Bewertung und Empfehlungen zur Umsetzung des Investitionsprogramms „Zu- kunft Bildung und Betreuung“ des AGJ-Fachausschusses: „Kindheit, Familie, Deutsches Nationalkomitee für frühkindliche Erziehung“ in Kooperation mit dem AGJ-Fachausschuss „Jugend, Bildung, Beruf“

Beschlossen vom AGJ-Fachausschuss „Kindheit, Familie, Deutsches Nationalkomitee für frühkindliche Erziehung“ am 6. –7. Mai 2003 in Freiburg und vom Fachausschuss „Jugend, Bildung, Beruf“ am 17. –18. Juni 2003 in Köln

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1. Bewertung des Investitionsprogramms “Zukunft Bildung und Betreuung”

Der AGJ-Fachausschuss begrüßt das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“, mit dem die Bundesregierung den zusätzlichen Ausbau und die qualitative Weiterentwicklung von Ganztagsschulen unterstützt. Die angestrebte Qualitätsverbesserung unseres Bildungssystems hat zugleich eine nachhaltige gesamtwirtschaftliche Dimension, weil sie ein entscheidender Beitrag für die Qualifizierung künftiger Generationen ist.

Die Stärkung der Bildung von Kindern und Jugendlichen sowie die Gestaltung eines umfassenderen Betreuungsangebotes sind wichtige politische Aufgaben der Zukunft, bei denen nicht vorrangig formale Zuständigkeitsfragen im Mittelpunkt stehen dürfen. Deshalb begrüßen wir das Angebot der Bundesregierung an alle Bundesländer, gemeinsam im Rahmen einer Verwaltungsvereinbarung neue Ganztagsschulplätze zu schaffen. Der finanzielle Anschub des Bundes von insgesamt vier Milliarden Euro soll die Bundesländer dabei unterstützen. Damit ist der erste Schritt in Richtung bessere Bildung und mehr Betreuung getan und damit ein neuer Weg zur Förderung und Unterstützung für Kinder, Jugendliche und Eltern eröffnet worden.

Das Programm der Bundesregierung zum Ausbau von Ganztagsschulen sollte kein einmaliges, zeitlich begrenztes Projekt, sondern die Initialzündung für die Etablierung einer neuen Lehr- und Lernkultur in einer sich als Lebensraum für alle Kinder und Jugendlichen verstehenden Schule sein. Es ist von allen Beteiligten - Ministerien, Parteien, Verbänden, Jugendhilfeeinrichtungen - einvernehmlich erklärt worden, dass die neue Ganztagsschule nicht „den ganzen Tag Schule“ bedeutet, sondern dass es um eine neue Form institutioneller Pädagogik, ein neues Bildungsangebot geht, in dem Unterricht und Freizeit, formelles und informelles Lernen miteinander verwoben sind. Die damit verbundene Reform des Schulwesens braucht einen langen Atem, weil die Bedingungen für das Gelingen sich nicht von heute auf morgen einstellen, sondern längerfristig erarbeitet werden müssen. Dabei sind die Schulen selbst ebenso wie die politischen und administrativen Unterstützungssysteme lernende Organisationen.

Ganztagsschulen mit pädagogischem Profil machen eine gezielte individuelle Förderung von Talenten erst möglich. Ganztagsschulen schaffen aber auch mehr Raum für die persönliche Begegnung zwischen Schülern und Lehrkräften und die Verbindung von fachlichem und sozialem Lernen.

