Demokratisch und nicht indifferent – Orientierungen und Positionierungen zum Neutralitätsgebot in der Kinder- und Jugendhilfe

Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ[1]

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Abstract

Träger und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe sowie Ehrenamtliche sind zunehmend mit demokratie- und menschenfeindlichen Überzeugungen konfrontiert. Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ möchte der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe mit diesem Positionspapier Orientierung bieten, was das Grundgesetz mit seinem parteipolitischen und religiös-weltanschaulichen Neutralitätsgebot meint, wie die Praxis diese Grundpfeiler einer freiheitlichen Demokratie in ihre Arbeit integrieren und Instrumentalisierungen und bewusste Fehlinterpretationen, u. a. von rechten Gruppierungen, entgegentreten kann.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung 
1. Neutralitätsgebot: Was ist das und warum ist es wichtig?
1.1    Parteipolitisches Neutralitätsgebot
1.2    Religiös-weltanschauliches Neutralitätsgebot
1.3    Neutralitätsgebot neutralisiert andere Verfassungsgüter nicht
2. Handlungshinweise für die Kinder- und Jugendhilfe
2.1    Bildungsauftrag nach SGB VIII: Demokratie als Aufforderung zur Meinungsbildung statt Indifferenz oder Maulkorb
2.2    Glaubensbezug als immanenter Teil von Kinder- und Jugendhilfe – trotz Achtung der religiös-weltanschaulichen Erziehung und ihre Grenzen?
2.3    Umgang mit Wertvorstellungen im Kontext von Kindeswohl und erzieherischen Bedarfen (von Frühen Hilfen bis zum Kinderschutzauftrag)
Abschluss: Differenzierung ist unausweichlich 

Einleitung

Träger und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe sowie Ehrenamtliche sind zunehmend mit demokratie- und menschenfeindlichen Überzeugungen konfrontiert. Leitungs- und Fachkräfte, Ehrenamtliche und auch Mitglieder von Jugendhilfeausschüssen stehen vor den fachlichen Fragen, ob und, wenn ja, wie sie in bildungsbezogenen und erzieherischen Kontexten die Weltanschauungen, politischen Überzeugungen oder Religiosität ihrer Adressat*innen zum Thema machen sollen. Darüber hinaus ergibt sich für sie die Anforderung, einen Umgang zu finden mit der verfassungsrechtlich begründeten Achtung der von den Personensorgeberechtigten bestimmten Grundrichtung der Erziehung sowie der Religions- und Weltanschauungsfreiheit (§ 9 Nr. 1 SGB VIII). Sie suchen daher vermehrt nach Antworten auf die Frage, inwieweit sie dazu berechtigt oder verpflichtet sind, sich gegenüber demokratie- und menschenfeindlichem Verhalten zu positionieren oder „neutral“ zu verhalten. 

Das Grundgesetz gibt die Richtung vor: Es fordert den Staat zu parteipolitischer und religiös-weltanschaulicher Neutralität auf. Das politische Neutralitätsgebot (1.1) dient der Sicherung der Demokratie. Seit einiger Zeit wird es jedoch insbesondere von rechten Gruppierungen und Parteien bewusst fehlinterpretiert, um den gesellschaftlichen Diskurs in die eigene Richtung zu lenken. Die Kinder- und Jugendhilfe ist hier insbesondere in ihren unterschiedlichen Bildungsaufträgen gefordert, sich nicht verunsichern zu lassen, denn das parteipolitische Neutralitätsgebot der deutschen Verfassung fordert gerade zu einem Einsatz für die Demokratie auf. Das religiös-weltanschauliche Neutralitätsgebot (1.2) schützt die Glaubensfreiheit und garantiert damit ein wesentliches Grundrecht in einer freiheitlich demokratischen Grundordnung. 

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ möchte der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe mit diesem Positionspapier Orientierung bieten, was das Grundgesetz mit seinem parteipolitischen und religiös-weltanschaulichen Neutralitätsgebot meint, wie die Praxis diese Grundpfeiler einer freiheitlichen Demokratie in seine Arbeit integrieren und Instrumentalisierungen und bewussten Fehlinterpretationen entgegentreten kann.

