betreffende Angelegenheiten öffentlich aushandeln. Bezogen auf die Definition politischer Bildung in der Jugendarbeit/ Jugendsozialarbeit wird im Folgenden ein breites Verständnis des Begriffs zugrunde gelegt, das sich in einen Kontext von Partizipation, Mitbestimmung, freiwilligem Engagement und politischem Handeln einbettet. Damit ist politische Bildung nicht auf die Vermittlung von Wissen über politische Strukturen, Entscheidungen oder Ereignisse beschränkt. Insbesondere Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit knüpfen direkt an die Interessen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie Themen von Kindern und Jugendlichen an. Dabei unterstützen sie sie, eigene Anliegen zu artikulieren, machen ihnen die Zusammenhänge zwischen der eigenen Lebenssituation und den gesellschaftlichen Bedingungen deutlich und eröffnen Möglichkeiten, sie an deren Gestaltung zu beteiligen. Junge Menschen auf dieser Grundlage zur Selbstbestimmung, zu gesellschaftlicher Mitverantwortung sowie sozialem Engagement zu befähigen, ist der Kern politischer Bildung. 

Daraus folgt, dass allen nach §§ 11-13a SGB VIII normierten Arbeitsbereichen der Kinder- und Jugendhilfe politische Bildung inhärent ist und sein muss. Denn Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit will erfahrbar machen, welche Möglichkeiten es gibt, sich selbst zu Wort zu melden und sich in das gesellschaftliche und politische Geschehen einzumischen. Grundlegend ist dafür die Erfahrung der eigenen Selbstwirksamkeit sowie die Erkenntnis, dass individuelle Herausforderungen und Interessen auch politisch sein können. Politische Bildung ist in der Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit immer auch erlebtes demokratisches Handeln. Letztlich kann dieses Verständnis von politischer Bildung von den Begriffen Partizipation, Interessensorientierung und politisches Handeln gerahmt werden. Für diese Prozesse werden jungen Menschen Freiräume eröffnet, die sie selbstbestimmt nutzen und ihren Alltag gestalten können.[10]

2. Politische Bildung in der Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit – wie es ist

Selbstverständnis und Haltung von Akteur*innen der politischen Bildung in der Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit als unverzichtbare Grundlage 

Junge Menschen bringen ihre Themen, Fragen, Unsicherheiten und Wünsche als Teilnehmer*innen in Angebote der Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit ein. Dabei haben ihre Themen und Belange oftmals eine politische Dimension. In den Arbeitsbereichen der Kinder- und Jugendhilfe nach §11-13a SGB VIII muss politische Bildung somit selbstverständlicher Bestandteil der Arbeit und des Auftrags sein. Die gemeinsamen Ziele der Felder Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit „Offenheit der Angebote, Teilhabe- sowie Lebenswelt- und Sozialraumorientierung“ sind ein verbindendes Element der Arbeitsbereiche. Der Abbau sozialer Benachteiligung sowie die Förderung gesellschaftlicher und politischer Teilhabe sind Grundaufgaben und damit Dauerthemen der Kinder- und Jugendhilfe respektive der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit.[11] Dieses Verständnis müssen Fachkräfte, Träger und Zuwendungsgeber teilen, um die Angebote der Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit entsprechend gestalten zu können. Hierzu ist es für die Träger und insbesondere für die Fachkräfte unabdingbar, den jugendpolitischen Auftrag ihres Handels zu erkennen und wahrzunehmen.

Als zentrale Aufgabe einer subjektorientierten Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit leitet sich ab, junge Menschen im Prozess der Subjektwerdung darin zu unterstützen und dabei zu begleiten, ein selbstbewusstes und selbstbestimmtes Leben führen zu können. Dies meint, dass junge Menschen auf Grundlage einer bewussten Auseinandersetzung mit den gegebenen gesellschaftlichen Lebensbedingungen dazu befähigt werden, ihr Leben selbstbewusst zu gestalten. Dabei geht es nicht um die Individualisierung von gesellschaftlichen Problemen, sondern um die emanzipatorische Bildung des Subjekts in der Auseinandersetzung mit Gesellschaft.[12]

Wegen dieses Grundverständnisses von politischer Bildung müssen die Räume der Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit als politische Räume und Räume politischer Bildung verstanden und gestaltet werden. Dies bedeutet auch, dass sich die Träger sowie die Fachkräfte selbst als politische Akteur*innen verstehen und im Rahmen ihrer pädagogischen Arbeit entsprechend handeln. Darin erschöpft sich jedoch die Arbeit von Trägern und Fachkräften nicht: Ihnen obliegt es, die ihnen gebotenen Räume (wie z. B. Jugendhilfeausschüsse, Arbeitsgruppen nach § 78 SGB VIII und daran anlehnende Zusammenschlüsse) anwaltschaftlich für die (politischen) Anliegen junger Menschen systematisch zu nutzen. Ihr Auftrag ist es, in diesen Räumen, die von den jungen Menschen artikulierten Themen, Belange und Herausforderungen einzubringen, die Beteiligung junger Menschen einzufordern und gemeinsam auf Lösungen und Weiterentwicklungen zu drängen sowie politische Entscheidungsträger*innen für jugendliche Themen zu sensibilisieren.