Die systematische Hereinnahme von außerunterrichtlichen Betreuungs-, Bildungs- und Erziehungsaufgaben bzw. -angeboten in die Schule erfordert somit die Verknüpfung von Lebensräumen der Kinder und Jugendlichen, die bisher überwiegend als getrennte Welten betrachtet wurden: Schule vs. Privatleben, Lernen vs. Freizeit, Arbeit vs. Erholung. Bildungsinteressen der Kinder und Jugendlichen, die bisher außerhalb der Schule - entweder im Rahmen von Familie und Freizeit oder im Rahmen institutioneller Tagesbetreuung - angenommen wurden, sind in die Bildungsinstitution Schule zu integrieren. Demzufolge muss Schule ihren Bildungsbegriff und ihre Organisation weiterentwickeln. Wenn Schule das, was bisher z. B. im Bereich von Tageseinrichtungen abgedeckt war, übernehmen soll, muss eine Verknüpfung der bisher getrennten institutionellen Systeme von Schule und Jugendhilfe erfolgen. Was im Kinder- und Jugendhilfegesetz als dreifacher ungeteilter Auftrag von Tageseinrichtungen für Kinder festgeschrieben ist, Betreuung, Bildung und Erziehung, ist vom Schulsystem zu übernehmen und dort auch gesetzlich zu verankern.

Das Angebot, mehr Ganztagsschulen einzurichten, ist eine wichtige und sinnvolle Ergänzung zum bestehenden Schulangebot. In unseren Nachbarländern ist Ganztagsschule ein gängiges - und wie PISA gezeigt hat - auch oft erfolgreiches Modell.

Dabei wird es darum gehen, kreative pädagogische Konzepte zu entwickeln, die nicht einfach nur die Schulzeit verlängern, sondern verschiedenste gesellschaftliche Angebote für Kinder und Jugendliche einbeziehen, um auf diese Weise Schule zu einem Lernort zu machen, mit dem sich Kinder und Jugendliche identifizieren können. Ganztagsschule soll eine sinnvolle Ergänzung und Weiterentwicklung der bisherigen Betreuung, Bildung und Erziehung in Familie und Schule sein.

Der AGJ-Fachausschuss unterstützt die Schaffung eines bedarfsgerechten Ganztagsangebots in allen Regionen Deutschlands. Der Aus- und Aufbau von Ganztagsschulen ist ein wichtiger Schritt zur Verbesserung unseres Bildungssystems. Entscheidend für den Erfolg bleiben je- doch pädagogische Konzepte und eine entsprechende personelle Ausstattung seitens der zuständigen Länder.

Der AGJ-Fachausschuss geht davon aus, dass sich die Erweiterung des Schulangebots zu Ganztags-, Lern- und Lebensräumen an Aufgaben, die bisher der Jugendhilfe zugerechnet wurden, ausrichten muss. Er fordert die Übernahme von Grundsätzen, die das KJHG festlegt, in die Schulgesetze oder zumindest in die Richtlinien oder Rahmenvereinbarungen von Ganztagsschulen.


2. Perspektiven für Kinder, Jugendliche und ihre Familien

Ganztagsangebote an Schulen bzw. Ganztagsschulen sind ein wichtiger Beitrag für die Umsetzung einer familienfreundlichen Politik und für die Verbesserung des Bildungs- und Erziehungssystems. Sie unterstützen Eltern bei der Betreuung und Erziehung ihrer Kinder und entlasten Eltern bei der Vereinbarung von Beruf und Familie. Ganztagsangebote an Schulen bzw. Ganztagsschulen könn(t)en herkunftsbedingte Unterschiede in den Lebensbedingungen ausgleichen und damit Chancengleichheit ermöglichen.

Bedarfsgerechtes Angebot

Damit Angebote zur Betreuung, Bildung und Erziehung von Schulkindern bedarfsgerecht sind, müssen sie sich lt. KJHG an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen und ihrer Familien orientieren, zu lebenswerten und stabilen Verhältnissen beitragen und Benachteiligungen entgegen- wirken. Das bedeutet, dass überall vor Ort Situationsanalysen zur Lage der Schulkinder und ihrer Familien durchzuführen sind, um herauszufinden, was Kinder, Jugendliche und Eltern brauchen. Auf dieser Basis ist zu entwickeln, wie die Forderung nach Chancengerechtigkeit, nach Beteiligung der Kinder und Jugendlichen, nach geschlechtsbewusster Pädagogik, nach Wahlrecht und Mitspra- che der Eltern im Einzelnen angemessen zu verwirklichen ist.

