Die europäischen Dimensionen in der Kinder- und Jugendhilfe – Relevanz und Potential europäischer Politik für die Kinder- und Jugendhilfe

Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

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In den letzten Jahren wurde deutlich, wie sehr die Europäische Union (EU) in ihren sozial- und gesellschaftspolitischen Arbeitsfeldern sowohl indirekte als auch direkte Effekte auf die Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien sowie auf das System der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland hat. Die Europäische Union wird dennoch eher als ein abstraktes Gebilde wahrgenommen, das weit weg von der eigenen Lebensrealität zum Tragen kommt. Vor dem Hintergrund der aktuellen Krisensituation der letzten Jahre werden Europa und die Europäische Union oft mit negativ konnotierten Entwicklungen verbunden, deren Ursachen aber nur bedingt auf das Handeln der EU zurückzuführen sind, wie beispielsweise die durch die Wirtschaftskrise begründete zunehmende Jugendarbeits- und Perspektivlosigkeit, eine wachsende soziale Kluft zwischen Regionen, Nationalstaaten und innerhalb der Staaten oder die Zunahme des Rechtspopulismus sowie die Abkehr von traditionellen Formen politischer Partizipation und die damit verbundene Vertrauenskrise in politische Institutionen.

Dabei werden die Vielzahl an Chancen und Innovationen, die die Europäische Union durch ihre Regelungen und Instrumente auf allen Ebenen – insbesondere auch auf kommunaler Ebene – erzielt, vielerorts nicht unmittelbar miteinander in Verbindung gebracht. So haben die jugend-politische Zusammenarbeit in Europa, aber auch die in den letzten Jahren zunehmende Integration von kinder- und jugend(hilfe)politischen Frage-stellungen in andere Politikfelder – wie z. B. in die Bereiche der Bildungspolitik, der sozialen Integration, des Sozialschutzes, der Gesundheit, der Kinderrechte, des Kinderschutzes und nicht zuletzt des Arbeitsmarktes – positive Auswirkungen auf die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland.

Insbesondere für die kommunale Ebene sind Bildung, Förderung und sozialer Ausgleich wichtige Zukunftsthemen. Es ist die kommunale Kinder- und Jugendhilfe, die junge Menschen von Beginn an individuell fördert und ihnen und ihren Familien mit bedarfsorientierten Unterstützungs- und Betreuungsangeboten hilft. Beispielsweise gestaltet sie in enger Kooperation mit anderen Akteuren die Übergänge von der Kindertagesbetreuung in die Schule und danach in die Ausbildung und den Beruf. Sie bietet vielfältige Angebote und Strukturen im Bereich Schüler-, Jugend- und Studentenaustausch, im Umgang mit sozialräumlicher Segregation, im Bereich der non-formalen Bildung und zur Stärkung bürgerschaftlichen Engagements sowie der Jugendarbeit und der Jugendbeteiligung.

In verschiedenen Stellungnahmen und Diskussionspapieren[1] hat die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ bereits europäische Themen benannt, die einer weiteren Auseinandersetzung in der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland bedürfen. Das vorliegende Diskussionspapier greift einige dieser Themen auf und möchte damit insbesondere die Herausforderungen einer stärkeren europäischen Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland aufgreifen. Es geht dabei um:

  • die Einordnung der auf europäischer Ebene stattfindenden relevanten Entwicklungen für den fachlichen Diskurs in der deutschen Kinder- und Jugendhilfe,
  • die Einordnung von „Kinder- und Jugend(hilfe)politik im europäischen Kontext“, insbesondere mit Blick auf die Zuständigkeiten der EU in den für die deutsche Kinder- und Jugendhilfe relevanten Politikfeldern,
  • eine Einordnung des im europäischen Diskurs benutzten Begriffes „Youth Work“ sowie
  • die Erläuterung der Relevanz und des Potenzials europäischer Politikansätze und Programme für die deutsche Kinder- und Jugendhilfe anhand der unterschiedlichen Wirkungsebenen europäischer Politik, insbesondere auch für die kommunale Ebene.

1. Kinder- und Jugendhilfe im europäischen Kontext - Politikfeldbezug und notwendige Begriffsklärungen

1.1 „Kinder- und Jugend(hilfe)politik im europäischen Kontext“

Die deutsche Kinder- und Jugend(hilfe)politik findet ihre gesetzliche Normierung im SGB VIII, blickt auf eine lange professionelle sozialpädagogische Tradition in der Kinder- und Jugendhilfe zurück und wird von Bund, Ländern und Kommunen unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips verantwortet bzw. in Zusammenarbeit mit den freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe durchgeführt. Ein vergleichbares Hilfe-, Förderungs- und non-formales Bildungssystem im Sinne einer expliziten „europäischen Kinder- und Jugend(hilfe)politik“ gibt es auf der Ebene der Europäischen Union nicht. Deswegen sind die deutsche Kinder- und Jugendhilfe bzw. die einzelnen Handlungsfelder immer wieder aufgefordert, ihren Politikfeldbezug und ihr Referenzsystem auf europäischer Ebene zu klären. Hierzu gehört auch eine Verdeutlichung der Verteilung von Zuständigkeiten und Kompetenzen zwischen EU und Mitgliedstaaten bezogen auf die für die deutsche Kinder- und Jugendhilfe relevanten Politikfelder.

In der EU unterscheidet man drei Arten von Zuständigkeiten: Solche, die völlig in der Kompetenz der EU liegen, solche, die den Mitgliedstaaten vorbehalten sind, und jene, in denen EU und Mitgliedstaaten zusammenarbeiten. Die für die deutsche Kinder- und Jugendhilfe relevanten Politikfelder liegen i. d. R. jenseits des Bereiches der ausschließlichen Zuständigkeit der EU und fallen entsprechend der europäischen Verträge:

  • zum einen in den Bereich der zwischen Union und Mitgliedstaaten geteilten Zuständigkeiten in Politikfeldern bzw. konkurrierender und paralleler Kompetenzen (wie bspw. ein wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt; ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts; Forschung und Entwicklungszusammenarbeit; Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik);
  • zum anderen in den koordinierenden und unterstützenden Zuständigkeitsbereich der EU mit dem Ziel der Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten und des fachpolitischen Austausches zwischen diesen (z. B. in den Politikfeldern Schutz und Verbesserung der Gesundheit, Kultur, allgemeine und berufliche Bildung, Sport sowie im Bereich Jugend. In all diesen Politikfeldern dürfen die verbindlichen Rechtsakte der EU keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zur Folge haben).