Ansätze politischer Bildung – Unterschiede und Gemeinsamkeiten 

Neben vielen Gemeinsamkeiten der genannten Felder[13] sind jedoch auch deutliche Unterschiede festzustellen: Insbesondere in Bezug auf die Begründung und den theoretisch-konzeptionellen Ansatz von politischer Bildung, den Settings und Gelegenheitsstrukturen, in denen politische Bildung stattfindet, den beteiligten bzw. adressierten Jugendlichen und deren Lebensbedingungen, sowie der Bezugnahme auf deren Lebenswelt, Themen und Interessen sind Unterschiede bemerkbar.[14] Aus den damit einhergehenden unterschiedlichen Selbstverständnissen, konzeptionellen Grundlagen und der Verankerung in den Feldern leitet sich auch der unterschiedliche Stellenwert und deren Anschlussfähigkeit ab, und somit auch die Handlungsbedarfe, um politische Bildung umzusetzen und weiterzuentwickeln. Es wird deutlich, dass Unterschiede in den Handlungsfeldern, z. B. in Bezug auf Wahrnehmung und Reflexion der Bedeutung politischer Bildung in der jeweiligen Fachpraxis oder der Vernetzung mit anderen Akteur*innen, bestehen. Auch dies ist eine Erkenntnis des 16. Kinder- und Jugendberichts. 

Unterscheidungen ergeben sich auch aufgrund der pädagogischen Arrangements (Settings, Formate, Methoden), durch die fachliche oder thematische Ausrichtung sowie programmatischen Ziele (thematische Schwerpunkte, Bildungsziele, politische Ziele). 

Politische Bildung kann einerseits sachbezogenen, explizit politischen Ansätzen und andererseits anlassbezogenen, erfahrungs- und handlungsorientierten (demokratischen) Ansätzen folgen.[15] Ein übergreifender Befund ist, dass es in allen Handlungsfeldern Träger gibt, die den Schwerpunkt auf politische Bildung setzen, indem sie bewusste, sachbezogene Angebote machen. Dies kann aufgrund der Einrichtungsform naheliegen (z. B. bei Bildungsstätten oder Volkshochschulen, wenn sie dezidierte Programmangebote machen) oder indem ein Thema gesetzt wird (z. B. bei Projekten in der kulturellen Kinder- und Jugendbildung); es kann auch aufgrund (bildungs-)politischer Überlegungen bzw. förderpolitischer Ableitungen oder aus konzeptionellen Gründen gewollt sein. Ebenso gibt es in allen Handlungsfeldern Träger, in denen stärker anlassbezogen politische Bildung/Demokratiebildung ermöglicht wird, z. B. weil während eines Projekts oder in einer offenen Situation politische Fragen von Jugendlichen angesprochen werden, die bearbeitet werden (müssen). Drittens reklamieren Träger in allen Handlungsfeldern, dass sie demokratisch bildende Situationen schaffen, indem sie strukturelle, organisations- oder einrichtungsinhärente (z. B. die Selbstorganisation im Jugendverband oder in einer Jugendeinrichtung) sowie politische (bezogen z. B. auf das Staatswesen oder die Kommune) Beteiligungsmöglichkeiten bieten und diese Art der Beteiligung politisch/demokratisch bildend sei.

Ausgehend vom 16. Kinder- und Jugendbericht [16] lassen sich Bildungsprozesse in der politischen Jugendbildung modellhaft anhand von fünf auch parallel verlaufenden Schritten beschreiben:

  • Orientierung an den Interessen und Erfahrungen, 
  • Herausarbeiten der gesellschaftspolitischen Relevanz dieser Interessen und Erfahrungen,
  • Analyse und Möglichkeiten zum Wissenserwerb,
  • Urteilsbildung,
  • Handlungsorientierung.[17]

Politische Bildung und ihre Rahmenbedingungen

Basierend auf der Förderung des Kinder- und Jugendplans des Bundes (KJP) sowie über Förderprogramme können Dach- und Fachverbände der politischen Bildung und die bundeszentralen Strukturen der offenen Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit ihre Angebote durchführen. Über die letzten Jahrzehnte hat sich somit in Deutschland eine Struktur politischer Bildungsakteur*innen aufgebaut. Hinzu kommen Förderprogramme auf Ebene der Länder und Förderaktivitäten von Kommunen. Mit einem Blick auf die Bundesebene ist festzustellen, dass das wichtige Programm „Politische Bildung“ im KJP zwar aufgestockt wurde, jedoch noch immer nicht ausreichend ausgestattet ist. Andererseits wurden gut ausgestatteten Sonderprogramme (z. B. Demokratie leben!) initiiert, mit denen auch Träger von Jugendarbeit und Jugendbildung befristet gefördert werden. Diese sollen auf die aktuell politisch wahrgenommenen Bedarfe eingehen und liegen oftmals im Bereich der Prävention. Für die meisten Felder der Jugendsozialarbeit gibt es bisher jedoch keine Zugänge bzw. keine dezidierte Förderstruktur zur Weiterentwicklung von Ansätzen und Angeboten der politischen Bildung.