Der AGJ-Fachauschuss empfiehlt, dass Ganztagsschulen in ihre Konzeption die Erfahrungen der Betreuung, Bildung und Erziehung von Kindern in Tageseinrichtungen und in Kultur- und Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche aufnehmen sollen. Er regt an, dass Schulkinder und Eltern in die Bedarfsermittlung einzubeziehen sind.

Auch sollte jedes Jahr von Neuem durch Umfragen bei Kindern, Jugendlichen, Eltern, Personal und anderen Personen und Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, geprüft werden, ob das Angebot bedarfsgerecht ist.


Belange von Kindern und Jugendlichen

Unabhängig davon, ob Betreuungsangebote für Schulkinder im Schul- oder im Jugendhilfebereich angesiedelt werden, müssen Orte geschaffen oder erhalten werden, die Kindern und Jugendlichen Raum für die Gestaltung ihres Lebens und die Verwirklichung ihrer Interessen bieten. Das muss bei Kindern und Jugendlichen im Schulalter keineswegs Institutionalisierung mit festgelegten Programmstrukturen und Anwesenheitszeiten bedeuten – umso weniger, je älter die Kinder sind. Es muss garantiert sein, dass Kinder und Jugendliche einen Ort haben, der für sie eine sichere Anlaufstelle ist, wo sie alles Nötige für ihre individuelle tägliche Versorgung (Betreuung) und außerdem Spielkameraden und Spielkameradinnen und Zugang zu interessanten Betätigungsfeldern vorfinden. Sie müssen Freunde treffen können, sich verabreden, Vorhaben planen, sich ausruhen und Erwachsene ansprechen können, wenn sie Unterstützung brauchen. Es sollte jederzeit jemanden geben, der oder die ihnen Aufmerksamkeit, Beachtung und ein offenes Ohr schenkt, sich dafür interessiert, wie es ihnen geht und wie sie zurecht kommen, ihnen bei der Erkundung neuer Erfahrungsräume und - möglichkeiten beisteht oder neue Erlebnis- und Bildungsbereiche eröffnet. Es braucht nicht unbedingt eine ‚Rund-um-die-Uhr-Betreuung’, aber die ‚Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit’ von An- sprechpartnern und Ansprechpartnerinnen und Zugang zu Orten, wo sie ihren Interessen nachgehen oder neue Interessenfelder erschließen können.

Die traditionelle Konzeption institutioneller Angebote muss verknüpft werden mit offenen Angeboten, so dass flexible Übergänge von fester Betreuung mit Anmeldung und Anwesenheitspflicht zu frei gewähltem Aufenthalt geschaffen werden und sowohl Kinder und Jugendliche als auch Eltern sich aussuchen können, was ihnen am besten passt.

Wo solche Einrichtungen und Angebote angesiedelt sind, ob im Schul- oder Jugendhilfebereich, spielt für Kinder und Jugendliche keine Rolle, solange die Orte Eigeninitiative, Bewegungsraum, Engagiertheit und eigene Verantwortung der Kinder und Jugendlichen zulassen und unterstützen, wenn sie Platz für ungestörte Beschäftigung, Räume mit Werkstatt- und Ateliercharakter, Produkti- onsstätten für kreative Ideen und die Herstellung eigener Werke, Orte der Muße und Erholung, Raum für eigene Gestaltung und die Entwicklung einer eigenen Kultur des Zusammenlebens herge- ben. Die Organisationsform muss Kindern und Jugendlichen einen verlässlichen Rahmen für Orien- tierung, Geborgenheit und Sicherheit, Wohlbefinden und Lebensfreude bieten.

Der AGJ-Fachausschuss fordert, dass eine Vernetzung und Kooperation mit anderen institutionellen Angeboten für Kinder und Jugendliche (u.a. auch mit Tageseinrichtungen für jüngere Kinder) und mit außerinstitutionellen Lerngelegenheiten und –orten anzustreben ist.
Er ist der Auffassung, dass die Angebotsstruktur nicht dazu da ist, Kinder und Jugendliche zu organisieren, sondern Gelegenheiten für vielfältige Erfahrungen, Lern- und Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen.

