Hinweise aus Perspektive der Kinder- und Jugendhilfe für ein Reparaturgesetz zum Sozialen Entschädigungsrecht (SGB XIV)

Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ [1]

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Abstract

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ weist auf dringenden Änderungsbedarf zum neuen Sozialen Entschädigungsrecht (SGB XIV) hin, das am 01.01.2024 in Kraft treten wird und zu dem sich aktuell ein sog. Reparaturgesetz im Gesetzgebungsprozess befindet. Mit Blick auf diese dringend zu nutzende Gelegenheit für kurzfristige politische Intervention zeigt die AGJ die Widersprüchlichkeit der rechtlichen Regelungen und erhebliche rechtsystematische Probleme an der Schnittstelle zum SGB VIII auf. Entgegen der bisherigen Rechtslage und mutmaßlich auch entgegen der gesetzgeberischen Intention scheinen erzieherische Unterstützungsleistungen im Leistungsspektrum des SGB XIV nicht mehr enthalten zu sein, selbst wenn und soweit? deren Bedarf kausal aus einem schädigenden Ereignis resultiert. Zudem werden Hilfen zum Lebensunterhalt durch eine neue einschränkende Konkretisierung des Vorrang-Nachrang-Verhältnisses ausgeklammert. Dies missachtet, dass bei Minderjährigen, die in staatlicher Fürsorge aufwachsen, die Leistungen zum Lebensunterhalt mit den Fachleistungen verschränkt sind. Da die Entschädigungsansprüche zumeist im Wege der Kostenerstattung zwischen Jugendämtern und Versorgungsämtern geltend gemacht werden, kommt es zu einer Kostenverschiebung zu Lasten der Jugendhilfehaushalte der Kommunen im geschätzt hohen dreistelligen Millionenbereich. Dies muss dringend korrigiert werden.

Inhaltsverzeichnis

1.    Einführung 
2.    Erfassung von Hilfen zur Erziehung und Leistungen zur Teilhabe für Minderjährige mit seelischer Behinderung im Leistungsspektrum des SGB XIV 
3.    Änderungsbedarf an §§ 93 Abs. 2 SGB XIV, 10 Abs. 5 SGB VIII durch einschränkende Konkretisierung des Vorrang-Nachrang-Verhältnisses bzgl. Leistungen zum Unterhalt nach § 39 SGB VIII
4.    Fortsetzung der gängigen Praxis einer Geltendmachung des Vorrang-Nachrang-Verhältnisses im Wege der Kostenerstattung
5.    Auslegung „erhebliche Vernachlässigung“

1.    Einführung

Das Sozialgesetzbuch Vierzehntes Buch – Soziale Entschädigungen (SGB XIV) wurde als Art. 1 des Gesetzes zur Regelung des sozialen Entschädigungsrechts am 19. Dezember 2019 erlassen. Mit Inkrafttreten zum 01.01.2024 regelt es das Recht der sozialen Entschädigung neu. Das Bundesversorgungsgesetz (BVG) und das Opferentschädigungsgesetz (OEG) werden aufgehoben.

Um notwendige Änderungen und Verbesserungen schon vor Inkrafttreten zu regeln, befindet sich derzeit das Gesetz zur Anpassung des Zwölften und des Vierzehnten Buches Sozialgesetzbuch und weiterer Gesetze (ein sog. Reparaturgesetz) im gesetzgeberischen Verfahren. Aus Sicht der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe ergibt sich an der Schnittstelle zum SGB VIII aufgrund eines offensichtlichen Versehens dringender Änderungsbedarf, welcher bislang offenbar vollkommen übersehen wurde und eine kurzfristige politische Intervention im kurz vor Abschluss stehenden Verfahren erforderlich macht.

Dieser Änderungsbedarf wird im Folgenden dargestellt (1. und 2.). Ergänzend wird zudem eingebracht, wozu aus Sicht der AGJ an bestehende untergesetzliche Klarstellungen angeknüpft (2.) sowie eine Verständigung zwischen den Akteuren beider Rechtskreise unterstützt (3.) werden sollte.