Die Sonderprogramme sind nominell um ein Zehnfaches besser ausgestattet als die Regelförderung des KJP.[18] Die in dieser Legislaturperiode geplante Einführung eines Demokratiefördergesetzes wird derzeit in Fachkreisen diskutiert. In der Trägerlandschaft wird erwartet, dass dieses Gesetz eine verlässliche Förderung und dauerhafte Strukturen der Demokratieförderung und politischer Bildung als gesetzlichen Auftrag schafft. Unabhängig von der Verabschiedung des Demokratiefördergesetz bleibt die Forderung nach einer auskömmlichen infrastrukturellen Förderung von Trägern politischer Bildung auf Grundlage des SGB VIII bestehen.[19] 

Programme können nur nachhaltig wirksam werden, wenn sie auf eine Infrastruktur treffen, die in der Lage ist, das Geforderte qualifiziert umzusetzen. Wenn die bedarfsgerechte Ausstattung der Regelstrukturen hier nicht Schritt hält, stößt dies an seine Grenzen. Um bedarfsgerecht Angebote zu planen, müssen zudem junge Menschen, Selbstvertretungsorganisationen und Akteur*innen der Fachpraxis beteiligt werden und bei der Planung, Konzipierung etc. von Programmen (auch auf Bundesebene), Förderrichtlinien und Angeboten mitwirken. Hinzu kommt, dass thematisch enger definierte und mit entsprechenden inhaltlichen Vorgaben versehene Sonderprogramme, an die Einzelanträge zu stellen sind, der rechtlich normierten Trägerautonomie entgegenwirken – zumindest, wenn die Sonderprogramme die Regelförderung in erheblichem Maße übersteigen. Auf der Bundesebene ist der Kinder- und Jugendplan für diese Situation exemplarisch, auf Länder- und kommunaler Ebene sind teilweise ähnliche, teilweise gegenläufige Prozesse zu beobachten. 

Verortung politischer Bildung bei Fachkräften. Zu geringer Stellenwert in der Ausbildung

Politische Bildung ist in den Ausbildungen der Fachkräfte weitestgehend nicht bzw. nicht systematisch verankert. Die Grundlage für die meisten Fachkräfte ist oftmals das Pädagogikstudium sowie weitere sozial- und geisteswissenschaftliche Studiengänge wie Politikwissenschaft, Kulturwissenschaft, Geschichte, Soziologie, Medienpädagogik oder Soziale Arbeit.[20] Der 16. Kinder- und Jugendbericht konstatiert, dass politische Bildung keinen systematischen, verbindlichen Stellenwert in Lehrplänen hat, was u. a. an einer mangelnden Berücksichtigung im Curriculum sowie an fehlenden Lehrstühlen für politische Bildung liegt. Die Träger sind oftmals selbst gefordert, entsprechende Angebote zur Weiterbildung zu initiieren.[21] 

Es zeigt sich, dass die Fachkräfte, befragt nach ihrer Einschätzung des Stellenwertes politischer Bildung im eigenen Handlungsfeld, zwar von politischen Bildungsaktivitäten berichten, diese aber oftmals nicht so benennen, sondern eher von „demokratiebildenden Maßnahmen“ sprechen.[22] Expert*innen schlussfolgern, dass diese Unterscheidung damit zusammenhängen kann, dass oft ein sehr verkürztes Verständnis oder Vorurteile gegenüber der Bildungsarbeit im spezialisierten Arbeitsfeld der politischen Bildung existieren. Dies scheint sich erst allmählich durch eine verstärkte Auseinandersetzung mit politischer Bildung in diesen Arbeitsfeldern zu ändern. 

Herausforderungen

Die politische Bildung steht verschiedenen Herausforderungen gegenüber, die die Akteur*innen der politischen Bildung sowie insbesondere die politischen Handlungsebenen zur Diskussion, Weiterentwicklung sowie Kooperation auffordern. 