Von besonderer Bedeutung ist die EU-Strategie Europa 2020 für „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“, die von den EU-Staats- und Regierungschefs im Juni 2010 angenommen wurde. Sie enthält konkrete Ziele, die in den nächsten zehn Jahren in Bereichen wie Beschäftigung, Bildung, Soziales, Energieverbrauch und Innovation erreicht werden sollen. Die in den jährlich erarbeiteten Nationalen Reformprogrammen und den Nationalen Sozialberichten benannten Aktivitäten sind ein zentraler Beitrag der EU-Mitgliedstaaten zur Strategie Europa 2020. Die Berichte enthalten nationale Ziele, auf die Kernziele der EU abgestimmte Ziele sowie Erläuterungen dazu, wie die Regierungen diese erreichen und Wachstums-hindernisse überwinden wollen. Als Gründungsmitglied bei Eurochild[2] begleitet die AGJ diesen Prozess der Fortschrittsberichterstattung kontinuierlich, indem sie mit Blick auf die Stärkung der Rechte und des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen eine Analyse dieser Berichte vornimmt.

Als zentrales Element des koordinierenden und unterstützenden Zuständigkeitsbereichs der EU fungiert die Offene Methode der Koordinierung (OMK). Sie ermöglicht der EU, auf Basis des EU-Vertrages und unter Beibehaltung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten politisch tätig zu werden bzw. die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zu unterstützen.[3] Sie dient dazu, sich zwischen der EU und den Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Konsultationen und Verhandlungen über gemeinsame Zielsetzungen in einem Politikbereich zu verständigen, in dem die EU über keine Gesetzgebungs-kompetenz verfügt. Die Mitgliedstaaten können dabei entscheiden, welche Schwerpunkte sie setzen und welche Instrumente[4] und Maßnahmen sie nutzen möchten, um zur Erreichung der gemeinsamen Ziele beizutragen. Im Jugendbereich findet die OMK ihren aktuell konkreten Ausdruck in dem „Erneuerte[n] Rahmen für die jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa 2010-2018“[5], der so genannten EU-Jugendstrategie.

Auf der Grundlage von Artikel 165 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) hat die EU eine explizit beschriebene Zuständigkeit für die Förderung des Ausbaus des grenzüberschreitenden Jugendaustauschs und des Austauschs sozialpädagogischer Betreuerinnen und Betreuer sowie der verstärkten Beteiligung der Jugendlichen am demokratischen Leben in Europa. Als Beitrag zur Verwirklichung dieser Ziele können unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Fördermaß-nahmen und Empfehlungen erlassen.

1.2 Youth Work

Der im europäischen Diskurs benutzte Begriff Youth Work ist im deutschen Kontext nicht mit seiner wortwörtlichen Übersetzung Jugendarbeit gleichzusetzen, da er sich auf ein wesentlich breiteres Spektrum sozialer, kultureller und bildungspolitischer Aktivitäten bezieht, die über das deutsche Verständnis von Jugendarbeit im Sinne von §§ 11 SGB VIII hinaus gehen. Deswegen verwenden wir im Folgenden den Begriff Youth Work. So ist laut den Schlussfolgerungen des Rates zum Beitrag einer qualitätsvollen Jugendarbeit vom 16. Mai 2013 Youth Work im europäischen Kontext „ein breites Spektrum an Aktivitäten sozialer, kultureller, bildungs- oder allgemeinpolitischer Art (…), die von und mit jungen Menschen und für diese durchgeführt werden. Diese erstrecken sich zunehmend auch auf Sport- und Leistungsangebote für junge Menschen. (…) [Youth Work] gehört zum Bereich der außerschulischen Erziehung sowie der zielgruppenorientierten Freizeitbe-schäftigungen, die von professionellen oder freiwilligen Jugendbetreuern und Jugendleitern durchgeführt werden. Sie wird in unterschiedlicher Weise organisiert (von jugendgeführten Organisationen, Organisationen für die Jugend, informellen Gruppen oder im Rahmen von Jugenddiensten und staatlichen Behörden). [Youth Work] gibt es in verschiedenen Formen und Spielarten (beispielsweise offen zugänglich, gruppenbasiert, programmbasiert, im Rahmen der Sozialarbeit und separat) und sie wird auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene konzipiert.“[6]

Auch wenn Youth Work in Europa kein neues Konzept ist, so ist die Auseinandersetzung zur Definition und Profilbeschreibung von Youth Work in der EU nicht viel älter als fünf Jahre und steht inhaltlich erst am Anfang. Im Europarat erfährt die Debatte nach langer Zeit der inhaltlichen Auseinandersetzung erst wieder in den letzten Jahren eine höhere Bedeutung[7]. Fachliche Vorstellungen, Traditionen, Gesetzesgrundlagen und Strukturen von mindestens 28 europäischen Staaten kommen in diesem Diskurs zusammen. Nicht in allen Ländern ist Youth Work gesetzlich abgesichert und definiert, und dort, wo dies der Fall ist, gibt es die unterschiedlichsten Definitionen. Im Zuge der weiteren Umsetzung der EU-Jugendstrategie ist auf europäischer Ebene – sowohl politisch als auch praktisch – die Einsicht in die Bedeutung von Youth Work gewachsen und der Bedarf entstanden, Youth Work als politisches und jugendpädagogisches Konzept sowie als Handlungsfeld mit eigenen Standards und Qualitätsan-sprüchen zu beschreiben, weiterzuentwickeln und zu profilieren.

Nach Auffassung der Jugendministerinnen und Jugendminister der EU bildet Youth Work, eine wichtige Brücke für ausgegrenzte junge Menschen und leistet einen Beitrag zur Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden junger Menschen.[8] Jugendarbeit, Freiwilligentätigkeiten, aktives Bürgerengagement, nicht formales und informelles Lernen sowie Straßensozialarbeit und/oder Jugendsozialarbeit werden als bereichernd für junge Menschen angesehen.

Mit Youth Work können Brücken zu den Bildungs- und Beschäftigungs-systemen geschlagen und das formale Bildungssystem ergänzt werden. Auf der Ebene der Jugendlichen können Selbstvertrauen, Wohlbefinden, gesellschaftliches Kapital und die eigenständige Entwicklung gefördert sowie soziale Kompetenzen und fachliche Qualifikationen, die die Beschäftigungsfähigkeit verbessern, gestärkt werden[9].