Der AGJ-Fachausschuss empfiehlt, dass Ganztagsschulen Orte für Kinder und Jugendliche werden müssen, die den bisherigen Rahmen von Schule (als Unterrichtsinstitution) sprengen und von den Kindern und Jugendlichen der Umgebung als Anlaufstelle für ihre Belange und Ausgangsort für Streifzüge angesehen und genutzt werden. Das bedeutet u.a. die Öffnung der Schule zum Gemeinwesen.


Beteiligung von Kindern und Jugendlichen

"Mit Kindern und Jugendlichen Schule machen" – statt für Kinder und Jugendliche – wäre die Devise, die dem Gebot, Kinder und Jugendliche gestaltend zu beteiligen und ihre Entwicklung zu ei- genständigen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu fördern, Rechnung trägt (vgl. das Projekt "Mit Kindern Hort machen" in Sachsen). Hier sind ganz neue Konzepte gefragt, bei denen Kinder und Jugendliche Gelegenheit bekommen, ihre Bildungsinteressen zu verwirklichen, aus einem Angebot wählen zu können, selbst Bildungsgelegenheiten zu entwerfen und zu gestalten und sich bei Bedarf Unterstützung von Pädagogen und Pädagoginnen oder anderen Erwachsenen zu holen. Das beinhaltet weit mehr als die Auswahl und Gestaltung von Freizeitangeboten und Neigungskursen. Es bedeutet, Schule muss dazu beitragen, den Kindern und Jugendlichen eine Grundlage für eigenständige Lebensführung zu bieten.

Der AGJ-Fachausschuss empfiehlt, dass Schule Raum für die Entwicklung und Verwirklichung von eigenen Interessen der Kinder und Jugendlichen lassen muss. Die Ganztagsschule muss Selbstorganisation der jungen Menschen und freie Entscheidung zur Wahrnehmung von Bildungsanlässen durch die Kinder und Jugendlichen vorsehen. Je älter die Kinder und Jugendlichen werden, desto mehr sind sie an der Bestimmung ihres Aufenthaltsorts zu beteiligen.


Belange von Eltern

Eltern brauchen in erster Linie verlässliche Betreuungsbedingungen. Sie wollen ihre Kinder gut und sicher untergebracht und gefördert wissen, um ihnen die besten Entwicklungsbedingungen zu bieten und selbst erwerbstätig sein zu können. Im Schulkindalter reibt sich das Interesse der Eltern, ihre Kinder in “Obhut” zu wissen, zum Teil mehr und mehr mit dem Interesse der Kinder, ihre eigenen Wege zu gehen. Hier sind neue Formen von "Betreuungsverträgen" zu finden, die es ermöglichen, beides miteinander zu vereinbaren und die nicht an Anwesenheitspflicht, sondern an gesicherte Nutzungsrechte und Informationsaustausch über den Aufenthaltsort des Kindes geknüpft sind (wie z. B. bei den Freizeitheimen in Dänemark).

Eltern sind, anders als bisher, im Rahmen von Schule üblich in die Konzeption und Gestaltung des Ganztagsschulangebots einzubeziehen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner jüngsten Entscheidung zur Einführung der Grundschule mit festen Öffnungszeiten auf die gemeinsame Erziehungsverantwortung von Eltern und Schule hingewiesen. Es betont, dass der staatliche Erziehungsauftrag dem elterlichen Erziehungsrecht gleichgeordnet sei, wenn im Bereich der Schule Erziehungsrecht und Erziehungsverantwortung der Eltern auf den staatlichen Erziehungsauftrag treffen: “Soweit die Kinder Schulen besuchen, ist ihre Erziehung gemeinsame Aufgabe von Eltern und Schule. Sie ist in einem sinnvoll aufeinander bezogenen Zusammenwirken zu erfüllen (BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 16.4.2002- 1 BvR 279/02)”.

