„Jugendhilfeplanung aktivieren!“

Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Diskussionspapier als PDF

1. Jugendhilfeplanung als Voraussetzung für eine Stärkung von Infrastruktur

Die Stärkung infrastruktureller Angebote ist eine Forderung nicht nur der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ,[1] sondern auch der Jugend- und Familienministerkonferenz.[2] Eine entsprechende Erweiterung und Veränderung der kommunalen Angebotspalette im Sinne der anhaltenden Debatten unter der Überschrift „Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung“ wird nur dann gelingen, wenn vor Ort neben der Einzelfallsteuerung auch die Jugendhilfeplanung als fallübergreifendes, konzeptionelles Steuerungsinstrument entsprechend etabliert ist. Erst über eine partizipative Jugendhilfeplanung, die Kinder, Jugendliche und ihre Familien einbezieht, kann eine flexible, bedarfsgerechte Infrastruktur für junge Menschen und ihre Familien gesichert und das Jugendamt zum strategischen Zentrum werden.

In diesem Sinne soll das AGJ-Diskussionspapier die zentrale Bedeutung der Jugendhilfeplanung befördern, mit der die Einzelfallhilfen sowie die Infrastruktur der Kinder- und Jugendhilfe zielgruppenbezogen und bedarfsgerecht weiterentwickelt und qualifiziert werden können. Die gesetzlichen Vorschriften in den §§ 79, 80 SGB VIII sind eine gute Grundlage, sodass sich der Blick auf die Praxis richtet. Die bloße Forderung, der Jugendhilfeplanung vor Ort mehr Aufmerksamkeit und Ressourcen zu schenken, dürfte allerdings zu kurz greifen. Im Folgenden werden daher mögliche Umsetzungshindernisse benannt, die in der Praxis eine Qualifizierung der Jugendhilfeplanung und damit die Entwicklung und Planung von Angeboten erschweren, die an Lebenswelten von jungen Menschen mit ihren Familien und ihren (spezifischen) Bedürfnissen anknüpfen. Hieraus werden konkrete Entwicklungsperspektiven bzw. entsprechende Weiterent-wicklungserfordernisse für eine gelingende Jugendhilfeplanung formuliert.

2. Umsetzungshindernisse und Bedingungen für eine gelingende Jugendhilfeplanung

2.1 Jugendhilfeplanung und Finanzdruck

Eine Expertise des Deutschen Jugendinstituts stellt fest, dass auf Grund gesetzlicher Vorgaben und Finanzierungsmechanismen aktuell im Bereich der Tagesbetreuung Jugendhilfeplanung etabliert ist. Ansonsten werden die Potenziale der Jugendhilfeplanung in der Praxis nur teilweise genutzt – im Gegensatz zur wachsenden programmatischen Bedeutung der Jugendhilfe-planung als strategisches Steuerungsinstrument und zum steigenden Stellenwert im Fachdiskurs.[3]
Angesichts knapper Haushaltsmittel scheint die Fachplanung in der kommunalen Steuerungspraxis zum Teil sogar an Bedeutung zu verlieren. Paradoxerweise reduziert der unmittelbare Problemlösungsdruck offensichtlich den Raum für Jugendhilfeplanungsprozesse, statt diese bei der Suche nach einem Umgang mit den knappen Ressourcen zu befördern. Das legen empirische Studien zur Steuerungskultur der Kommunen nahe.[4] Teilweise scheint die politische Verantwortungsebene für die Umsetzung ihrer Gestaltungsansprüche weniger auf die Jugendhilfeplanung nach SGB VIII zu setzen, sondern eher auf rein betriebswirtschaftlich orientierte Kontrollinstrumente. Das rechtlich vorgeschriebene Planungsverfahren in der Kinder- und Jugendhilfe wird zusätzlich geschwächt, wenn die Kommunalaufsicht der Länder rechtmäßig zustande gekommene Planungsentscheidungen bei den Kommunen nicht akzeptiert, die einer besonderen finanzaufsichtlichen Kontrolle unterliegen, weil ihre Haushalte nicht ausgeglichen sind oder weil sie sich Entschuldungskonzepten des Landes angeschlossen haben.
Der Finanzdruck wirkt sich vor allem dann auf die Jugendhilfeplanung negativ aus, wenn sie in der Kommunalpolitik, wie häufiger zu beobachten, die Zuschreibung findet, sie sei nur auf Zuwächse ausgerichtet und passe daher nicht in eine Zeit restriktiver Haushaltsbewirtschaftung. In der vorgeschriebenen Beteiligung der Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe während der Planung wird dann ebenfalls eher ein Verstärker für die gefürchtete Forderung nach „Mehr“ gesehen als ein fachgerechtes Instrument zur Umgestaltung und qualitativen Veränderung von Infrastruktur und Angebotspalette.