Eine aktuelle Studie der Europäischen Kommission zur Relevanz von Youth Work[10] in Europa bezieht die Arbeitsweisen und Wirkungen von Youth Work auf die acht Aktionsfelder der EU Jugendstrategie, so wie es der Beschluss des Jugendministerrates vorgesehen hat, der Youth Work als eine Querschnittsaufgabe zur Berücksichtigung in allen Bereichen verstanden hat. Dies verdeutlicht, dass die für Youth Work relevanten Aktionsfelder sehr diversifiziert sind und weit über den Bereich der klassischen Jugendarbeit hinausgehen (siehe nachfolgende Tabelle). Allen Aktionsfeldern gemein ist aber die Fokussierung auf junge Menschen, deren persönliche Entwicklung und die freiwillige Teilnahme. Youth Work zielt auf Selbstbestimmung, Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und eine positive Sozialisation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Damit trägt Youth Work zur Teilnahme am demokratischen Leben, zur Prävention riskanten Verhaltens sowie zur sozialen Eingliederung und Kohäsion bei.

Der sich wandelnde Beitrag von Youth Work in einer sich verändernden Gesellschaft in Europa und die sich damit weiterhin verändernden Aufgaben stehen im Mittelpunkt der jugendpolitischen Zusammenarbeit der EU. Eine Herausforderung besteht darin, Youth Work als Ressortaufgabe weiter zu qualifizieren. Gleichzeitig geht es aber auch um eine verstärkte Zusammenarbeit mit anderen Politikfeldern unter Beachtung dieser Qualitätsstandards, Praxis und Methoden[11].


2. Die Relevanz und das Potenzial europäischer Politik und Programme für die deutsche Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere auch der kommunalen Ebene

2.1 Europäische Dimensionen in der Kinder- und Jugendhilfe

Das Ziel, die Politik und Praxis in verschiedenen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe durch europäische Impulse anzureichern und weiterzuentwickeln und damit eine stärkere europäische Ausrichtung der Kinder-und Jugendhilfe insgesamt zu fördern, wird nach Ansicht der AGJ insbesondere dann befördert, wenn entsprechende Aktivitäten einen oder mehrere der folgenden Aspekte berücksichtigen (europäische Dimensionen[12]):

  • Europabezogene und europäische Bildung;
  • das Lernfeld Europa für junge Menschen erschließen;
  • die europäische Mobilität von Fachkräften und deren Qualifizierung für die europabezogene Arbeit fördern;
  • europäische Zusammenarbeit und Vernetzung aufbauen und entwickeln;
  • europäische Prozesse des Voneinander-Lernens (Peer-Learning) initiieren und fördern;
  • Erfahrungen und Erkenntnisse der europäischen Debatten in die deutsche Fachpraxis einbringen – und umgekehrt;
  • eine querschnittsorientierte Umsetzung anstreben.

Europabezogene und europäische Bildungsarbeit

Europabezogene und europäische Bildungsarbeit ist als Querschnittsaufgabe zu begreifen, da fast alle nationalen Themen aus dem europäischen Blickwinkel betrachtet werden können und müssen. Sie bedeutet keineswegs eine reine Vermittlung einer Institutionenkunde oder des europäischen Einigungsprozesses. Vielmehr geht es darum, Europa neben einem gemein-samen Wirtschaftsraum als Kontinent begreifen und erfahren zu lernen, der auf kultureller Vielfalt aufbaut und somit interkulturelles Lernen unabdingbar macht. Alle in der Jugendarbeit und/oder Bildung Verantwortlichen (sowie alle Bürgerinnen und Bürger) müssen lernen, dass sie täglich zum weiteren Entstehen und Bestehen von Europa beitragen (müssen) und diese Einstellung auch den Jugendlichen vermitteln/vorleben sollten.

Das Lernfeld Europa für junge Menschen erschließen

Grenzüberschreitende Mobilität für junge Menschen bietet wichtige non-formale und informelle Lernerfahrungen, deren positive Wirkungen für die persönliche Entwicklung in zahlreichen Studien belegt sind. Sich in ganz Europa als einem sprachlich und kulturell vielfältigen Lernfeld frei zu bewegen, stärkt nicht nur das europäische Bewusstsein und die aktive europäische Bürgerschaft, sondern auch die Bereitschaft zur Beteiligung an europäischer Politikgestaltung sowie die aktive Teilhabe an den Chancen, die die EU jungen Menschen bietet.

Die europäische Mobilität von Fachkräften und deren Qualifizierung für die europabezogene Arbeit fördern

Haupt- und ehrenamtliche Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe sind einerseits wichtige Multiplikatoren und Vorbilder für junge Menschen, wenn es um grenzübergreifende Angebote geht. Gleichzeitig können grenzüberschrei-tende Qualifizierungsmaßnahmen – wie europäische Trainings, Seminare, Studienreisen und Hospitationen – Fachkräften wichtige Erfahrungen und Kompetenzen vermitteln. Eine eigene Mobilitätserfahrung ist für viele Fachkräfte der Ausgangspunkt, Lernmobilität auch für die jeweiligen jugendlichen Zielgruppen im eigenen Arbeitsumfeld anzuregen. Dazu brauchen sie selbst Qualifizierung und Weiterbildung, um qualitativ hochwertige Programme und Maßnahmen durchführen zu können.

Europäische Zusammenarbeit und Vernetzung aufbauen und entwickeln

Eine kontinuierliche partnerschaftliche grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Organisationen sowie freien und öffentlichen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe oder die Arbeit in europäischen Netzwerken können ebenfalls Quellen für regelmäßigen Input und einen anregenden Erfahrungsaustausch im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der eigenen Angebote und Konzepte darstellen. Tragfähige Netzwerke können so die Praxis vor Ort weiterqualifizieren und alternative Sichtweisen und Anregungen für die fachliche Arbeit bieten. Darüber hinaus unterstützen sie die Entwicklung eines gemeinsamen fachlichen Verständnisses zwischen den beteiligten Akteuren in Europa.

Europäische Prozesse des Voneinander-Lernens (Peer-Learning) initiieren und fördern

Das innerhalb der politischen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten eingeführte Prinzip des grenzüberschreitenden Voneinander-Lernens wird vielfältig in sogenannten Peer-Learning Prozessen umgesetzt. Peer-Learning drückt sich als längerfristiger Fachaustausch aus, der in unterschiedlichen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe realisiert wird. In verschiedenen Formen des gegenseitigen Lernens (wie Fachkräfteprogramme, Job Shadowing, strategische transnationale Projekte, grenzübergreifende Kooperationen im Jugendbereich etc.) werden oft ähnliche fachliche Herausforderungen und politische Handlungsnotwendigkeiten bearbeitet – immer vor dem Hintergrund unterschiedlicher Praxis und professionellen Handelns.