Legt man die Erfahrungen des Projekts "Orte für Kinder" zu Grunde, dann haben Eltern nicht nur ein Interesse, Einblick in die pädagogische Arbeit zu erhalten und bei Entscheidungen zur Angebotsstruktur und an Aktionen beteiligt zu werden, sondern auch ein Bedürfnis nach Kontakt mit an- deren Eltern, das nicht unbedingt auf den Austausch über Erziehungsfragen abzielt. Wie ist dies im Rahmen von Schule zu verwirklichen, um Lern- und Lebensorte für Kinder und Jugendliche als Nachbarschaftszentrum und Begegnungsstätte zu entwerfen, wo auch Platz ist für den Aufbau einer Lobby für Kinder, Jugendliche und Eltern?

Der AGJ-Fachausschuss empfiehlt, wie bei Tageseinrichtungen für Kinder, die Zusammenarbeit des Personals mit den Eltern bzw. Erziehungsberechtigten zu etablieren.

Er plädiert dafür, auch in den Schulferien ein außerunterrichtliches Angebot zur Betreuung, Bildung und Erziehung aufrecht zu erhalten.
Er unterstützt, dass Ganztagsschulen als Bildungs-, Begegnungs- und Freizeitorte zu konzipieren sind, die sich als Nachbarschaftszentrum eignen und auch Eltern Raum und Angebote für ihre persönlichen Interessen und für Dienstleistungen bieten.

Der AGJ-Fachausschuss fordert die Entwicklung von gemeinsamen Fortbildungs-angeboten für Eltern und Pädagogen und Pädagoginnen.


3. Chancen und Herausforderungen von Schule und Kinder- und Jugendhillfe

Inzwischen ist die Notwendigkeit des Ausbaus von Ganztagsangeboten und Ganztagsschulen unbestritten und wird aus bildungs-, volkswirtschafts- und sozialpolitischen Gründen als eine dringende Aufgabe verstanden. Streitpunkte sind jedoch zumeist Fragen der Finanzierung, der pädagogischen Ausgestaltung des Angebots, der Zuständigkeiten und der Kooperation von Jugendhilfe und Schule.

Herausforderungen für die Länder und Schulträger

In der jetzigen Phase der erforderlichen Neuorientierung bei der Gestaltung der Angebotsstrukturen haben die Länder die einmalige Chance, Schule zu einem kindgerechteren Ort der Betreuung, Bildung und Erziehung umzugestalten, der die Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen in den Blick nimmt und eingebunden ist in die sozialräumlichen Bedingungen. Dies gelingt, wenn die Entscheidungsträger ihre gemeinsame Verantwortung wahrnehmen, der Zergliederung des deutschen Bildungssystems entgegenwirken und ihr bisheriges Ressortdenken zugunsten einer ganzheitlichen Sicht verändern.

Die Länder müssen zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität der Ganztagsschule bzw. Ganztagsangebote entsprechende Rahmenvereinbarungen abschließen, die folgende Elemente umfassen:

  • Kindertageseinrichtungen und Grundschule sind verpflichtet, den institutionellen Übergang gemeinsam zu gestalten.
  • Schulentwicklungsplanung und Jugendhilfeplanung müssen aneinander angepasst werden.
  • Der Schulträger ist organisatorisch zuständig für die Entwicklung eines Konzeptes zur Ganztagsschule (bzw. alternativer Formen), die konzeptionelle Verantwortung für die außerunterrichtlichen Phasen liegt sowohl bei der Schule als auch bei der Jugendhilfe.
  • Das Angebot ist orientiert an den Lebenslagen der Kinder und Jugendlichen (und Eltern) im Stadtteil.
  •  Das Angebot wird von professionellen Fachkräften durchgeführt.
  • Der Schulträger (oder gegebenenfalls das Jugendamt) verpflichtet sich zu einem transparenten Verfahren bei der Auswahl außerunterrichtlicher Angebote. Die Auswahlkriterien orientieren sich an vorgegebenen Qualitätsstandards.
  • Die Zusammenarbeit mit dem Regelangebot der Jugendhilfe für Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf wird sichergestellt.
  • Die Schule wird eingebunden in die regionale Jugendhilfeplanung bzw. in Stadtteilkonferenzen.
  • Die Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen werden gewährleistet, d. h. Bedarfe und Interessen von Kindern und Jugendlichen werden systematisch, z. B. durch (schriftliche) Befra- gungen erhoben.
  • Das Angebot wird vom Schulträger jährlich evaluiert, Stärken und Schwächen beschrieben und in der Weiterentwicklung berücksichtigt.
  • Schulträger und Jugendhilfeträger organisieren gemeinsame Qualifizierungsangebote für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.
  • Die Länder verpflichten sich, die neuen Angebotsstrukturen nach zwei Jahren zu evaluieren, Stärken und Schwächen zu benennen und Verbesserungspotenziale zu nutzen.


