Offene Kinder- und Jugendarbeit in Corona-Zeiten

Am 07. Juli 2022 fand das fünfte und letzte „Transfer-Frühstück“ des Projekts „Transfer-Talks: Kinder- und Jugendhilfe nach Corona“ der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ statt. Im Rahmen dieser digitalen Veranstaltungen wurden innerhalb einer Frühstückslänge neue Forschungsergebnisse zu einem Schwerpunktthema vor dem Hintergrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie vorgestellt und diskutiert. Das fünfte Transfer-Frühstück widmete sich den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Offene Kinder- und Jugendarbeit (OKJA). Durch die Veranstaltung, an der etwa 180 Interessierte teilnahmen, führte die Erziehungswissenschaftlerin und Podcasterin Katrin Rönicke.

Grußwort der AGJ-Vorsitzenden

Die AGJ-Vorsitzende Prof. Dr. Karin Böllert begrüßte die Teilnehmenden des fünften und letzten Transfer-Frühstücks und verwies auf Forderungen, die die AGJ in einem Positionspapier im Sinne der Jugendarbeit formulierte, um pandemie- bzw. krisenbedingte Herausforderungen meistern zu können. Unter anderem sprach sie die Forderung nach einem Digitalpakt Kinder- und Jugendhilfe an. Außerdem müsse gegen die Folgen der Corona-Pandemie gewirkt werden, indem die Wiederherstellung, Absicherung und der Ausbau wichtiger sozialer Infrastrukturen gefördert werde – sowohl auf kommunaler als auch auf Bundesebene. Dafür bedürfe es einem fortlaufenden fachlichen und interdisziplinären Diskurs aller Akteur*innen der Kinder- und Jugendarbeit.

Input 1 – Prof. Dr. Gunda Voigts (HAW Hamburg)

Prof. Dr. Gunda Voigts stellte Forschungsergebnisse zu „Perspektiven Offener Kinder- und Jugendarbeit in Corona-Zeiten“ vor. Sie berichtete von Erkenntnissen und Handlungsempfehlungen auf Basis von fünf quantitativen und qualitativen Erhebungen in Einrichtungen in Hamburg im Zeitraum zwischen Mai 2020 und März 2022. Schwerpunkte bildeten u. a. die Frage nach dem grundsätzlichen Auftrag der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, die Entgrenzung von Prinzipien und Angeboten und die Partizipation junger Menschen in pandemischen Zeiten.

Erschwerend sei durch Corona hinzugekommen, dass die Diskrepanz zwischen dem eigenen Anspruch der Fachkräfte und pandemiebedingten Möglichkeiten gestiegen ist. Einerseits gelte der gesetzliche Auftrag nach §11 SGB VII, andererseits bestehe ein veränderter Auftrag hin zu temporärer, aber notwendiger Krisenintervention. Durch eine Entgrenzung der OKJA bestehe ein erhöhtes Risiko in folgenden Entwicklungen: Der Verlust von Prinzipien des Handlungsfeldes drohe ebenso wie der Verlust der besonderen Beziehungen zwischen Fachkräften und Heranwachsenden. Hinzu komme, dass Partizipation von jungen Menschen im Alltag der Einrichtungen aufgrund der geltenden Hygienebestimmungen, der Digitalisierung der Angebote und der eingeschränkten Spontaneität für Entscheidungen und Angebote nur in minimaler Form aufrechterhalten bleiben konnte. Daraus ergäben sich drei Dilemmata: der eigene fachliche Anspruch, Forderungen der Behörden und dass die Bedürfnisse der Jugendlichen dem entgegenstünden, was die pandemiebedingten Regeln erlauben.

Prof. Dr. Voigts hob zum Ende ihres Inputs u. a. hervor, dass die kontinuierliche Beziehungsarbeit Unterstützung junger Menschen in Problemlagen ermögliche und Bildungsprozesse fördere. Digitalisierung müsse vorangebracht und Datenschutzfragen geklärt werden. Die anwaltschaftliche Interessenvertretung müsse forciert und ein Forschungstransfer zur Weiterentwicklung der Praxis kontinuierlich ermöglicht werden.