Politische Bildung wird verzweckt 

Sonderförderprogramme stellen zur Begründung einer Finanzierungsnotwendigkeit häufig den Präventionsgedanken in den Mittelpunkt. Dies gibt der politischen Bildung den oft den vorrangigen Auftrag, präventiv oder sogar als sog. „Feuerwehr“ zu agieren. Politische Bildung z. B. allein auf den Aspekt der Extremismusprävention[23] zu fokussieren und zu verengen, bedeutet, zentrale Prinzipien politischer Bildung aufzugeben. Wenn politische Bildung die möglichen Probleme, Defizite und Gefährdungen in den Vordergrund rückt und nicht an die Möglichkeiten, Interessen und Bedarfe junger Menschen und den von ihnen als relevant erachteten gesellschaftlichen Erfahrungen/Themen anknüpft, sind ergebnisoffene und partizipative Angebote, die zu Selbstbestimmung und Empowerment beitragen, kaum noch möglich. 
Politische Bildung unterstützt junge Menschen mit dem notwendigen Wissen und den Kompetenzen, damit sie in politischen und gesellschaftlichen Prozessen besser, selbstbewusster und eigenständiger mitwirken können. Hierzu zählen auch die Auseinandersetzung mit und die Erfahrung von Werten, zu denen sich eine Gesellschaft bekennt, die aber konkret immer wieder neu ausgehandelt werden müssen. Somit stärkt sie die Resilienz gegen extremistische Tendenzen noch vor einer möglichen Hinwendung. Grundständige politische Bildung wirkt präventiv. 

Die Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit knüpft an den Bedarfen, Themen und Interessen der jungen Menschen an. Daher stehen politische Verzweckung und politische Anliegen mit dem Schwerpunkt Prävention, die immer wieder von außen an die politische Bildung in der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit herangetragen werden, mit dem Grundgedanken der Handlungsfelder (u. a. Lebensweltorientierung und Subjektorientierung) in Konflikt. 

Politische Bildung geschieht zu wenig im Verbund

Die handelnden (professionellen) Akteur*innen der einzelnen sozialen Räume[24] können und sollten nicht isoliert voneinander agieren, dies verdeutlicht der 16. Kinder- und Jugendbericht. Denn die verschiedenen Akteur*innen in den sozialen Räumen stehen nicht nur miteinander in Wechselbeziehungen, sondern es besteht zudem an mehreren Stellen eine Interdependenz zwischen den Angeboten zur politischen Bildung. Dennoch wird Vernetzung bisher nicht als handlungsleitendes Prinzip in den verschiedenen sozialen Räumen verfolgt und genutzt sowie auch nicht explizit gefördert. Der 16. KJB sagt deutlich, dass „institutionelles Einzelkämpfertum“ nicht ausreichen wird, um die politische Bildung für bestehende und kommende Herausforderungen zu stärken.[25] 

Politischer Bildung fehlen wichtige Perspektiven

Junge Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen nehmen bisher weniger an Angeboten politischer Bildung teil. Auch sozial benachteiligten jungen Menschen fällt der Zugang zu insbesondere formellen Angeboten und Beteiligungsformen im Kontext politischer Bildung schwerer, unter anderem, da hier häufig spezifische Kompetenzen zur Teilnahme vorausgesetzt werden und ein spezifischer Habitus gelebt wird. Zudem besteht zu wenig Sensibilität zu den Exklusionsfaktoren bestimmter Gruppen junger Menschen, die eine gleichberechtigte Teilhabe verhindern.[26]
Auch Organisationen junger Menschen mit Migrationsbiografien, People of Color und postmigrantische Akteur*innen sind bisher als Anbieter*innen politischer Bildung nicht genügend anerkannt und gefördert. Die Einbindung dieser Organisationen in Regelförderprogramme scheitert oftmals an den bestehenden Mitgliedschaftskriterien oder bestimmten Fördervoraussetzungen. Zugangsbarrieren müssen daher überprüft und abgebaut werden. 

Es mangelt an Wissen über politische Bildung und Reflexion

Das Wissen, die genaue Kenntnis und die fachliche Auseinandersetzung über die Frage wie Prozesse der politischen Bildung nachhaltig Wirkung zeigen und darüber, wie junge Menschen sich Räume politischer Bildung erschließen, sind an vielen Stellen begrenzt. So stellt der 16. KJB fest, dass die Informationslage zu den sozialen Räumen sehr unterschiedlich ist. Es wird ein vergleichbar hoher Forschungsbedarf für alle Formen der non-formalen und informellen politischen Bildung und die sog. unterschätzten Räume[27] festgestellt. Darüber hinaus fehlt in den unterschätzten Räumen die Auseinandersetzung, Wahrnehmung und Reflexion der Bedeutung politischer Sozialisation und Bildung in der jeweiligen Fachpraxis sowie der allgemeinen Fachdebatte um politische Bildung. Diese Prozesse und das Wissen sind neben der direkten Beteiligung junger Menschen an der Gestaltung der Angebote wichtig, um überhaupt bedarfsgerechte Angebote zu machen. 