1. Neutralitätsgebot: Was ist das und warum ist es wichtig?

1.1    Parteipolitisches Neutralitätsgebot[2]

Kernelement einer Demokratie sind freie Wahlen. Frei sind sie insbesondere dann, wenn der Prozess der Willensbildung der Bürger*innen nicht vom Staat ausgeht, sondern wenn sich die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen hin vollzieht[3]. Politische Parteien nehmen hierbei eine verfassungsrechtlich gesicherte, herausragende Bedeutung ein (Art. 21 GG). Sie sollen im Wettbewerb um die Stimmen der Wähler*innen gleiche Chancen haben. Zum Schutz der Demokratie darf sich der Staat daher weder zugunsten noch zulasten politischer Parteien positionieren. Mit dem Parteienprivileg wird die freie Meinungsfindung und Willensbildung vor Eingriffen durch Staatsorgane geschützt. Die Autorität des Amtes und die Mittel des Staates dürfen also nicht so eingesetzt werden, dass die gleichberechtigte Mitwirkung von Parteien an der Willensbildung beeinflusst wird. 

Das Neutralitätsgebot verlangt dabei allerdings gerade keine Wertefreiheit und der Staat bleibt zur Positionierung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung aufgefordert. Die staatlichen Ämter und Mittel dürfen lediglich nicht für offene oder versteckte Parteienwerbung genutzt werden. Politiker*innen sind somit ebenso wie beispielsweise politische Bildner*innen zur Rollenklarheit aufgerufen. Sie dürfen ihre Ämter bzw. Stellung nicht dazu nutzen, um gezielt gegen Parteien vorzugehen. Sie sollen aber politische Meinungen ins Gespräch bringen und dürfen diese auch selbst vertreten.

1.2    Religiös-weltanschauliches Neutralitätsgebot

Die Freiheit des Glaubens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich; niemand darf wegen seines Glaubens oder seiner Weltanschauung ungleich behandelt werden (etwa Art. 3 Abs. 3 S. 1, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG). Der Staat hat diese individuelle Glaubensfreiheit zu garantieren und verhält sich dann neutral, wenn er den Bürger*innen die Ausübung ihrer Religion bzw. Weltanschauung ermöglicht. Somit sind Bürger*innen zwar in der Ausübung ihrer Glaubensfreiheit zu schützen, sie sind aber nicht davor geschützt, mit anderen Glaubensverständnissen konfrontiert zu werden. Dem Staat verbietet das Grundgesetz, einen Glauben vorzugeben. Das religiös-weltanschauliche Neutralitätsgebot, wie es die deutsche Verfassung prägt, ist jedoch nicht laizistisch, sondern erlaubt ein kooperatives Miteinander zwischen Staat und Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften. Der Staat darf sich dabei nicht mit einem bestimmten Glauben identifizieren. So muss die Teilnahme an religiös-weltanschaulichen Angeboten auf echter Freiwilligkeit basieren. Behörden bzw. öffentlich geförderte Angebote dürfen keine religiöse oder weltanschauliche Sicht indoktrinieren.

1.3    Neutralitätsgebot neutralisiert andere Verfassungsgüter nicht

Sowohl das parteipolitische als auch das religiös-weltanschauliche Neutralitätsgebot sind nicht losgelöst von ihrem Verhältnis zu anderen verfassungsrechtlichen Geboten zu verstehen. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Menschenwürde, der Wesensgehalt der Grundrechte und die sog. Strukturprinzipien (Demokratie-, Sozialstaats- und Rechtsstaatprinzip samt Gewaltenteilung), die als unveränderliche Grundsätze in der Verfassung festgeschrieben sind (Art. 1 bis 20 GG, vgl. insb. Art. 19 Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 GG). 

Einer im politischen Diskurs mitunter beobachtbaren Instrumentalisierung des Neutralitätsgebots liegt ein grundlegendes Missverständnis über die Bedeutung und Reichweite dieses Gebots zugrunde. Dessen Rolle bei der Sicherung der genannten Grundsätze für eine freiheitlich-demokratische Werteordnung wird verleugnet. Staatliche Neutralität fordert gerade das Eintreten für Vielfalt und Pluralität, da ohne diese eine freie Entfaltung der/des Einzelnen verhindert oder zumindest erschwert wird. In der Kinder- und Jugendhilfe ist sie u. a. durch die Achtung der Grundrichtung der Erziehung (§ 9 Nr. 1 SGB VIII) sowie das Vielfaltsgebot und Subsidiaritätsprinzip gesetzlich gesichert (insb. §§ 3, 4 SGB VIII). Die Kinder- und Jugendhilfe mit ihren Zuwendungsgebern hat dafür Sorge zu tragen, dass pluralistische und vielfältige Ansätze verfolgt werden. Kinder und Jugendliche zu selbstbestimmten, eigenverantwortlichen, weltoffenen Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen und zu bilden, ist dabei übergreifendes Ziel.