Jugendhilfeplanung muss also nicht nur innerhalb der Verwaltung des Jugendamtes fest verankert sein, sondern vor allem auch politisch gewollt sein und vom Jugendhilfeausschuss eingefordert werden. Um die fachliche Akzeptanz von Jugendhilfeplanung auf der politischen Verantwortungsebene zu erreichen, dürften ein Thematisieren dieses Missverständnisses und eine Darlegung hilfreich sein, inwieweit Jugendhilfeplanung auch und gerade bei knappen Kassen für die Rückgewinnung kommunaler Gestaltungsoptionen Potenziale bietet[5]. Denn indem bei der Jugendhilfeplanung die Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in den Blick genommen wird, geht es auch um Umgestaltung, um kritische Bewertung des Bestehenden und um mögliche Veränderungen. Um dies für Kommunalpolitik transparent und erfahrbar(er) zu machen, bedarf es einer entsprechenden Aufarbeitung der Daten, um die fachliche und kommunalpolitische Interpretation zu ermöglichen.

An die Länder ist zu appellieren, die Widersprüche zwischen fachlicher Anforderung an die Kommunen und finanzaufsichtlicher Intervention zu beseitigen. Die allgemeinen kommunalrechtlichen Vorgaben müssen den spezialgesetzlichen Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe angemessen Rechnung tragen. Das rechtmäßige Planungsverfahren muss auch von der Aufsicht gegenüber Kommunen unter Haushaltssicherung respektiert werden, sonst kann es sich nicht flächendeckend und umfassend etablieren.

2.2 Besonderheiten bei der Planung in Landkreisen

Die regional unterschiedlichen Gegebenheiten der Landkreise finden in den gesetzlichen Planungsvorgaben keine Berücksichtigung. Kreisangehörige Städte und Gemeinden haben gerade bei infra-strukturell-sozialräumlichen Angeboten eigenständige Gestaltungsinteressen und -kompetenzen. Diversifizierte sozialstrukturelle Ausgangslagen im Flächenkreis erfordern eine entsprechend differenzierende kommunale Steuerung auf Kreisebene. Gerade im ländlichen Raum stellt daher eine besondere Herausforderung dar, eine räumlich differenzierte Angebotsstruktur zu planen und umzusetzen. Angebote örtlich auszudifferenzieren und den individuellen Vorstellungen sowie Bedürfnissen kreisangehöriger Gemeinden/Städte gerecht zu werden ist ebenso komplex, wie es für die Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe anspruchsvoll ist, in Anbetracht begrenzter Nachfrage für die verschiedenen Sozialräume im Kreis je eigene Angebote vorzuhalten. Die Anforderungen an Beteiligung im Jugendhilfeausschuss und in der Jugendhilfeplanung insgesamt sind erhöht.

Um den spezifischen Anforderungen der Jugendhilfeplanung im ländlichen Raum besser zu entsprechen, muss die Fachpraxis über örtliche Planungs-gespräche hinaus neue Strukturen und Verfahren entwickeln bzw. erproben. Die Jugendhilfeplanung ist zwar für alle Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe vorgeschrieben, aber vor Ort dürfen und sollen in jedem Jugendamtsbezirk eigene kommunalpolitische Akzente gesetzt und aktuelle praktische Problemstellungen besonders berücksichtigt werden.

Landesrecht kann die Klärung von Verhältnis und Verfahren zwischen Landkreisen sowie kreisangehörigen Gemeinden und Städten bei der Planung sowie Schaffung infrastruktureller Angebote unterstützen. Landesjugendämter sowie Länder können den Erfahrungsaustausch zum Aufbau entsprechender Strukturen ermöglichen und so die Verständigungsprozesse vor Ort befördern.