Der AGJ-Fachausschuss empfiehlt, auf Landesebene Rahmenvereinbarungen zur Kooperation zwischen Schule und Trägern der Jugendhilfe sowie anderen für die Zusammenarbeit mit der Schule relevanten Verbänden über die Einhaltung qualitativer Standards abzuschließen. In den Rahmenvereinbarungen sind ferner verbindliche Verfahren und Strukturen zur Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendhilfe zu regeln.

Der AGJ-Fachausschuss empfiehlt, dass die Kommunen die Koordinierungsfunktion zur Planung und Steuerung von Ganztagsangeboten zwischen Jugendämtern, den Trägern der freien Jugendhilfe, den Schulämtern und den Schulträgern sowie zwischen Schulentwicklungs- und Jugendhilfeplanung verbindlich und für die Beteiligten transparent organisieren.

Zur Bedeutung eines umfassenden Bildungsverständnisses der Kinder- und Jugendhilfe

Die breite Palette von Angebotsformen der Kinder- und Jugendhilfe für Schulkinder reicht von Tageseinrichtungen für Kinder (wie Horte, altersgemischte Gruppen, Schulkinderhäuser etc.) über so- ziale und soziokulturelle Bildungsarbeit, Jugendverbandsarbeit, offene Kinder- und Jugendarbeit bis hin zu gezielten individuellen Förderangeboten. Die vielfältigen Erziehungs- und Bildungsangebote der Kinder- und Jugendhilfe im Bereich der nicht-formellen Bildung haben sich zu bedeutenden Orten des Kinderlebens und Erlebens entwickelt. Bildung ist mehr als schulisches Lernen. Sie erfor- dert eine besondere Qualität des Lernens, die es ermöglicht, dass dieses Wissen und Können zum Werkzeug für die weitere Lebenserfahrung wird. Auf der Grundlage eines ganzheitlichen Bildungs- verständnisses der Jugendhilfe, das kognitive, soziale, kreative, emotionale und motorische Elemente umfasst, werden Zugangsmöglichkeiten insbesondere für benachteiligte Kinder und Migranten- kinder geschaffen und Chancengleichheit gefördert. Die Kinder- und Jugendhilfe schafft lebensweltorientierte und partizipative Bedingungen für Bildungsprozesse und hält sozialintegrative Bildungsangebote vor. Diese stärken Kinder und Jugendliche, indem sie an ihren Interessen und Kompetenzen anknüpfen und ihnen nicht im selektiven Sinn ihr “Noch-Nicht-Können” oder ihr unter Umständen vermeintliches Unvermögen spiegeln. Insofern kommt der Kinder- und Jugendhilfe eine eigene Bildungskompetenz und -verantwortung zu.

Der AGJ-Fachausschuss fordert, die Erfahrungen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, sowohl der kommunalen Träger, der freien als auch der öffentlichen Jugendhilfe, in die pädagogische Konzeptentwicklung und Gestaltung der Ganztagsschule einzubeziehen. Hier- bei sind vorliegende wissenschaftliche Erkenntnisse und konzeptionelle Ansätze aus Forschungs- und Modellprojekten zu berücksichtigen.