  • Praktisches Beispiel: Jugendhilfeausschüsse sind durch das Neutralitätsgebot in keiner Weise gehindert, sondern uneingeschränkt berechtigt, migrantische oder queere Jugendorganisationen explizit in ihre Förderrichtlinien aufzunehmen. Es ist mit Blick auf Gleichbehandlungsgrundsätze und die Förderung von Vielfalt förderfähig und -würdig, dass diese innerhalb ihrer Tätigkeit bei grundsätzlicher Offenheit für alle jungen Menschen auch kulturelle oder andere identitätsstiftende Besonderheiten einer bestimmten Community aufgreifen.

Seine Grenze findet die Förderung von Vielfalt/Pluralität, soweit politische oder religiös-weltanschauliche Positionen vertreten werden, welche in Widerspruch zum verfassungsrechtlichen Wertesystem stehen oder dieses gar in Frage stellen, also wenn demokratiefeindliche Positionen oder gruppenbezogene Abwertungen vertreten werden. Die Abgrenzung kann im Einzelfall vor erhebliche Herausforderungen stellen, im Lichte der Freiheitsrechte ist die anspruchsvolle Aufgabe einer differenzierten Auseinandersetzung aber unumgänglich.

  • Praktisches Beispiel: Kann ein maßgeblicher Einfluss „scientologischer Methoden und Techniken“ aufgrund der Zugehörigkeit der Leitung sowie der Erzieher*innen auf die konkrete Arbeit in einer Kindertageseinrichtung nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, ist auch eine daraus resultierende Kindeswohlgefährdung im Sinne der §§ 45 ff. SGB VIII nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auszuschließen und eine Rücknahme der Betriebserlaubnis zulässig. Eine Grenze ist auch erreicht, wenn die Betreiber einer Einrichtung nicht verfassungskonforme religiös-weltanschauliche Überzeugungen vertreten (z. B. salafistische Leitungskraft sowie ebensolcher Vorstand).

2. Handlungshinweise für die Kinder- und Jugendhilfe

Die Kinder- und Jugendhilfe ist ein politischer Raum, da hier „zentrale Themen des Zusammenlebens“ verhandelt werden. (Partei)politische sowie religiös-weltanschauliche Fragen können und dürfen dabei nicht ausgeklammert werden. Die subjekt- und partizipationsorientierte Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe wird dabei durch das SGB VIII und die verfassungsrechtlichen Werte geprägt. Die Auseinandersetzung um Vielfalt und Toleranz steht jedoch je nach Handlungsfeld unterschiedlich stark im Fokus des eigenen Auftrags, was im Folgenden genauer dargestellt wird.

2.1    Bildungsauftrag nach SGB VIII: Demokratie als Aufforderung zur Meinungsbildung statt Indifferenz oder Maulkorb

Das parteipolitische Neutralitätsgebot soll die Demokratie stützen. Das erfordert Diskurs, das Bilden und Vertreten von Meinungen. Neutralität ist also keine Aufforderung, nichts zu tun und zu schweigen, sondern sich zu äußern, andere Meinungen zu Wort kommen zu lassen und mit ihnen ins Gespräch zu gehen. Die Befähigung der jungen Menschen zur Mitgestaltung gesellschaftlicher und politischer Diskurse und Entscheidungsprozesse, folglich die Befähigung zum politischen Handeln gehört zu den Kernaufgaben der Kinder- und Jugendhilfe. Hierbei lädt das politische Neutralitätsgebot dazu ein, den eigenen Bildungsauftrag selbstbewusst zu verfolgen.

  • Praktisches Beispiel: Jugendarbeit darf sich explizit gegen rassistische Äußerungen oder für ein Miteinander in der Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung positionieren.

In der Kindertagesbetreuung gehört der Bildungsauftrag zum anerkannten Alltagsgeschehen. In den vergangenen Jahren wurde vielfach herausgearbeitet, dass hierzu auch gehört, dass Fachkräfte die Kinder beim Erlernen und Erleben demokratischer Basisfähigkeiten fördern. Es wurden Wege aufgezeigt, wie dies gelingen kann[4].

Insgesamt bieten Gruppensettings wie bspw. auch in stationärer Unterbringung oder in sozialer Gruppenarbeit jungen Menschen auf formal-, aber auch alltagspartizipatorischer Ebene Räume für Meinungsbildung und -äußerung und können ihnen Wege zu einem gleichberechtigten, toleranten Miteinander aufzeigen.

Bildung ist dabei niemals indifferent, sondern vermittelt aufbauend auf den Interessen und Erfahrungen der Adressat*innen Werte und bietet Raum für Positionierung.