Erfahrungen und Erkenntnisse der europäischen Debatten in die deutsche Fachpraxis einbringen – und umgekehrt

Europäische Impulse können aus den EU-Politikstrategien und den jugendpolitischen Diskursen auf europäischer Ebene generiert und in die deutsche Fachpraxis bzw. andere EU-Mitgliedstaaten eingebracht werden. Hierbei geht es darum, die nationale Praxis „europäisch“ zu bereichern und europäische Impulse in das eigene Handeln aufzunehmen. Themen, die beispielsweise im Zuge der jugendpolitischen Zusammenarbeit auf europäischer Ebene nationale fachliche Debatten verstärken, sind die Partizipationsdebatte, die Anerkennung non-formaler und informeller Bildung sowie transnationale Mobilität.
Umgekehrt können auch Erfahrungen und Erkenntnisse aus der deutschen Fachpraxis auf die europäische Ebene transferiert werden. Als Beispiel hierfür kann die in diesem Papier vorgenommene Einordnung des im europäischen Diskurs benutzten Begriffes Youth Work im Verhältnis zu den Ausdifferenzierungen des deutschen Systems der Kinder- und Jugendhilfe dienen. Ein Transfer der jeweiligen Impulse auf die nationale bzw. europäische Ebene kann zu einem gemeinsamen Fachverständnis und zu gemeinsamen Themen beitragen und damit auch fachliche und politische Auseinandersetzungen in der EU insgesamt vorantreiben.

Eine querschnittsorientierte Umsetzung anstreben

Mit dem „Erneuerten Rahmen für die jugendpolitische Zusammenarbeit“ verfolgt die EU erstmals einen explizit querschnittspolitischen Handlungsansatz für die Jugendpolitik auf europäischer Ebene. In der EU-Jugendstrategie wird der Querschnittsansatz beschrieben als die „durchgängige Berücksichtigung von Jugendbelangen, d. h. Initiativen zur Förderung eines sektorübergreifenden Vorgehens, bei dem den Problemen der Jugend bei der Konzipierung, Umsetzung und Bewertung von Strategien und Maßnahmen in anderen Bereichen der Politik, die erhebliche Auswirkungen auf das Leben junger Menschen haben, Rechnung getragen wird“. Gerade der Querschnittsansatz der EU-Jugendstrategie ermöglicht perspektivisch den Zugang zu weiteren für die Kinder- und Jugendhilfe relevanten Politikstrategien der EU, wie die „Europa 2020-Strategie“, die Jugendbeschäftigungsinitiative der EU, die EU-Strategie zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention[13], die Initiative der Europäischen Kommission zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen oder die Zusammenarbeit der EU im Bereich Frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung. Mit dem verstärkt sektorübergreifenden Ansatz ist aber auch eine konzeptionelle Verschiebung wahrzunehmen – von der Förderung von Partizipation und Empowerment junger Menschen hin zur Förderung individueller Beschäftigungsfähigkeit, der Gesundheitsförderung sowie zur Prävention von Schulabbruch und sozialer Ausgrenzung.[14]“


2.2 Wirkungsebenen europäischer Politik[15]

Die europäische Politik weist grundsätzlich unterschiedliche Wirkungsebenen auf, die verschiedene Anknüpfungsmöglichkeiten für die Handlungswirklichkeit in der Kinder- und Jugendhilfe eröffnet. Zu unterscheiden sind:

1) die Politik der EU mit ihrem mittelbaren Einfluss auf die Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien sowie auf die entsprechenden nationalen Hilfesysteme,
2) die Politik der EU im Bereich Kindheit und Jugend als Querschnittspolitik der EU, die die Interessen von Kindern, Jugend-lichen und Familien in anderen Politikfeldern zu berücksichtigen versucht:

  • Beispielsweise versuchen Akteure im Jugendbereich entsprechend dieses Politikansatzes die Interessen von Jugendlichen insbesondere in den Feldern Beschäftigung, Bildung und Integration in den Arbeitsmarkt zu berücksichtigen. Gleichzeitig sind hier die EU-Jugendstrategie mit ihrem sektorübergreifenden Ansatz beheimatet und die Europäischen Strukturfonds mit ihrem Querschnittsansatz zu verorten.
  • Im Bereich Kindheit werden die Interessen von Kindern beispielsweise in den Politikfeldern Bildung (i. S. v. frühkindlicher Bildung), Kinderrechte oder Soziales zu berücksichtigen versucht.

3) die Politik der EU im Bereich Jugend als Ressortpolitik, die sich in der EU-Jugendstrategie als Handlungsrahmen sowie in der Ausgestaltung des EU-Programms „Erasmus+“ zeigt,[16]
4) die Politik der EU als gegenseitiger, vergleichender Informations- und Erfahrungsaustausch zwischen den relevanten Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe aus unterschiedlichen europäischen Ländern (beispielsweise im Bereich der Hilfen zur Erziehung oder im Bereich der Kindertagesbetreuung).

Im Folgenden wird anhand der unterschiedlichen Wirkungsebenen europäischer Politik die Relevanz ausgewählter europäischer Politikansätze und Förderprogramme für die Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien bzw. ihre Bedeutung und ihr Potenzial mit besonderem Blick auf die kommunale Ebene beispielhaft erörtert.

Mittelbarer Einfluss der EU-Politik – Beispiel: Auswirkungen des Europäischen Fiskalpaktes auf die Ausstattung der Kinder – und Jugendhilfe

Im Hinblick auf die Gewährleistung einer umsichtigen Finanzpolitik in allen EU-Mitgliedstaaten verständigten sich diese auf die Einführung des Europäischen Fiskalpaktes, der am 1. Januar 2013 in Kraft trat. Hauptziel des Fiskalpaktes ist ein ausgeglichener allgemeiner Staatshaushalt oder das Aufweisen eines Haushaltsüberschusses.[17] Andernfalls besteht erstmalig die Möglichkeit der finanziellen Sanktionierbarkeit. Damit fordert der Fiskalpakt von den Ländern und Kommunen in Deutschland Sparanstrengungen über die im Grundgesetz verankerte nationale Schuldenbremse hinaus und hat somit mittelbar auch Einfluss auf die finanzielle Ausstattung von Einrichtungen, Angeboten und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe.