Zur Rolle der Kinder- und Jugendhilfe - Chancen und Risiken

Eine bloße Verlagerung der formalen Zuständigkeit für die Kinder- und Jugendhilfe oder von ihren Teilbereichen in die Kultusministerien der Länder ist keine Antwort auf die durch PISA bescheinigte Bildungsmisere in Deutschland. Im Rahmen der Ganztagsschuldebatte werden in einigen Län- dern aus Kostengründen bestehende Jugendhilfestrukturen im Schulkinderbereich abgebaut. So sind vielerorts bzw. landesweit anerkannte und vorhandene qualitativ hochwertige Einrichtungen wie Horte gefährdet, indem sie aufgelöst oder ihre Rahmenbedingungen verschlechtert werden. Ta- geseinrichtungen für Schulkinder sind aber für Kinder, Jugendliche und Eltern unverzichtbar, weil sie verlässliche Angebote mit ausreichenden Öffnungszeiten brauchen und nicht auf unzureichende Billigangebote oder Notlösungen verwiesen werden wollen. Eine weitere Reduzierung der Öffnungszeiten wäre auch volkswirtschaftlich fatal (vgl. DIW-Studie 2003) und hätte zur Folge, dass in erster Linie Frauen ihre Erwerbstätigkeit reduzieren müssten oder ihren Wiedereinstieg nicht bewältigen könnten.

Der AGJ-Fachausschuss warnt davor, dass lediglich die bestehenden Jugendhilfeangebote in Schulangebote überführt werden, da dies nicht zu der dringend benötigten Erweiterung des Angebots führt. Nach derzeitigem Planungsstand einzelner Länder ist darüber hinaus zu be- fürchten, dass neue kostengünstigere Teilzeit-Angebote implementiert werden sollen und dies überwiegend zu Lasten der bisher erreichten Qualität.

Die Kinder- und Jugendhilfe verfügt mit ihren Angeboten über Erfahrungen und Bedingungen des Lernens und der Bildung, die Eingang in Bildungskonzeptionen für Ganztagsschulen oder Ganztagsangebote für Schulkinder finden müssen. Auch quantitativ spielen die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe bundesweit eine bedeutsame Rolle, wenngleich der Bedarf im Westen bei weitem noch nicht befriedigt ist. Tageseinrichtungen für Schulkinder nehmen einen eigenständigen Bereich im Bildungssystem ein und erfüllen mit dem gesetzlich verankerten Betreuungs-, Bildungs- und Erziehungsauftrag zentrale gesellschaftliche Aufgaben. Auch deswegen muss die Jugendhilfe beim Aufbau von Ganztagsschulangeboten als wichtiger Kooperationspartner gleichberechtigt einbezogen werden.

Der AGJ-Fachausschuss fordert, die Angebotsvielfalt und Potenziale von Trägern der Kin- der- und Jugendhilfe im Interesse einer bedarfs- und bedürfnisgerechten Ausgestaltung von Ganztagsschulangeboten zu nutzen. Er wendet sich gegen fachlich und organisatorisch unzu- reichende Billigbetreuungsangebote, die als “Ganztagsschule” vermarktet werden.


Entwicklung eines gemeinsamen Gesamtkonzeptes

Unabhängig von der Trägerschaft müssen Ganztagsschulangebote den Selbstorganisationskräften und Beteiligungswünschen, den vielfältigen Interessen, Neigungen und der Neugierde, den alltags- praktischen Bildungsbedürfnissen und den sozialen Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen Raum geben.

Da lebenslanges Lernen und Sichbilden lebensnah, alltagsorientiert, situations- und erfahrungsbezogen erfolgen, müssen die verschiedenen Lernformen und Lernorte Jugendhilfe und Schule aufeinander bezogen und den unterschiedlichen Bildungsbedürfnissen altersgerecht angepasst werden. Notwendig sind daher qualitativ anspruchsvolle Bildungskonzepte, die bestehende sozialraumorientierte und sozialintegrative Angebote für Schulkinder integrieren. Ein qualifiziertes Ganztagsangebot, das Lern-, Förder- und Freizeitangebote als Gesamtkonzept integriert, eröffnet die Möglichkeit, Bildungschancen insbesondere von Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien oder von Kindern und Jugendlichen mit einem besonderen Förderbedarf zu verbessern.