  • Praktische Beispiele der Alltagspartizipation reichen vom eigenständigen Nachgehen von Grundbedürfnissen (z. B. Getränke- oder Essensauswahl) über regelmäßige Gruppengesprächskreise bis hin zur Wahl von Ausflugszielen oder Projektthemen. 
  • Praktische Beispiele strukturell verankerter Partizipation sind Gremien wie ein Kita- oder Heim(bei)rat mit Delegierten aus allen Gruppen der Einrichtungen bzw. von über die Einrichtungsebene hinausreichenden landesweiten Interessenvertretungen von jungen Menschen in stationären Einrichtungen[5]. Diese können u. a. in einer Kita-/Einrichtungs-Verfassung, aber auch in der Konzeption des Trägers festgehalten sein. 

Das Neutralitätsgebot setzt in diesem Kontext lediglich die inhaltliche Grenze, parteipolitisch neutral zu bleiben. Parteien, die nicht verboten wurden, haben grundsätzlich Anspruch darauf, von staatlichen Stellen und bei öffentlich geförderten Angeboten gleichmäßige Berücksichtigung zu finden. Politisch-inhaltliche Auseinandersetzungen sind jenseits parteipolitischer Neutralität mit Blick auf das Neutralitätsgebot hingegen erwünscht. Dazu kann auch die Vermittlung von Kenntnissen an Kinder und Jugendliche gehören, welche Parteien oder politischen Strömungen welche Auffassungen vertreten, um ihnen zu ermöglichen, sich eine eigene Meinung zu bilden, welche dieser Ansichten sie selbst gutheißen oder ablehnen.

Auch im Rahmen von Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe dürfen sich Demokratieförderung, politische Bildung oder andere Formate der Meinungsbildung nicht direkt gegen oder für Parteien richten. Dies gilt unmittelbar für alle dem öffentlichen Recht zugeordneten Träger (öffentliche Träger und juristische Personen des öffentlichen Rechts). Auf freie Träger kann diese Verpflichtung aufgrund von Förderauflagen oder Vereinbarungen erstreckt werden, soweit nicht dadurch die Vereinsautonomie und das satzungsgemäße Eigenleben der Organisation unangemessen beeinträchtigt wird.[6 ]Ob dies der Fall ist, ist im Einzelfall zu prüfen. 

Damit verpasst das Neutralitätsgebot der politischen Bildung gerade keinen „Maulkorb“.[7] Im Gegenteil: Diskurs und Bildung sind erforderlich, um das Recht der jungen Menschen auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (§ 1 Abs. 1 SGB VIII) verwirklichen zu können.
Praktisches Beispiel: Die Durchführung jugendpolitischer Fachveranstaltungen für junge Menschen ist auch unter Einbeziehung von Politiker*innen ein wichtiges und zulässiges Format in der Jugendarbeit. Das gilt jedenfalls dann, wenn gerade nicht einzelne Parteien gezielt gefördert werden oder ihnen die Teilhabe vorenthalten wird. Gleiches gilt für das Bereitstellen von Räumen[8] oder Fördermitteln für derartige Veranstaltungen. Konkret heißt das: Wird eine Podiumsveranstaltung konzeptionell so gestaltet, dass z. B. alle Direktkandidat*innen einer Kommune eingeladen sind, darf die Einladung gegenüber einzelnen nicht unterbleiben. Wird hingegen zu einer Diskussion eingeladen, die sich klar auf die Ansätze zur Umsetzung eines spezifischen Politikziels durch die Politiker*innen der Kommune richtet, darf eine Einladung gegenüber Gegner*innen dieses Ziels unterbleiben.

2.2    Glaubensbezug als immanenter Teil von Kinder- und Jugendhilfe – trotz Achtung der religiös-weltanschaulichen Erziehung und ihre Grenzen?

Fachkräfte und Träger in der Kinder- und Jugendhilfe sind in Kontakt mit jungen Menschen und Familien in der gesamten Vielfalt der Gesellschaft. Begegnen sie demokratie- und menschenfeindlichen Überzeugungen oder Erklärungsansätzen, ist dies zugleich eine Begegnung mit dem religiös-weltanschaulichen Erziehungsrecht der Eltern sowie der Glaubensfreiheit der jungen Menschen. Im Folgenden wird aufgegriffen, ob bzw. inwieweit Angebote der Kinder- und Jugendhilfe im Lichte des verfassungsrechtlichen Neutralitätsgebots glaubensgeleitete Verhaltensweisen enthalten dürfen. Ob oder inwieweit innerhalb der Leistungserbringung auf Glaubensüberzeugungen ihrer Adressat*innen eingegangen und diese in der (sozial)pädagogischen Arbeit zum Thema gemacht oder gar auf deren Ausübung Einflussnahme versucht werden kann, wird unter 2.3 aufgegriffen.