Input 2 – Prof. Dr. Benedikt Sturzenhecker (Universität Hamburg)

Prof. Dr. Sturzenhecker stellte in seinem Input aktuelle Forschungsergebnisse des Projektes „Neustart der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in NRW in der Corona-Zeit“ vor. Im Vordergrund stand die Frage, wie sich Formate, Inhalte, Konzepte und Methoden in den zentralen Bereichen der OKJA während der Pandemie gewandelt haben. In einem sechsteiligen Forschungsvorgehen wurden u. a. 14 Einrichtungen aus Nordrhein-Westfalen von Juni bis September 2020 qualitativ befragt und eine landesweite quantitative Online-Befragung von Einrichtungen der OKJA in 2021 durchgeführt.

Abschließend berichtete Prof. Dr. Sturzenhecker von einer OKJA, die in Pandemiezeiten fachlich stark und schnell auf Herausforderungen reagiert habe. Das Handlungsfeld sei komplexer geworden, da gleichzeitig virtuell und analog agiert werden musste, um den von Kindern und Jugendlichen geforderten Freiraum gewährleisten und deren Beteiligung an Erziehungs- und Bildungsprozessen stärken zu können. Dabei sei eine Orientierung am Sozialraum und der digitalen Lebenswelt der Heranwachsenden erforderlich. Einer Entgrenzung müsse durch die konzeptionelle Fokussierung auf den Bildungsauftrag entgegengewirkt werden.

Diskussion

Die in beiden Inputs angestoßene Diskussion um Entgrenzung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit setzte sich auch in der Beteiligung des Plenums fort. Es stellte sich nicht nur die Frage danach, wie es gelingen kann, zu prä-pandemischen Arbeitsweisen und Prinzipien zurückzukehren, sondern auch nach der Notwendigkeit dieses Schrittes.

Die Offene Kinder- und Jugendhilfe habe sich während der Pandemie zu einer „Reparaturwerkstatt“ entwickelt, auf die sich die angrenzenden Systeme zu sehr verlassen hätten. Jugendarbeit dürfe jedoch nicht verzweckt werden, sondern müsse sich für Freiraum und Partizipation von Heranwachsenden einsetzen. Dafür sei es nötig, dass dieses Handlungsfeld sowohl politischen als auch trägerbezogenen Rückhalt erhält. In Bezug auf eine Abgrenzung von anderen Disziplinen, z. B. der Schulsozialarbeit, war das Plenum zwiegespalten. Einerseits sei dies aufgrund fehlender Kapazitäten der Fachkräfte erforderlich, denn nur so könnten sich Fachkräfte der Kinder- und Jugendarbeit für die Interessen der jungen Menschen einsetzen und für ihre Prinzipien und Arbeitsbedingungen einstehen. Andererseits könne man sich auf Augenhöhe begegnen und voneinander lernen. Wie dies konkret gelinge, sei in weiteren Formaten zu klären und in politischen Gremien wie z. B. Jugendparlamenten verstärkt einzubringen.

Ausblick

Eine Übersicht zu den Themenschwerpunkten der Podcast-Folgen, im Rahmen derer Vertreter*innen aus Wissenschaft und Praxis zu den jeweiligen Themen ins Gespräch kommen, finden sich hier

Das Projekt „Transfer-Talks“ wird im Rahmen von AUF!leben – Zukunft ist jetzt. gefördert. AUF!leben – Zukunft ist jetzt. ist ein Programm der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Das Programm ist Teil des Aktionsprogramms Aufholen nach Corona der Bundesregierung.

Wir danken an dieser Stelle nochmal herzlich unseren Referierenden für die wertvollen Inputs sowie allen Teilnehmenden für das große Interesse und die rege Beteiligung!