Ressort- und Querschnittsansatz – Beispiel: Die EU-Jugendstrategie

Die EU-Jugendstrategie möchte die Chancengleichheit junger Menschen beim Zugang zu Bildung und Arbeit sicherstellen und das gesellschaftliche Engagement der jungen Menschen fördern. Um ihre umfassenden Ziele zu erreichen, schlägt die EU-Jugendstrategie einen dualen Weg vor: Durch eigenständige spezifische Maßnahmen soll der Bereich Youth Work weiterentwickelt werden und dabei mithelfen, dass sich die Lebenslagen von Jugendlichen verbessern (Ressortansatz). Indem sich Akteure zugleich auch in andere für junge Menschen relevante Politikfelder einmischen, werden ebenfalls positive Effekte auf die Lebenslagen von jungen Menschen generiert (Querschnittspolitik).
Zu unterscheiden ist die Umsetzung der EU-Jugendstrategie auf nationaler und auf europäischer Ebene:
In Deutschland haben sich die fachpolitischen Ressorts der Kinder- und Jugendhilfe auf Landes- und Bundesebene gemeinsam für eine Umsetzung der EU-Jugendstrategie in den drei Themenkorridoren - „Partizipation fördern und Demokratie stärken“, „Anerkennung und Sichtbarmachung des nichtformalen und informellen Lernens in der Jugendarbeit“ und „Soziale Integration und gelingende Übergänge in die Arbeitswelt“ entschieden. Die drei Themenkorridore beziehen sich insbesondere auf die Leistungsbereiche §§ 11, 12 und 13 SGB VIII. Entsprechende Maßnahmen entfalten ihre größte Wirksamkeit auf der kommunalen Ebene. Die kommunale Ebene zu erreichen, stellt zugleich eine der großen Herausforderungen dar.
Während sich die Umsetzung der EU-Jugendstrategie in Deutschland auf die drei genannten Themenkorridore konzentriert, sind auf europäischer Ebene durch die folgenden acht Aktionsfelder weitere Themen benannt, die Anknüpfungsmöglichkeiten für die kommunale Jugendhilfepraxis bieten: 1) Allgemeine und berufliche Bildung, 2) Beschäftigung und Unternehmensgeist, 3) Gesundheit und Wohlbefinden, 4) Teilhabe, 5) Freiwilligentätigkeit, 6) Soziale Eingliederung, 7) Jugend in der Welt und 8) Kreativität und Kultur. Neben europäischen Impulsen, die sich aus den genannten drei Themenkorridoren im Rahmen der nationalen Umsetzung der EU-Jugendstrategie ergeben, finden sich somit in der EU-Jugendstrategie weitere wertvolle Impulse für die Praxis der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe, die weit über den bisherigen Prozess der Bund-Länder Zusammenarbeit hinausgehen.

Ressortansatz – Beispiel: Erasmus+

ERASMUS+, das EU-Programm für allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport, bietet mit seinem Kapitel „Erasmus+ JUGEND IN AKTION“ Fördermöglichkeiten für alle jungen Menschen bis 30 Jahre im Bereich der non-formalen Bildung und des informellen Lernens sowie für Fachkräfte und Entscheidungstragende. Mit diesem Instrument können Jugendbegegnungen, der Europäische Freiwilligendienst, Mobilitätsmaßnahmen für Fachkräfte sowie strategische Partnerschaften, transnationale Jugendinitiativen und politische Aktionen, wie der Strukturierte Dialog, finanziert werden.[18] Erasmus+ ist als Gesamtprogramm gleichzeitig in seiner sektorübergreifenden und die Bereiche Hochschule, Schule, Berufliche Bildung, Erwachsenen-bildung und außerschulische Bildung verbindenden Komponente ein Beispiel für den Querschnittsansatz mit besonderer Relevanz für die kommunale Praxis in all seinen Bereichen. Gerade für die kommunale Jugendhilfepraxis bietet das Programm (wie bereits in Vorläuferprogrammen auch) eine Vielzahl von bereichsspezifischen oder übergreifenden Anknüpfungspunkten zur Förderung und Gestaltung von Lernangeboten für junge Menschen in Verbindung mit Mobilitätsmaßnahmen in den verschiedenen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe.

Querschnittsansatz – Beispiel: Europäische Strukturfonds in Nordrhein-Westfalen

In besonderem Maße können auch die Europäischen Strukturfonds für die kommunale Kinder- und Jugendhilfe bzw. für relevante Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen auf kommunaler Ebene genutzt werden. Dies wird im Folgenden exemplarisch an der Förderkonzeption im Land NRW konkretisiert. 2014 begann die neue Förderperiode aus den Europäischen Strukturfonds, die bis ins Jahr 2020 reicht. In diesem Zeitraum stehen  EU-Fördergelder in einem Umfang von europaweit insgesamt 352 Milliarden Euro zur Verfügung. 2,57 Milliarden davon erhält beispielsweise das Land Nordrhein-Westfalen. Die Landesre-gierung hatte bereits 2012 beschlossen, folgende Ziele mit allen drei EU-Strukturfonds zu verfolgen: Neben der Stärkung des Wirtschaftsstandorts und des Klimaschutzes wird ein sozialinklusiver Politikansatz verfolgt, der vor allem die Schaffung guter Startbedingungen für alle Kinder und Jugendlichen erreichen will.

Bei den drei EU-Strukturfonds handelt es sich um den „Europäischen Fonds für regionale Entwicklung“ (EFRE), den „Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums“ (ELER) und den „Europäischen Sozialfonds“ (ESF). Während Themen der Armutsbekämpfung, der Kinder- und Jugendhilfe, einschließlich der Familienhilfe oder der Integration, in der Vergangenheit fast ausschließlich aus dem ESF finanziert wurden, werden künftig präventive Maßnahmen zugunsten von Kindern und Jugendlichen aus allen drei Fonds mitfinanziert. Die Grundlage der Förderung ist das „Operationelle Programm“, das durch die EU-Kommission genehmigt wurde. Die Landesregierung veröffentlicht auf der Basis des Programms Aufrufe zur Einreichung von Anträgen.
Ein gemeinsamer Aufruf ist beispielsweise über alle drei Fonds zur präventiven und nachhaltigen Entwicklung von Quartieren und Ortsteilen vorgesehen, der sich an große Städte mit Quartieren mit besonderem Handlungsbedarf richtet. Der Aufruf vereint die sozialpolitischen Ziele der Europa Strategie 2020 mit der Präventionsstrategie des Landes NRW. Künftig wird in problematischen Quartieren die städtebauliche Entwicklung mit dem Aufbau kommunaler Präventionsketten eng verknüpft. Der Aufruf wird durch einen Leitfaden ergänzt, der Städten und Trägern einen Überblick über die Fördermöglichkeiten gibt, die in Quartieren mit besonderem Handlungsbedarf konzentriert werden sollen.