Herleitung und Gestalt des Gebotes zur religiös-weltanschaulichen Neutralität unterscheidet sich je nachdem, ob ein Träger der öffentlichen oder freien Jugendhilfe handelt.

Träger der öffentlichen Jugendhilfe sind als Träger hoheitlicher Gewalt unmittelbar dem Neutralitätsgebot verpflichtet. Sie haben zu gewährleisten, dass die Adressat*innen bei der Inanspruchnahme der Angebote der Kinder- und Jugendhilfe vor Ort ihre Glaubensfreiheit wahrnehmen können. Sie haben nicht nur selbst religiös-weltanschauliche Neutralität zu wahren, sondern auch zu sicherzustellen, dass die Angebote die Vorgabe des § 9 Nr. 1 SGB VIII erfüllen. Den Leistungsberechtigten sind gleiche Chancen sowie gleicher Zugang einzuräumen, egal welche Erziehungs- und Glaubensvorstellungen sie haben. Über die Jugendhilfeplanung und in der Folge die Zuwendungsbescheide bei der Förderungs­finanzierung oder die Verträge bei der Vereinbarungsfinanzierung hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zu sichern, dass den Adressat*innen ausreichend plurale und religions- sowie weltanschauungsoffene Angebote zur Verfügung stehen.

Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe darf weder religiös-weltanschaulich noch indoktrinierend oder missionierend tätig werden. Diese Pflicht geht allerdings nicht so weit, dass die Adressat*innen das Recht hätten, vor der Begegnung mit der Ausübung anderer religiös-weltanschaulicher Überzeugungen vollständig bewahrt zu werden.

  • Praktisches Beispiel: Zwar dürfen Träger der öffentlichen Jugendhilfe ihre Mitarbeitenden nicht dazu veranlassen, glaubensgeleitete Symbole zu verwenden. Beruht jedoch etwa das Tragen einer Kippa oder eines Kreuzes an der Halskette auf der individuellen Entscheidung der einzelnen Fachkraft, können diese ihr eigenes Grundrecht auf Glaubensfreiheit ins Feld führen.

Träger der freien Jugendhilfe dürfen hingegen, anders als öffentliche Träger, glaubensgeleitete Verhaltensweise in gewissen Grenzen zum Gegenstand ihrer Angebote machen. Dies setzt voraus, vor Ort Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen so zu planen und bereitzustellen, dass die Adressat*innen aus einem tatsächlich vorhandenem, pluralen Angebotsspektrum wählen und ihre Wünsche hinsichtlich der Gestaltung der Angebote äußern können.
Glaubensgeleitetes Verhalten von Seiten öffentlicher oder freier Träger darf keine offene Diskriminierung oder Stigmatisierung einer anderen Glaubensvorstellung bedeuten. Den Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe sind bei der Auswahl und der Inanspruchnahme von Angeboten Ausweichmöglichkeiten zu belassen, nicht an Handlungen anderer Religiosität oder Weltanschauung teilzunehmen oder diesen nicht ständig ausgesetzt zu sein. Indoktrination liegt also vor, wenn eine Zwangslage geschaffen oder aufrechterhalten wird, der sich die Adressat*innen nicht entziehen können. Missionierend ist ein Verhalten dann, wenn im konkreten Kontext die Botschaft gesendet wird, bestimmte Glaubensinhalte, Religiosität oder Weltanschauung seien erstrebenswert oder befolgungswürdig.

  • Praktisches Beispiel: Während noch umstritten ist, ob das Anbringen von Kruzifixen im Eingangsbereich von öffentlichen Verwaltungsgebäuden zulässig ist[9], ist die Konfrontation mit diesen Glaubenszeichen in Gruppenräumen keinesfalls als flüchtig einzuordnen und deshalb untersagt. Handelt es sich um die Kindertagesstätte eines christlichen Trägers, darf theoretisch in jedem Raum ein Kruzifix angebracht sein, aber der öffentliche Träger hat im Rahmen seiner Gesamtverantwortung über die Jugendhilfeplanung (§§ 79a, 80 SGB VIII) sicherzustellen, dass noch andere Kitas in der Kommune zur Verfügung stehen, um eine Ausübung des Wunsch- und Wahlrechts und die Bestimmung über die Grundrichtung der Erziehung durch die Eltern zu ermöglichen (§§ 5, 9 SGB VIII).