2.3 Daten als Grundlage von Planung

Angesichts dynamischer gesellschaftlicher, insbesondere demographischer Veränderungen und knapper Haushaltsmittel sind die Kommunen in der Kinder- und Jugendhilfe mehr denn je auf verlässliche Steuerungs-informationen sowie auf die Unterstützung durch die Jugendhilfeplanung angewiesen. Die für die Jugendhilfeplanung erforderlichen Datengrundlagen können jedoch auch 25 Jahre nach Inkrafttreten des SGB VIII noch nicht überall als gegeben vorausgesetzt werden. Für die systematische Dokumentation der eigenen Tätigkeit und der eigenen Erfahrungen fehlt es häufig an einer adäquaten EDV-technischen Unterstützung. Die entsprechenden Daten der Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe liegen oft ebenfalls nicht in einer automatisch zu verarbeitenden Form vor. Statistische Daten Dritter sind häufig nicht auf die Planungserfordernisse der Kinder- und Jugendhilfe abgestimmt und außerdem oft nur kostenpflichtig zu beziehen, vor allem wenn es um eine kleinräumige Darstellung geht. Auch kleinräumige Problemanzeigen aus der Praxis, die einer Planung häufig vorausgehen, mit daran anschließenden gezielten Datenerhebungen treffen unter Umständen auf Vorbehalte, weil sie als Indiz mangelnder politischer Problemlösungsfähigkeit gesehen werden könnten oder weil man negative Folgen für den Ruf einer Gemeinde oder eines Stadtteils fürchtet.

Eine zentrale Entwicklung von EDV-Programmen, auf welche die Kommunen zurückgreifen und sie an die örtlichen Gegebenheiten und Planungsschwer-punkte anpassen können, spart nicht nur Ressourcen, sondern sichert Qualität. Die Organisation eines regionalen Austauschs ermöglicht fortwährende Lern- und Qualitätsentwicklungsprozesse. Doch auch überörtliche Berichtswesen-Projekte können ihre Produktivkraft nur dann voll entfalten, wenn auf der örtlichen Ebene der Transfer geleistet und die Erkenntnisse in den fachlichen Diskurs auf örtlicher Ebene eingespeist, dort ortsbezogen ausgewertet werden können.

2.4 Jugendhilfeplanung erfordert politischen Willen und Ressourcen, überregionale Unterstützung hilft    

Für die Erhebung und Verarbeitung lebensweltbezogener Schlüsselinformationen aus Stadtteil- oder Regionalkonferenzen fehlen häufig personelle Ressourcen. Unzureichende Personalausstattung ist generell ein kritischer Faktor für die Jugendhilfeplanung, etwa wenn es darum geht, Daten auszuwerten, Hypothesen zu entwickeln und Diskurse über Alternativen zu moderieren, d.h. Planung für die politische Steuerung nutzbar zu machen. Selbst dort, wo es für Teilbereiche der Kinder- und Jugendhilfe ein landesweites Berichtswesen gibt, fehlen z.T. die Ressourcen, um den notwendigen Transfer der Erkenntnisse auf die örtliche Praxis zu leisten. Planungsfachkräfte berichten davon, dass sie neben ihren originären Planungsaufgaben nicht selten zur Erledigung anderer Arbeiten eingesetzt werden, die ansonsten in der Jugendamtsorganisation nicht gut zuzuordnen sind.[6]
Von besonderer Bedeutung und zeitintensiv ist auch die Betroffenenbeteiligung, gerade im Hinblick auf die Evaluation von Angeboten und auf mögliche Umsteuerungsprozesse. Sie braucht deshalb zur Fundierung von Planungsprozessen ebenso (noch mehr) Aufmerksamkeit, wie der Einbezug der Erfahrung von weiteren Expertinnen und Experten aus dem Sozialraum. Die Praxis vor Ort ist auf Informationen und Fortbildung angewiesen, wie solche Prozesse initiiert, moderiert und durchgeführt werden können. Qualifizierungsbedarf besteht in der Planungspraxis regelmäßig auch dahingehend, wie die erforderlichen sozialraumbezogenen Erkenntnisse ressourcenorientiert, nicht stigmatisierend aufbereitet und genutzt werden können.