Eine ganz neue Fördermöglichkeit für kleinere Kommunen bzw. Jugendamtsbezirke bietet der ELER. Der erweiterte Ansatz folgt der Einsicht, dass Armutsbekämpfung und Chancengleichheit für Kinder und Jugendliche auch im ländlichen Raum verstärkt angegangen werden müssen. Gefördert werden sollen Handlungskonzepte, die auf vernetzte offene Angebote für Kinder und Familien setzen. Ein praktisches Beispiel für ein solches Angebot ist z. B. das Café Kinderwagen im Kreis Warendorf[19], in dem die Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsbereich erfolgreich miteinander kooperieren.

Die beiden beschriebenen Strategien zur Nutzung von EU-Fördermitteln seitens des Landes NRW sind Beispiele dafür, wie die EU durch ihre Förderpolitik mittelbar Einfluss auf die Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen nimmt bzw. wie die EU mit ihren Programmen für die Verbesserung der Lebensbedingungen auf kommunaler Ebene genutzt werden kann. So kann es nicht selten zu Synergie-Effekten auch für die kommunale Kinder- und Jugendhilfe kommen.[20]

Vergleichender Informations- und Erfahrungsaustausch – Beispiel: Zusammenarbeit im Bereich Frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung (FBBE)

Die politische Zusammenarbeit im Bereich FBBE auf europäischer Ebene basiert auf dem Wunsch der Mitgliedstaaten nach einem unterstützenden Kooperationsprozess, um allen Kindern Zugang zu Betreuung, Bildung und Erziehung zu ermöglichen und das Angebot in diesem Bereich qualitativ zu verbessern.[21] Durch den Austausch im FBBE sollen Strategien entwickelt werden, wonach in den beteiligten Ländern alle Kinder gleichermaßen gute Startchancen erhalten und Benachteiligungen aufgrund der sozialen Herkunft entgegen gewirkt wird. FBBE wird dabei auch als eine Strategie angesehen, um die Ziele von Europa 2020 zu erreichen. Da das Politikfeld der Frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung in den Zuständigkeits-bereich der Mitgliedstaaten fällt, kann die EU nur einen mittelbaren Beitrag zur Verbesserung der FBBE in den Mitgliedstaaten leisten und bedient sich deshalb des Instruments der Offenen Methode der Koordinierung. Damit will die EU die Mitgliedstaaten unterstützen, wirksame Politikansätze zu identifizieren, zu analysieren und deren Übertragbarkeit auf den eigenen Staat zu überprüfen. Dabei können die Mitgliedstaaten auf verschiedene Instrumente wie das Programm Erasmus+ und die Europäischen Strukturfonds zurückgreifen, um Fachkräfte weiter zu qualifizieren und die Infrastruktur zu verbessern. Das EU-Rahmenprogramm im Bereich Forschung und Entwicklung – Horizont 2020 – kann darüber hinaus zur Erforschung und Entwicklung wirksamer Ansätze genutzt werden.
Konkret wurde auf EU-Ebene bisher eine thematische Arbeitsgruppe zur Frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung eingerichtet. Diese Arbeitsgruppe nutzt das Instrument des Voneinander-Lernens dazu, um Vorschläge für eine Verbesserung der FBBE zu entwickeln, die in einem Qualitätsleitrahmen für frühkindliche Bildung und Betreuung münden.[22]

Fazit

Mit dem vorliegenden Papier möchte die AGJ einen Beitrag zur Einordnung der auf europäischer Ebene stattfindenden relevanten Entwicklungen sowie der im europäischen Kontext verwendeten zentralen Begriffe im Verhältnis zum ausdifferenzierten System der Kinder- und Jugendhilfe in der Bundesrepublik Deutschland leisten. Damit soll zum einen der fachpolitische Diskurs in der deutschen Kinder- und Jugendhilfe mit Blick auf die Herausforderungen einer stärkeren europäischen Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe in der Bundesrepublik Deutschland befördert und weiterführende Diskussionsprozesse auf nationaler Ebene angeregt werden. Zum anderen möchte die AGJ mit diesem Papier auch den fachpolitischen Diskurs zu Youth Work auf der europäischen Ebene befördern – ganz im Sinne der in diesem Papier benannten europäischen Dimension, Erfahrungen und Erkenntnisse aus der deutschen Fachpraxis auf europäischer Ebene einzubringen (siehe Kapitel 2.1).
Ausgehend von der Definition von Youth Work aus den Schlussfolge-rungen des Rates zum Beitrag einer qualitätsvollen Jugendarbeit sowie dem derzeitigen Diskussionsstand auf europäischer Ebene schlägt die AGJ vor, den im europäischen Diskurs benutzten Begriff Youth Work zunächst als Oberbegriff für die Bereiche Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit im Rahmen von §§ 11 bis 13 SGB VIII zu verstehen.

Demgegenüber meint „Kinder- und Jugend(hilfe)politik im europäischen Kontext“[23] alle für die Kinder- und Jugendhilfe relevanten Politik-strategien und Förderprogramme auf europäischer Ebene. Damit sind auch Teilbereiche, wie z. B. der Bereich Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung oder die Hilfen zur Erziehung einbezogen, deren Politikstrategien und Ansätze sich auch auf die Zielgruppe der Kinder beziehen.

Trotz der gerade formulierten Vorschläge betont die AGJ, dass der Prozess der Einordnung von zentralen Begrifflichkeiten auf europäischer Ebene sowie der Selbstverortung der Kinder- und Jugendhilfe im Kontext der unterschiedlichen Referenzsysteme nicht als statischer Prozess zu betrachten ist. Die in diesem Papier gemachten Ausführungen sind vielmehr als Orientierung zu verstehen bezogen auf ein komplexes und auf kultureller Vielfalt basierendes Europa, auf ein „organisches“ europäisches Gebilde, das im Zuge fortlaufender Annäherungs-, Abstoßungs- und Aushandlungs-prozesse zwischen der EU und den 28 EU-Mitgliedstaaten stetigen Veränderungen und Weiterentwicklungen unterliegt.