Zur Beurteilung spielt sowohl die Atmosphäre in der Einrichtung bzw. dem Dienst eine Rolle (z. B. verhärtete Fronten, Unduldsamkeit) als auch ggf. die psychische Situation der jungen Menschen.[10]

  • Praktisches Beispiel: Ein Gebet in der Kita kann beispielsweise dann zulässig sein, wenn die Nichtteilnahme ohne Stigmatisierung möglich ist. Die Teilnahme muss also auf völliger Freiwilligkeit beruhen und darf diejenigen nicht Nachteile oder Beeinträchtigungen fürchten lassen, die an religiösen aufgeladenen Handlungen nicht teilnehmen.
  • Praktisches Beispiel: Für junge Menschen, deren Glaube den Verzehr von Schweinefleisch verbietet, ist in einer (teil)stationären Einrichtung ein entsprechendes Ernährungsangebot vorzuhalten.

2.3    Umgang mit Wertvorstellungen im Kontext von Kindeswohl und erzieherischen Bedarfen (von Frühen Hilfen bis zum Kinderschutzauftrag) 

Ähnlich wie bei ärztlicher Behandlung treten Überzeugungen der Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe aus ethischen Gründen bei zahlreichen Angeboten notwendig in den Hintergrund. Dies gilt insbesondere in Situationen, in denen das Wohl von Kindern und Jugendlichen nicht gewährleistet oder gefährdet ist. In solchen Kontexten dürfen die Hilfen nicht davon abhängig gemacht werden, dass die (werdenden) Eltern oder jungen Menschen sich auch auf eine Auseinandersetzung über ihre religiös-weltanschaulichen Überzeugungen einlassen. Es ist jedoch zu akzeptieren, dass nicht alle Fachkräfte es aushalten und damit umgehen können, in solchen Kontexten zu arbeiten. 

  • Praktisches Beispiel: Der Zugang zu Frühen Hilfen ist unabhängig von den politischen oder religiösen Überzeugungen allen (werdenden) Eltern und ihren Kindern entsprechend ihrer Bedarfe zu ermöglichen.
  • Praktisches Beispiel: Sozialpädagogische Familienhilfe aus Anlass unzureichender Versorgung eines Kindes ist auch dann zu gewähren und zu erbringen, wenn in der Wohnung eine Hakenkreuzflagge hängt.
  • Praktisches Beispiel: Ein Jugendlicher, der nicht weiter bei seinen Eltern leben kann, ist auch dann in einer Einrichtung oder Pflegefamilie unterzubringen, wenn er ein Interesse für die Ideologien des sog. Islamischen Staates zeigt. Im Rahmen der Unterbringung sind die Überzeugungen jedoch zum Thema der pädagogischen Arbeit zu machen.

Jenseits der Bildungsarbeit der Kinder- und Jugendhilfe sind die Überzeugungen der Adressat*innen nicht Gegenstand der Angebote. Insbesondere umfasst das Elternrecht uneingeschränkte Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit. Religion oder Weltanschauung legitimieren aber nicht jedes Erziehungsverhalten. Dieses ist am Kindeswohl, also an den Grundrechten der Kinder und Jugendlichen zu messen. Eine primäre Fokussierung auf das Erziehungsverhalten ermöglicht nicht nur einen unverstellten Blick auf das Kindeswohl, sondern auch eine verfassungsgemäße Achtung der Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit von Eltern, Kindern und Jugendlichen. Hierbei gilt es die jeweiligen Veränderungspotenziale zu reflektieren, die begrenzt sein können, soweit das Erziehungsverhalten religiös-weltanschaulich begründet oder beeinflusst ist.

  • Praktisches Beispiel: In einer Familienberatungsstelle wird das Problem deutlich, dass einer Jugendlichen der Umgang mit Freundinnen aus antisemitischen Gründen verboten werden soll. Die Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts der Jugendlichen und die Folgen für ihre Entwicklung können zum Thema gemacht und wenn die Eltern ihre Gründe für die Ablehnung vorbringen, ins Gespräch gebracht werden.