Der Feststellung, dass eine Jugendhilfeplanung, die auch Präventionsansätze ausbauen soll, nicht innerhalb der (eigenen) Ressort- und Bereichsgrenzen verhaftet bleiben kann, dürfte kaum zu widersprechen sein. Ein bereichs- und aufgabenübergreifendes Planungsverständnis erfordert jedoch zunächst die Überwindung von Systemgrenzen und die kooperative Entwicklung eines gemeinsam geteilten Planungsverständnisses. Vor allem mit Blick auf aufeinander abgestimmte Hilfen oder sozialräumliche Angebotsstrukturen gilt dies insbesondere für die Schnittstelle zur Schulentwicklungs- und Sozialplanung, aber auch zum Gesundheitswesen sowie zur Verkehrs- und Stadtteilentwicklungsplanung.

Bei der Zusammenführung und Zuweisung der notwendigen Ressourcen für die Jugendhilfeplanung, ohne die nicht verantwortlich gesteuert werden kann, benötigen öffentliche und freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe zusätzliche Unterstützung.  Ein landesweites, bedarfsgerechtes Fortbildungsangebot sichert die Qualifizierung. Wenn die datenführenden oder auswertenden Stellen auf Landes- bzw. Bundesebene den Jugendämtern einen Satz von sozialstatistischen Grundlagendaten in der geforderten kleinräumigen Aggregation kostenlos zur Verfügung stellen (können), ist den Kommunen schon viel gedient. Im Bereich der Tagesbetreuung hat der Bund im Zuge des Ausbaus über Projekte wichtige  Impulse und Unterstützung geleistet, die auch für andere Bereiche modelhaft genutzt werden könnte.
Es müssen personelle Ressourcen für die verschiedenen Schritte der Jugendhilfeplanung eingeplant werden. Diese dürfen nicht nur Datenerhebung und -auswertung und die sich daraus ableitende Konzeptentwicklung im Blick haben, sondern müssen aktiv Beteiligungsprozesse gegenüber der Bevölkerung, den politischen Akteuren, den Trägern der freien Kinder- und Jugendhilfe, aber auch der kommunalen Verwaltung sowie Expertinnen und Experten aus dem Sozialraum anstoßen. Sie müssen Raum haben, eingeleitete Veränderungen zu begleiten, um Rückschlüsse auf Anpassungs-bedarf ziehen zu können. In diesem Kontext ist auf die Möglichkeit finanzieller Zuwendungen des Landes, die Kommunen zweckgebunden für Jugendhilfe-planung zur Verfügung gestellt werden, als Instrument zur Überwindung der Hindernisse vor Ort zu verweisen.

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 26./27. Februar 2015

    

 

[1] AGJ-Positionspapier „Die Förderung von Infrastrukturleistungen in der Kinder- und Jugendhilfe stärken“, 29./30. November 2013.
[2] Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK), Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung, Beschluss vom 22./23. Mai 2014.
[3] Pluto, L; van Santen, E; Seckinger, M. (2014). Lebenslagen Jugendlicher als Ausgangspunkt kommunaler Politikgestaltung, München 2014.
[4] Holtkamp, L. (2010). Kommunale Haushaltspolitik bei leeren Kassen. Bestandsaufnahme, Konsolidierungsstrategien, Handlungsoptionen, Schriftenreihe Modernisierung des öffentlichen Sektors Bd. 33; Bogumil, J., Ebinger, F., Holtkamp, L. (2011). Vom Versuch, das Neue Steuerungsmodell verpflichtend einzuführen. Wirkungen des Neuen Kommunalen Finanzmanagements in NRW. Verwaltung & Management, 17. Jg., Heft 4, S. 171 ff.
[5] So ist es in der Stadt Duisburg mit Hilfe einer aktiven Jugendhilfeplanung gelungen, trotz Haushaltsicherungskonzept  das Angebot der Kinder- und Jugendhilfe zu sichern.
[6] Interviewergebnisse bei Merchel (2012), Profil der Jugendhilfeplanung zur Herausbildung einer „Eigenständigen Jugendpolitik“ im kommunalen Bereich: Praxis und Handlungs-optionen der Jugendhilfeplanung in Jugendämtern, in: Stellungnahme des Bundesjugend-kuratoriums zur Neuaktivierung der Jugendhilfeplanung: Potenziale für eine kommunale Kinder- und Jugendpolitik, S. 34 f, abrufbar unter www.bundesjugendkuratorium.de/pdf/20102013/Stellungnahme_Jugendhilfeplanung_51212.pdf