So werden fünf Jahre nach der ersten Konferenz in Gent die drei Gemeinschaften Belgiens im Rahmen des Vorsitzes des Ministerkomitees des Europarates eine „2. European Convention on Youth Work” vom 27.-30. April 2015 abhalten. Die 2. Konferenz soll die Diskussionen um die Beschreibung des Politikfeldes Youth Work in Europa fortsetzen und den Versuch unternehmen, eine gemeinsame Basis für ein Verständnis von Youth Work als Instrument zur Unterstützung der persönlichen, sozialen und beruflichen Entwicklung junger Menschen zu schaffen. Im Rahmen der Konferenz sollen die Entwicklungen von Youth Work der letzten Jahre in den Blick genommen werden. Zudem soll mit dem Ziel einer erneuerten Youth Work-Strategie und Agenda zur Stärkung des Stellenwertes und der Entwicklung von Youth Work in Europa ein entsprechendes Signal an die Mitgliedstaaten, den Europarat und die Europäische Union ausgesendet werden.

Somit bedarf es eines beständigen gegenseitigen Erfahrungsaustausches und fachpolitischen Diskurses – sowohl auf europäischer und nationaler Ebene als auch im wissenschaftlichen Kontext und zwischen den Akteuren der einzelnen Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe vor Ort. Die Akteure der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland müssen sich verstärkt in den fachlichen Diskurs um die Konzeption und Praxis von Youth Work sowie hinsichtlich aller für die Kinder- und Jugendhilfe relevanten Politikstrategien auf europäischer Ebene einbringen. Durch eigene Fachkonzepte und Standards können die verschiedenen Prozesse mitgestaltet und die sich daraus ergebenden Impulse für die eigene Arbeit vor Ort nutzbar gemacht werden.

Neben der Einordnung der auf europäischer Ebene stattfindenden relevanten Entwicklungen sowie des Vorschlags zur Einordnung des Begriffes Youth Work möchte die AGJ mit dem vorliegenden Papier anhand der verschiedenen Wirkungsebenen von EU-Politik die Relevanz und das Potenzial europäischer Politikansätze und Programme für die deutsche Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere auch für die kommunale Ebene, verdeutlichen.
Die AGJ betont die grundlegende (direkte und indirekte) Bedeutung europäischer Politikansätze und Förderprogramme sowohl für die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland insgesamt als auch für die Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. Dabei haben Politikstrategien und Förderprogramme im Rahmen der jugendpolitischen Zusammenarbeit in Europa (EU-Jugendstrategie) und die Umsetzung der EU-Jugendstrategie auf der nationalen Ebene eine spezifische Relevanz für die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Zudem zeichnet sich auf europäischer Ebene zurzeit eine Vielzahl von für die Kinder- und Jugendhilfe relevante politische Entwicklungen hinsichtlich der Zielgruppe der Kinder ab, die innerhalb des derzeitigen Diskurses auf europäischer Ebene jedoch kaum einen entsprechend Raum einnehmen. Daher ist die AGJ der Ansicht, dass die kinderpolitischen Entwicklungen auf EU-Ebene zukünftig einer besonderen Betrachtung und Analyse bedürfen und durch den in Deutschland vorherrschenden ganzheitlichen Ansatz der Kinder- und Jugendhilfe grund-legend befördert werden könnten.
Die verschiedenen EU-Förderprogramme wie „Erasmus+“ und die Europäischen Strukturfonds eröffnen überdies zahlreiche Möglichkeiten, zusätzliche Fördermittel für die Umsetzung von Projekten und Aktivitäten in den einzelnen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe zu akquirieren. Diese sollten verstärkt in das eigene Handlungsspektrum der Träger und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe aufgenommen werden. Gleichzeitig bedarf es dafür der politischen Ausgestaltung entsprechender Rahmenbe-dingungen sowie der Ausrichtung auf die Antragsvoraussetzungen (z. B. Zusammenarbeit mit internationalen Partnern, Qualifizierung für die Antragstellung) auf der Trägerebene.

Eine Beförderung europäisch ausgerichteter Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe im Sinne der in diesem Papier aufgelisteten europäischen Dimensionen (siehe Kapitel 2.1) kann für Kinder, junge Menschen, Fachkräfte und Organisationen einen Mehrwert bringen und individuelle, organisatorische und systemische Wirkungen erzeugen. Die bisherige Praxis zeigt, dass die genannten europäischen Dimensionen für sämtliche Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe relevant sind und die praktische Arbeit vor Ort bereichern können. Diese Ansätze sind weiterzuentwickeln, um eine Engführung und Funktionalisierung zu vermeiden.

Kommunalpolitik und Europapolitik sind dabei direkt miteinander verwoben. Europas Städte, Gemeinden und Landkreise sind für die Europäische Kommission außerordentlich wichtig, denn sie sind in Deutschland neben der EU, dem Bund und den Ländern die vierte Verwaltungsebene und bilden damit eine unmittelbare Brücke zu den Bürgerinnen und Bürgern. So greifen die Mehrzahl der europäischen Gesetze direkt in das Leben vor Ort ein und mehr als die Hälfte aller kommunalrelevanten Gesetze und Verordnungen entstehen derzeit auf der EU-Ebene. Dabei ist der Entwicklungsstand der Europäisierung in den Kommunen sehr unterschiedlich: Viele Kommunen haben sich bereits europäisch orientiert, sind in europäische Netzwerke (z. B. Eurocities) eingebunden und profitieren im erheblichen Ausmaß von europäischen Fördermöglichkeiten. Andere Kommunen (die insbesondere von einer abnehmenden Bevölkerung, selektiver Abwanderung und prekärer finanzieller Situation geprägt sind) können die Notwendigkeit der finanziellen Konsolidierung nicht mehr mit einer strategischen Steuerung in Richtung Europa verknüpfen. Sie sind häufig gezwungen die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe auf die Handlungsfelder Kindertagesbetreuung und Hilfen zur Erziehung zu reduzieren. Die Förderung der Infrastruktur für die offene Kinder- und Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit und internationalen Jugendarbeit ist hierbei gefährdet. Für diese Kommunen ist eine Win-win-Situation im europäischen Kontext nicht selbstverständlich. Sie benötigen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ein konzeptionelles und finanzielles Unterstützungssystem, z. B. in Form von Beratungsstellen bei den Landesjugendämtern und entsprechenden Förderpositionen zur Komplementärfinanzierung europäischer Programme in den Förderplänen der Länder und des Bundes (KJP).