Eine Pflicht zur Einmischung kann sich insbesondere dann ergeben, wenn durch ein Verhalten, das auf menschen- oder demokratiefeindlichen gründet, Rechtsgüter von Anderen beeinträchtigt sind. Dies betrifft Konstellationen, insbesondere in Gruppen, in denen andere Kinder oder Jugendliche durch das Verhalten Ausgrenzung, Abwertung, Diskriminierung oder Gewalt erfahren. Hier besteht eine Pflicht der Fachkräfte, die betroffenen Kinder und Jugendlichen zu schützen und bestenfalls mit pädagogischen Mitteln auf Änderungen des Verhaltens der anderen Kinder und Jugendlichen hinzuwirken. Steht durch ein entsprechendes Verhalten von Eltern eine Gefährdung des Kindeswohls im Raum, ist zu beachten, dass eine religiös oder weltanschaulich geprägte, motivierte oder auch überformte Erziehung Bedeutung hat für die Bereitschaft, das Verhalten zu verändern. Dies kann spezifische Anforderungen an das fachliche Handeln der Fachkräfte stellen, mit den Erziehungsberechtigten Veränderungen im Interesse des Kindeswohls zu erarbeiten, die mit der eigenen, oftmals (zunächst) als nicht verhandelbar angesehenen Weltanschauung bzw. Religiosität vereinbar sind.

  • Praktisches Beispiel: Rigide und gewalttätige Erziehungsmethoden fundamentalistischer Glaubensgemeinschaften wie der „12 Stämme“ sind nicht durch den Glauben gerechtfertigt, soweit sie das Recht auf gewaltfreie Erziehung verletzen und wenn sich durch das glaubensgeleitete Erziehungsverhalten eine Kindeswohlgefährdung ergibt. Allein eine Zugehörigkeit der Eltern zur betreffenden Glaubensgemeinschaft oder bspw. zu den „Zeugen Jehovas“ oder zu einer salafistischen Glaubensrichtung stellt hingegen noch keine Kindeswohlgefährdung dar.

Rechtsextreme Überzeugungen sind im Alltag oft weniger sichtbar. Zugänge zu den Adressat*innen fallen – zumindest vermeintlich – leichter. Forschungsergebnisse deuten allerdings darauf hin, dass Fachkräfte hier eher mit einer klaren Ablehnung reagieren als bei religiös begründetem demokratie- oder menschenfeindlichen Verhalten, bei dem das Bestreben, nicht selbst diskriminierend bzw. rassistisch zu sein, mitunter zu stärkerer Zurückhaltung führt.[11] Die eigenen Überzeugungen und Grundeinstellungen sind daher zu reflektieren. Insbesondere gilt es, innerhalb des öffentlichen oder freien Trägers entsprechende Handlungsorientierungen und Vorgehensweisen für die sozialpädagogischen Fachkräfte zu erarbeiten, die den Schutz der Fachkraft vor Diskriminierung und Gewalt beinhalten. Auf der individuellen Ebene ist die jeweilige Fachkraft gefordert, eine Haltung zu entwickeln, wie sie sich in bestimmten Situationen verhält, etwa wenn sie aus persönlichen Gründen abgelehnt wird oder wenn sich Adressat*innen aufgrund beispielsweise Hautfarbe, Geschlecht oder Alter nicht in der wünschenswerten oder erforderlichen Weise auf die Zusammenarbeit einlassen.

  • Praktisches Beispiel: Eine Fachkraft ist „person of colour“ und wird von einer Familie als Erziehungsbeistand aus diesem Grund abgelehnt. Ein Vater gibt aus religiösen Gründen der weiblichen Fachkraft nicht die Hand und/oder es fällt ihm schwer, die fachliche Autorität anzuerkennen. Eine Mutter möchte die männliche Fachkraft nur in Begleitung ihres Mannes bei sich zuhause empfangen und tut sich schwer, sich gegenüber der Fachkraft zu öffnen. Eine derart begründete Ablehnung von Fachkräften lässt sich jedoch nicht auf das Neutralitätsgebot stützen. Sie ist daher allein eine fachliche Herausforderung. Im Raum stehen Fragen des Zugangs und der Herstellung von Beteiligung. Hierzu bedarf es ebenso einer orientierenden Haltung des Trägers wie der einzelnen Fachkraft hinsichtlich ihrer Grenzen und Möglichkeiten. Wichtig ist dabei, diese nicht rein normativ vorzugeben, sondern Raum für Ausnahmen und Abwägung im Einzelfall offen zu halten.

Die Fragen des Kindeswohl stehen in der Hilfe zur Erziehung und im Kinderschutz im Mittelpunkt der Arbeit – und nicht politische Überzeugungen, Religiosität oder ein sich daraus ergebender Konflikt zwischen Adressat*innen und Fachkraft. Das bedeutet nicht, dass religiös-weltanschauliche Differenzen per se nicht thematisiert werden sollten. Forschungsergebnisse deuten allerdings darauf hin, dass ein konfrontativer Kurs auch im Hinblick auf eine Veränderung von Einstellungen wenig Aussichten auf Erfolg hätte.