3. Politische Bildung in der Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit – wie es sein könnte! Forderungen

Über konzeptionelle und infrastrukturelle Rahmenbedingungen und Ermöglichungsräume kann und sollte die Umsetzung des Auftrags der politischen Bildung in der Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit durch Entscheidungsträger*innen unterstützt werden, damit entsprechende Wirkungspotentiale entfaltet werden können. Die AGJ formuliert folgende Forderungen zur Verbesserung der politischen Bildung in der Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit. 

Forderung 1: Jugend braucht Freiräume zur Entwicklung

Es besteht die Notwendigkeit, das Bewusstsein für die unterschiedlichen Lebensbedingungen von jungen Menschen und ihren Bedarf an Freiräumen bei gesamtgesellschaftlich sowie insbesondere bei Entscheidungsträger*innen zu schärfen. Persönlichkeitsentwicklung mit allem, was dazugehört (z. B. Kritikfähigkeit, Handlungsbefähigung und Resilienz), ist nicht zuletzt an das Vorhandensein von Freiräumen geknüpft.[28] Freiräume sind Entwicklungsräume, die auch in formalen Bildungssettings gegeben sein müssen. Es gilt anzuerkennen, dass diese ebenso bedeutend sind wie pädagogisch gestaltete „Lernräume“. Die AGJ fordert die Akteur*innen der Kinder- und Jugendhilfe dazu auf, sich mehr für das Ausweiten von Freiräumen zur Persönlichkeitsbildung zu engagieren und darüber hinaus für junge Menschen im Prozess der Verselbstständigung[29] einzutreten. Zudem müssen sich die Angebote und Maßnahmen an den Lebenswelten junger Menschen orientieren und ihre Themen und Anliegen in den Mittelpunkt rücken. 

Forderung 2: Jugend braucht Reibungsfelder zur Entwicklung

Gesellschaftliche Konflikte gilt es in der politischen Bildung von allen Beteiligten als Lernfeld zu begreifen. Im Konflikt und einer damit einhergehenden positiven Streitkultur entsteht der eigentliche Integrationsmechanismus in die Gemeinschaft und in soziale Räume[30] durch Aushandlungsprozesse. Dies gilt es zu achten und zu fördern. Der Gewinn für die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen liegt z. B. in einem begleiteten Perspektivenwechsel und neuem Wissen und Verständnis. Bei der Förderung der Streitkultur ist darauf zu achten, dass Konflikte zur Einübung gewaltfreier und demokratischer Kommunikation und Streitkultur genutzt werden können. 

Forderung 3: Jugend braucht Beteiligungsmöglichkeiten

Junge Menschen sollten all ihre sozialen Räume mitgestalten können. Dies umfasst junge Menschen auch bei den Planungen und Durchführungen von Angeboten der Jugendhilfe aktiv zu beteiligen und sich dabei auf die jeweiligen Entwicklungsprozesse einzulassen. Nur so kann Partizipation umgesetzt werden. Beteiligung darf sich hier nicht auf bereits organisierte junge Menschen beschränken, sondern muss alle umfassen und im Blick haben. Darüber hinaus ist besonders darauf zu achten, dass auch junge Menschen mit einer Behinderung/ Beeinträchtigung und andere benachteiligte oder junge Menschen mit Diskriminierungserfahrungen mit ihren jeweiligen spezifischen Kompetenzen und Bedarfen berücksichtigt werden. 

Forderung 4: Jugendpolitik braucht verlässliche Strukturen

Die Umsetzung des jugendpolitischen Auftrages und politischer Bildung bedarf einer nachhaltigen Institutionalisierung und struktureller Verankerungen. Dies bedeutet, die infrastrukturelle Ausstattung an Angeboten der Jugendarbeit sowie der Jugendsozialarbeit als verlässliche Orte für junge Menschen nicht nur zu erhalten und weiterhin zu stärken, sondern aufgrund der gestiegenen Ansprüche sowie der wachsenden gesellschafts-, sozial- und geopolitischen Herausforderungen auszuweiten und dies in der Jugendhilfeplanung festzuschreiben. Dies schließt gerade auch in Zeiten des Fachkräftemangels unbefristete Anstellungsverhältnisse der Fachkräfte sowie eine auskömmliche Finanzierung der Einrichtungen mit ein. Es ist insbesondere die Aufgabe der unterschiedlichen staatlichen Ebenen, eine nachhaltige strukturelle Verankerung der Angebote und Einrichtungen der Jugendarbeit/ Jugendsozialarbeit zu gewährleisten.