Die ganzheitliche Sichtweise der Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen muss, insbesondere beim Übergang von der Kindertageseinrichtung zur Schule, eine stärkere Berücksichtigung finden. Zur Gestaltung dieses Übergangs müssen die Konzepte der Grundschule anknüpfen an die der vor- schulischen Erziehungs- und Bildungsangebote der Kinder- und Jugendhilfe. Lehrer und Lehrerinnen müssen über den Bildungs- und Entwicklungsstand der Kinder systematischer informiert werden. Dies erfordert Kooperationen, die nicht in der Beliebigkeit der Mitarbeiter und Mitarbeiterin- nen liegen dürfen, sondern für beide Systeme verpflichtend in Form der o. g. Rahmenvereinbarung geregelt werden müssen.

Der AGJ-Fachausschuss wendet sich gegen eine vollständige Verschulung des Tagesablaufs. Genauso wenig dürfen sich Angebote in einer betreuten Beaufsichtigung erschöpfen.

Orte der verbindlichen und gleichberechtigten Kooperation und Kommunikation

Die Entwicklung eines ausreichenden Ganztagsbetreuungssystems muss in enger Kooperation von Schule und Trägern der Kinder- und Jugendhilfe erarbeitet werden. Die im KJHG enthaltene Verpflichtung, mit anderen gesellschaftlichen Bereichen zu kooperieren, sollte auch für den schulischen Bereich rechtlich verbindlich ausgestaltet werden. Bislang haben erst einige Länder entsprechend notwendige Verpflichtungen in ihren Landesschulgesetzen festgeschrieben. Bildungskonzeptionen sind auf die örtlichen Bedingungen hin zu entwickeln und abzustimmen. Die Eltern sind bei der Planung, Umsetzung und Weiterentwicklung zu beteiligen. Für beide Bereiche sind die notwendigen Personalressourcen bereitzustellen.

Beide Systeme werden vor neue Herausforderungen gestellt, um Kindern und Jugendlichen bessere Bedingungen für eine individuelle Förderung auf der Basis eines gemeinsamen pädagogischen Konzeptes zu bieten und Chancengleichheit herzustellen. Es geht darum, sowohl soziale Benachteiligungen durch ein vielfältiges Angebot von geeigneten Maßnahmen zu vermeiden bzw. auszugleichen, als auch individuelle Begabungen zu fördern. Ganztagsschulen müssen Orte des Lernens und gemeinsamen Erlebens in Beziehung mit Gleichaltrigen und Erwachsenen werden.

Der AGJ-Fachausschuss ist der Auffassung, dass auf Bundes-, Landes- wie auf kommunaler Ebene verbindlichere Strukturen der gleichberechtigten Kooperation geschaffen und institutionalisiert werden müssen. Als Orte der Kommunikation und Kooperation bieten sich Arbeitsgemeinschaften nach dem Kinder- und Jugendhilferecht (vgl. § 78 SGB VIII) an.

Gemeinsame Qualifizierung von Fachkräften

Hierzu werden mehr Lehrkräfte, die ihrem Selbstverständnis nach nicht nur für den klassischen Unterricht zuständig sind, sondern auch außerunterrichtliche Bildungsarbeit wahrnehmen und zusätzlich mehr pädagogische Fachkräfte benötigt.

Mit den Fachkräften unterschiedlicher Professionen ist zu klären, wie schul-, sozial- und freizeitpädagogische Konzepte integriert werden können und wie sich dies anteilig auf die einzusetzenden Fachkräfte auswirkt.


Der AGJ-Fachausschuss fordert, pädagogische Fachkräfte, Lehrkräfte und Schulleitung für die erweiterten Aufgaben zu qualifizieren, um eine entsprechende Qualität zu gewährleisten.