Abschluss: Differenzierung ist unausweichlich

In der Kinder- und Jugendhilfe engagieren sich regelmäßig Personen mit hoher Motivation, Idealen und dem Wunsch nach Verbesserung der gesellschaftlichen Umstände. Die AGJ ermutigt Fachkräfte und Ehrenamtliche, sich diese Motivation und Haltung zu bewahren. Es liegt auf der Hand, dass in der Konfrontation mit demokratie- und menschenfeindlichen Positionen die Wahrung der auf zwischenmenschliche Beziehung(sarbeit) und damit um Verstehen und Achten gerichteten professionellen Haltung herausfordert.

Wie dennoch ein empathisches Zugehen auf und das Eingehen eines Diskurses auf Augenhöhe gelingen und damit diese wichtige Basis sozialer Arbeit gewahrt wird, ist immer wieder zu reflektieren. Da Träger und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe sowie Ehrenamtliche jedoch nicht die nötige Fachkompetenz in allen Kontexten und zu allen Anforderungen im Umgang mit menschen- und demokratiefeindlichen Überzeugungen vorhalten können, braucht es einen Ausbau der Angebote spezialisierter zivilgesellschaftlicher Träger der Demokratieförderung und Extremismusprävention und der Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendhilfe. Fallunabhängiger, aber auch einzelfallbezogener Austausch mit Kolleg*innen und/oder Fortbildung sowie Supervision können dabei unterstützen, diese Herausforderung zu bewältigen und sich gleichzeitig den Willen, die Welt positiv zu gestalten, als wertvolle Ressource für die Tätigkeit mit den jungen Menschen und ihren Familien zu bewahren.

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ     
Berlin, 27. April 2023

Fußnoten

[1] Ansprechperson für dieses Positionspapier in der AGJ ist die für das Arbeitsfeld I „Organisations-, Finanzierungs- und Rechtsfragen“ zuständige stellv. Geschäftsführerin: Angela Smessaert (angela.smessaert@agj.de). Wir danken Leon A. Brandt (SOCLES) für seinen mündlichen Input und die Grundlagen, die er mit seinen Veröffentlichungen zum Thema für die Diskussionen und das Verstehen im AGJ-Fachausschuss I gelegt hat. 

[2] Eingehend hierzu Brandt (2022): Extrem neutral? Verfassungs-, Sozial- und Datenschutzrecht: Anforderungen und Potenziale für politische Bildung, Extremismusprävention, Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit mit rechtsextremen Kindern und Jugendlichen. Berlin: cultures interactive e. V.

[3] BVerfG 16.12.2014 – 2 BvE 2/14, Rn. 28.

[4] Auf der Seite des Projekts „Demokratie und Vielfalt in der Kindertagesbetreuung“ finden sich diverse Materialien dazu: www.duvk.de.

[5] Mehr Informationen unter www.jvj-nrw.de/de/interessenvertretung-bundesweit/.

[6] Vgl. auch Weitzmann (2021), Nichtneutralität als Qualitätsstandard der Jugendarbeit, FORUM Jugendhilfe 3/2021, 11-15.

[7] 16. Kinder- und Jugendbericht (2020), Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter, S. 117ff..

[8] Vgl. für konkrete Hinweise u. a. Nolte (2021), Parteipolitische Neutralität von Sportvereinen - Ein rechtswissenschaftliches Gutachten.

[9] Ablehnend: BVerfG 2.10.2003 – 1 BvR1522/03; siehe auch 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91; 16.10.1979 – 1 BvR 647/70, 1 BvR 7/74; 17.7.1973 – 1 BvR 308/69; Zustimmend: Bay VGH BayVGH 1.6.2022, Az.: 5 B 22.674 und 5 N 20.1331.

[10] Brandt/Meysen (2021), Religion und Weltanschauung in der Kinder- und Jugendhilfe: Neutral gegen radikal? RaFiK-Rechtsexpertise zum religiösen Neutralitätsgebot , S. 83 ff.. 

[11] Meysen/Brandt/Fakhir/Witte/Kindler (2022), Fachliches Handeln zum Wohl von Kindern und Jugendlichen im Kontakt mit „anderer“, fundamentalistischer Religiosität und Weltanschauung. Handlungsempfehlungen aufbauend auf zentralen Erkenntnissen des Projekts „Radikal, fundamentalistisch, anders – Fachkräfte in Kontakt (RaFiK)“. München/Heidelberg/Berlin, S. 59 ff.