Forderung 5: Träger der Kinder- und Jugendhilfe haben politische Verantwortung

Junge Menschen sind bei der Bewältigung ihrer im 15. KJB beschriebenen Kernherausforderungen[31] in unterschiedlicher Intensität zu begleiten und zu unterstützen. Träger und Einrichtungen stehen dabei mit in der Verantwortung, politische Bildung und Demokratiebildung selbstbewusst in ihrer Arbeit zu verordnen und konzeptionell in die Arbeit ihrer Einrichtungen einzubeziehen, auch wenn der Fokus ihrer Tätigkeit woanders liegt. Ziel dabei ist es, Selbstwirksamkeitsprozesse im Sinne der politischen Mündigkeit junger Menschen (mit) zu gestalten und zu begleiten, damit junge Menschen „…in allen sie betreffenden Lebensbereichen selbstbestimmt interagieren… können.“[32] Daher steht es in der Verantwortung der Träger, die politische Bildung konzeptionell in ihren Angeboten und Einrichtungen zu verankern. 

Forderung 6: Politisch bildend wirkende Fachkräfte brauchen Aus-, Fort,- und Weiterbildung

Mitarbeitende müssen soziale Arbeit und Bildungsarbeit in der Jugendhilfe politisch verstehen: „Fachkräfte der politischen Jugendbildung müssen in der Lage sein, die politische und gesellschaftliche Relevanz der Themen und die Anliegen Jugendlicher zugänglich zu machen sowie die Auseinandersetzung darüber zu moderieren.“[33] Grundsätzliche Haltung dabei ist es, ausgehend vom jugendpolitischen Auftrag, den eigenen fachlichen Anspruch, politisch bildend zu wirken, herauszubilden und umzusetzen. Politische Bildung beschränkt sich hierbei nicht auf die Zielgruppe junger Menschen, sondern hat mit der Zielsetzung der Verbesserung von Lebensbedingungen junger Menschen in deren Sozialräumen auch die politische Bildung von Entscheidungsträger*innen mit im Blick und bezieht diese mit ein. Die für die Ausgestaltung von Ausbildung und Weiterbildung des Fachpersonals zuständigen Stellen sind gefordert, die Inhalte und die Ausgestaltung von Aus-, Fort- und Weiterbildung entsprechend der genannten Erfordernisse weiterzuentwickeln.

Forderung 7: (Sozial)Politisches Selbstverständnis der Fachkräfte braucht eine klare Haltung

Für die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe gilt es, die eigene professionelle Haltung im Kontext des Selbstverständnisses von politischer Bildung weiterzuentwickeln. Dies schließt eine akzeptierende, ressourcenwahrnehmende, wertschätzende und zugleich kritisch-zugewandte Haltung gegenüber den jungen Menschen mit ein. Ein so angelegtes politisches Selbstverständnis der Jugendhilfe nimmt für sich in Anspruch, die jungen Menschen zur Selbstvertretung ihrer Anliegen aufzufordern und sie dabei zu unterstützen, ihre Einflussmöglichkeiten vor Ort wahrzunehmen. Dazu zählt auch, Öffentlichkeit für die Anliegen junger Menschen herzustellen, z. B. den Jugendhilfeausschuss als einen Ort zu nutzen, um den Interessen Jugendlicher Gehör zu verschaffen. Hier sind insbesondere die Träger gefordert, geeignete Maßnahmen der Qualifizierung für Ihre Mitarbeitenden zu schaffen und den konzeptionellen Rahmen von Angeboten und Einrichtungen entsprechend auszugestalten.

Forderung 8: Politisch bildend wirkende Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit braucht Verbündete 

Auch die Partner*innen der Jugendhilfe an den Schnittstellen der Bildungs, Beratungs- und Sozialsysteme sind ggf. zu aktivieren und einzubeziehen, um gemeinsam politische Bildung in den Angeboten voranzutreiben und zu verankern. Gerade in der Altersgruppe der Jugendlichen und jungen Volljährigen arbeitet die Jugendhilfe im engen Kontext mit anderen gesellschaftlichen Systemen, angefangen bei den allgemeinbildenden Schulen über die berufsbildenden Schulen sind es auch die Arbeitsagenturen und Jobcenter. Hier sollten die Verantwortlichen darauf hinwirken, dass der Blick auf den jungen Menschen in den jeweiligen Systemen auch vom jungen Menschen selbst ausgeht, die Interessen der jungen Menschen einbezogen und Erfahrungen der Selbstwirksamkeit ermöglicht werden. Hier sind mit Blick auf die Schulen insbesondere die Kultusministerien der Länder gefordert, die Rahmenbedingungen entsprechend auszugestalten. Mit Blick auf das Feld der Arbeitsmarktpolitik ist zunächst der Bund in der Verantwortung, Maßnahmen und Angebote entsprechend weiterzuentwickeln. 