Herausforderungsvoll erscheint in dem Zusammenhang zudem, wie die vielfältigen von europäischer Ebene kommenden Impulse an die vor Ort gewachsenen Strukturen und lokal initiierten Aktivitäten anknüpfen und diese stärker sichtbar machen und verstärken können.

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 26./27. Februar 2015

 

[1] Vgl. AGJ-Stellungnahme „Kinder- und jugendpolitische Anforderungen an die Umsetzung von „Europa 2020“ (6./7. April 2011); AGJ-Diskussionspapier „Umsetzung der EU-Jugendstrategie in Deutschland – Herausforderungen und Anregungen für die zweite Phase (2014-2018) aus der Perspektive der Kinder- und Jugendhilfe“ (28./29. November 2013).
[2] Im europäischen Netzwerk Eurochild vertritt die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ als Gründungsmitglied die Interessen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland.
[3] Die Europäische Kommission sprach sich im Jugendbereich erstmalig mit dem 2001 veröffentlichten „Weißbuch der Europäischen Kommission. Neuer Schwung für die Jugend Europas“ für die Anwendung der OMK im Sinne einer neuen Form des „Regierens“ aus. In der auf Grundlage des Weißbuchs verabschiedeten „Entschließung des Rates vom 27.06.2002 zu dem Rahmen für die jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa“ verständigte sich der Rat der Europäischen Union darauf, die OMK „in einer flexiblen, für den Jugendbereich geeigneten Weise unter gebührender Berücksichtigung der einzelstaatlichen Zuständigkeiten und des Subsidiaritätsprinzips“ anzuwenden, vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2001): Weißbuch der Europäischen Kommission. Neuer Schwung für die Jugend Europas. Brüssel; Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften (2002): Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 27.06.2002 zu dem Rahmen für die jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa (2002/C 168).
[4] Wesentliche Instrumente der OMK sind Entschließungen des Rates sowie Empfehlungen und Leitlinien der Kommission an die Mitgliedstaaten, teilweise unterstützt durch Aktionspläne und Berichterstattungen.
[5] Vgl. Amtsblatt der europäischen Union (2009): Entschließung des Rates vom 27. November 2009 über einen erneuerten Rahmen für die jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa (2010-2018) (2009/C 311/01).
[6] Zit. Rat der Europäischen Union (2013): Schlussfolgerungen des Rates zum Beitrag einer qualitätsvollen Jugendarbeit zur Entwicklung, zum Wohlbefinden und zur sozialen Inklusion junger Menschen. Brüssel.
[7] Insbesondere gewinnt die Debatte über Youth Work im Europarat mit der Durchführung der „2. European Convention on Youth Work” im April 2015 durch die drei Gemeinschaften Belgiens im Rahmen des Vorsitzes des Ministerkomitees des Europarates an Dynamik.
[8] Ebd.
[9] Ebd. S. 5 ff.
[10] European Commission (2014), Working with young people: the value of youth work in the European Union. ICF GHK, prepared by Allison Dunne, Daniela Ulicna, Ilona Murphy, Maria Golubeva.
[11] Hiermit sind die Grundprinzipien wie beispielsweise die Fokussierung auf die persönliche Entwicklung junger Menschen (Selbstbestimmung, -vertrauen, -bewusstsein und positive Sozialisation) sowie das Prinzip der Beteiligung und Freiwilligkeit gemeint.
[12] In Anlehnung an JUGEND für Europa (2014): Die Europäische Dimension in der Kinder- und Jugendhilfe - Ein Handbuch mit Erläuterungen und Praxisbeispielen.
[13] Ein vergleichbarer enger Kooperationsrahmen analog der jugendpolitischen Zusammenarbeit in Europa (der EU-Jugendstrategie) besteht im kinderpolitischen Bereich nicht. Dennoch wird auf die Stärkung der Rechte und die Beförderung des Wohlergehens von Kindern sowohl in den europäischen Verträgen als auch in verschiedenen Deklarationen, Mitteilungen und Empfehlungen der EU Bezug genommen.
[14] Vgl. Williamson, H. (2015): Mapping and scanning the horizons for European youth work in the 21st century. Towards the 2nd European Youth Work Convention, Brüssel.
[15] In Anlehnung an Thimmel, A. (2015): Kinder- und Jugendhilfe in Europa, in: Böllert (Hrsg.): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe (noch nicht veröffentlicht).
[16] Bezogen auf den Bereich Kindheit kann man nicht von EU-Politik als Ressortpolitik sprechen.
[17] Vgl. geänderter Stabilitäts- und Wachstumspakt, Art. 3 Abs. 1 Buchstabe a.
[18] Vgl. Jugend für Europa (2014): Erasmus+ JUGEND IN AKTION. 2014-2020. Changing Lives – Opening Minds. Bonn.
[19] Vgl. http://www.kein-kind-zuruecklassen.de/praxis/gute-praxis/detail/artikel/cafe-kinderwagen.html.
[20] Weitere Informationen zu den operationellen Programmen sowie die bereits veröffentlichten Entwürfe gibt es über die Homepages des Wirtschaftsministeriums (zu EFRE), des Sozialministeriums (zu ESF) und des Landwirtschaftsministeriums (zu ELER).
[21] Vgl. Europäische Kommission (2011): Mitteilung der Kommission. Frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung: der bestmögliche Start für alle unsere Kinder in die Welt von morgen. KOM(2011) 66 endgültig. Download unter: http://www.plattform-educare.org/2011/EU%20zur%20FBBE.pdf
[22] Dieser Qualitätsleitrahmen wurde bereits verabschiedet, aber noch nicht veröffentlicht.
[23] Während die deutsche Kinder- und Jugend(hilfe)politik ihren Ausdruck in der Kinder- und Jugendhilfe mit all ihren Angeboten und Leistungen findet, die gesetzlich im SGB VIII verankert sind, und auf nationaler Ebene von den drei zentralen Ebenen, Bund, Länder und Kommunen, verantwortet wird, sei nochmals daran erinnert, dass es im engeren Sinne kein vergleichbares Hilfe- Förderungs- und non-formales Bildungssystem im Sinne einer expliziten „europäischen Kinder- und Jugend(hilfe)politik“ auf der Ebene der Europäischen Union gibt.