Forderung 9: Politische Bildung in der Jugend(sozial)arbeit braucht interdisziplinäre Diskurse und Kooperationen

Die Fachdebatten der Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit sollten mit dem bislang noch überwiegend abgetrennten Fachdiskurs der politischen Bildung verschränkt werden, um sinnvolle und kooperierende Angebote für junge Menschen anbieten zu können. Die Akteur*innen der Kinder- und Jugendhilfe müssen deutlicher begreifen, dass sie eine Verantwortung für politische Bildung haben und die Akteur*innen der politischen Jugendbildung müssen sich noch mehr als Teil bzw. Partner*in der Jugendhilfe begreifen. Dafür braucht es eine Verständigung miteinander über die unterschiedlichen Professionen, ihren jeweiligen Auftrag und ihre Arbeit, um Gemeinsamkeiten festzustellen, Methoden auszutauschen, Wissen weiterzugeben und gemeinsame Angebote zu gestalten. Die verstärkte interdisziplinäre Kooperation der Institutionen und Fachkräfte kann Ressourcen und Kompetenzen zusammenführen, wenn sie das inhaltliche Wissen, die Zugänge sowie methodischen Kompetenzen des jeweiligen Partners nutzt und in die eigene Praxis mit einbezieht. Hierzu braucht es gemeinsame Veranstaltungs- und Fortbildungsangebote für die in beiden Feldern tätigen Fachkräfte, die als Orte der Begegnung und Vernetzung dienen, und die durch die Träger zu schaffen sind und deren finanzielle Absicherung den Gewährleistungsträgern obliegt.

Die AGJ nimmt wahr, dass es weiterer Anstrengungen bei der Verankerung politischer Bildung in der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit bedarf und sieht es als gemeinsame Aufgabe, mit Akteur*innen der politischen Bildung auf notwendige Entwicklungen aufmerksam zu machen, konzeptionelle Prozesse anzuschieben und eine Verständigung über die jeweils unterschiedlichen Ansätze der politischen Bildung voranzutreiben und so gemeinsam bessere Angebote und Strukturen politischer Bildung für junge Menschen zu schaffen. 

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 22./23. September 2022

 

­­Fußnoten

[1] Ansprechperson für dieses Positionspapier in der AGJ ist die zuständige Referentin des Arbeitsfeldes V „Jugend, Bildung, Jugendpolitik“: Eva-Lotta Bueren (eva-lotta.bueren@agj.de). 
[2] Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2017): Politische Bildung junger Menschen. Ein zentraler Auftrag für die Jugendarbeit. Online unter: www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2017/Politische_Bildung_junger_Menschen.pdf [Zugriff am 30.08.2022].
[3] Im Nachgang des 16. KJB befassten sich viele Akteur*innen vermehrt mit dem Thema und Positionspapiere, Handreichungen, Materialien etc. entstanden, z. B.: IN VIA „Demokratiebildung in der Jugendsozialarbeit“, Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit „Überlegungen zu einer Standortbestimmung Jugendsozialarbeit, Demokratiebildung und Politische Bildung – eine Annäherung“, BAG Landesjugendämter „Politische Bildung in der Kinder- und Jugendarbeit – Herausforderungen und Steuerungsmöglichkeiten für die örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe“. 
[4] Siehe hierzu auch die im 16. KJB formulierten „Gesellschaftspolitische Megatrends“. BMFSFJ (2020): 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, S. 86.
[5] Insbesondere die Befassung mit dem §13a SGB VIII, der politischen Bildung im Kontext Schule und der damit einhergehenden Herausforderungen der Arbeit in/an einem anderen System, bedürfte einer vertieften Auseinandersetzung. Das Papier nimmt keins der benannten Handlungsfelder genauer in Betracht, sondern trifft Aussagen, die für alle Handlungsfelder gelten.
[6] Verbandliche Jugendarbeit, Mobile Jugendarbeit, Kommunale Jugendarbeit, Selbstorganisierte Jugendarbeit, Offene Kinder- und Jugendarbeit, kulturelle Jugendarbeit, sportliche Jugendarbeit, politische Bildung, Schulsozialarbeit und Jugendsozialarbeit. 
[7] Träger, die außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe Angebote politischer Bildung für junge Menschen machen.
[8] So heißt es dort: „Notwendig ist es, dass die Kinder- und Jugendarbeit das Politische ihrer eigenen Arbeit und die Notwendigkeit zu politischer Bildung neu erkennt und entsprechende Ideen und Angebote der aktiven Beteiligung und des handelnden Engagements entwickelt“ (BMFSFSJ (2017): 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, S. 67).
[9 ] Siehe hierzu auch 16. Kinder- und Jugendbericht: „Politische Jugendbildung setzt sich zum Ziel, Jugendliche für gesellschaftliches Engagement zu ermutigen und Politik und Demokratie als veränderbar und gestaltbar zu begreifen. Dabei geht sie davon aus, dass Demokratie niemals abgeschlossen ist, sondern in ihrer Unvollkommenheit immer gestaltet und weiterentwickelt werden muss.“ (BMFSFJ (2020): 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, S. 346).
[10] Hierzu auch: AGJ (2016): Freiräume für Jugend schaffen. Diskussionspapier der AGJ. Online unter: www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2016/Freir%C3%A4ume_f%C3%BCr_Jugend_schaffen.pdf.
[11] Becker, H. (2020): Demokratiebildung und politische Bildung in den Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendarbeit (SGB VIII § 11-13), S. 22. Herausgegeben vom Deutschen Jugendinstitut. München. 
[12] Ebd., S. 16. 
[13] Verbandliche Jugendarbeit, Mobile Jugendarbeit, Kommunale Jugendarbeit, Selbstorganisierte Jugendarbeit, Offene Kinder- und Jugendarbeit, kulturelle Jugendarbeit, sportliche Jugendarbeit, politische Bildung, Schulsozialarbeit und Jugendsozialarbeit.
[14] Auch der 16. KJB stellt fest: „In Bezug auf die Adressat*innenkreise sowie die Angebots- und Unterstützungsformate lassen sich deutliche Unterschiede zwischen Kinder- und Jugendarbeit einerseits und Jugendsozialarbeit andererseits ausmachen“ (vgl. 16. KJB, S. 330).
[15] Becker, H. (2020): Demokratiebildung und politische Bildung in den Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendarbeit (SGB VIII § 11-13), S. 37. Herausgegeben vom Deutschen Jugendinstitut. München. 
[16] Vgl. ebd.
[17] BMFSFJ (2020): 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, S. 345.
[18] Zum Vergleich: Bundesministerium der Finanzen: Bundeshaushalt 2022. Online unter: www.bundeshaushalt.de/DE/Bundeshaushalt-digital/bundeshaushalt-digital.html und Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum Programm „Demokratie leben!“ Online unter: www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/engagement-und-gesellschaft/bundesprogramm-demokratie-leben--73948.
[19] AGJ (2017): Politische Bildung junger Menschen – ein zentraler Auftrag für die Jugendarbeit. Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ. 
[20] BMFSFJ (2020): 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, S. 338.
[21] Vgl. BMFSFJ (2020): 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, S. 339 oder Becker, H. (2020): Demokratiebildung und politische Bildung in den Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendarbeit (SGB VIII § 11-13), S. 67. Herausgegeben vom Deutschen Jugendinstitut. München. 
[22] Vgl. BMFSFJ (2020): 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, S. 357 nach (Becker 2020). 
[23] Die AGJ nutzt in diesem Fall den noch immer – auch im Kreise der Adressat*innen dieses Papiers – weit verbreiteten Begriff der Extremismusprävention, weist jedoch darauf hin, dass dieser Begriff umstritten und als unterkomplex kritisiert wird. Treffender ist der Begriff „Ideologien der Ungleichwertigkeit“, welcher Weltanschauungen beschreibt, in denen die Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Menschen grundlegend abgelehnt werden.
[24] Vgl. BMFSFJ (2020): 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, S. 133 ff. 
[25] Vgl. BMFSFJ (2020): 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, S. 547. 
[26] Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2018): Teilhabe: ein zentraler Begriff für die Kinder- und Jugendhilfe und für eine offene und freie Gesellschaft. 
[27] Der 16. KJB benennt folgende Räume als unterschätzte Räume, in denen „die Bedeutung politischer Sozialisation und Bildung […] bislang sowohl von der jeweiligen Fachpraxis als auch von der allgemeinen Fachdebatte – bis hin zu den einschlägigen Einführungen und Handbüchern – kaum wahrgenommen wird“ (16. KJB, S. 477). Zu den Räumen zählen Jugendsozialarbeit, Ganztagsschule, stationäre Settings der Hilfen zur Erziehung, Behindertenhilfe und Inklusion, Jugendstrafvollzug und Kinder- und Jugendparlamente. 
[28] Hierzu auch: AGJ (2016): Freiräume für Jugend schaffen. Diskussionspapier der AGJ. Online unter: www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2016/Freir%C3%A4ume_f%C3%BCr_Jugend_schaffen.pdf.
[29] Im 15. KJB formulierte Kernherausforderungen: Verselbstständigung, Selbstpositionierung und Qualifizierung.
[30] Vgl. Peter Ulrich Wendt (2008): Übergang ins Gemeinwesen als Prozesswirkung selbstorganisationsfördernder Jugendarbeit. In: Werner Lindner: Kinder- und Jugendarbeit wirkt. Aktuelle und ausgewählte Evaluationsergebnisse der Kinder- und Jugendarbeit. 
[31] Im 15. KJB formulierte Kernherausforderungen: Verselbstständigung, Selbstpositionierung und Qualifizierung.
[32] Vgl. §1 SGB VIII.
[33] Vgl. BMFSFJ (2020): 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, S. 350.