2.    Erfassung von Hilfen zur Erziehung und Leistungen zur Teilhabe für Minderjährige mit seelischer Behinderung im Leistungsspektrum des SGB XIV

Die AGJ nimmt Diskussionen wahr, die dadurch entstehen, dass Erziehungsbeihilfen nicht in § 3 SGB XIV als Leistungen der Sozialen Entschädigung aufgezählt werden. Es wird zumindest in Frage gestellt, ob diese als „Besondere Leistung im Einzelfall“ (Kap. 11) erfasst werden oder im Unterschied zum aktuellen Recht (§ 1 Abs. 1 OEG i.V.m. § 27 BVG) ganz aus dem Leistungsspektrum des neuen Soziale Entschädigungsrecht fallen. Sogar bei Erstattungsansprüchen wegen Leistungen der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung (§ 35a SGB VIII) dürfte die Geltendmachung künftig nur mit zusätzlichem rechtlichen Begründungsaufwand verbunden sein: Gem. § 66 Abs. 1 SGB XIV werden allein diejenigen Geschädigten zu Leistungen zur Sozialen Teilhabe berechtigt, die auf Grund der Schädigungsfolgen zum leistungsberechtigten Personenkreis im Sinne von § 99 SGB IX gehören; ferner wird zur Konkretisierung der Leistungen zur Sozialen Teilhabe auf Kap. 6 SGB IX verwiesen. Im Wege der Auslegung ist daher umständlich zu argumentieren, dass auch Minderjährige mit einer seelischen Behinderung zum Personenkreis des § 99 SGB IX gehören, auch wenn für diese die Nachrangregelung des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII nicht greift und das SGB VIII vorgeht.

Die AGJ mutmaßt, dass die Erstattungsfälle der Träger der öffentlichen Jugendhilfe (vgl. dazu näher 3.) bei der Reform des Sozialen Entschädigungsrechts bisher nicht gut in den Blick genommen worden sind. Sie kann kaum glauben, dass es Absicht des Gesetzgebers gewesen sein soll, aus einem schädigenden Ereignis entstandenen Erziehungshilfebedarf bzw. Eingliederungshilfebedarf für junge Menschen mit seelischer Behinderung aus dem Sozialen Entschädigungsrecht auszunehmen. Dies ist nicht nur fachlich höchst fragwürdig, sondern dürfte auch den Gleichheitsgrundsatz verletzen. In jedem Fall hätte zudem eine derart massive Änderung zum aktuellen Recht bei den Kostenfolgen des Gesetzes Erwähnung finden müssen (BT-Drs. 19/13825, S. 160). Die Verschiebung der Kosten auf die Kommunen dürfte sich im hohen dreistelligen Millionenbereich bewegen. Die Vorrang-Nachrang-Regelung des § 10 Abs. 5 SGB VIII (dazu unter 2.) wäre weitgehend obsolet, ihr Regelungsgehalt paradox, da dort bezogen auf die Kosten zum Lebensunterhalt, nicht aber die eigentliche Fachleistung „Hilfen zur Erziehung“ bzw. „Eingliederungshilfe für junge Menschen mit seelischer Behinderung“ eine (systematisch zwar ebenfalls wie unter 2. dargestellt fehlgegangene) Einschränkung vorgenommen wird.

Aus Sicht der AGJ ist das Soziale Entschädigungsrecht dringend daraufhin anzupassen, dass es auch den Lebenslagen und Belangen junger Menschen gerecht wird und sich nicht allein am Erwachsenensystem orientiert. Offenbar wurde vollkommen übersehen, welche Bedeutung zur Stabilisation Geschädigter Leistungen sein können, die fachlich den Hilfen zur Erziehung nach §§ 27ff SGB VIII bzw. der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII entsprechen und nach Erreichung der Volljährigkeit im Rahmen des § 41 SGB VIII zur Persönlichkeitsentwicklung weiter gewährt werden können. Das Leben in der Familie bzw. einer Wohngruppe stellt während des Aufwachsens den zentralen Ort sozialer Teilhabe dar. Hier wird die Basis geschaffen, um Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in jeglicher Hinsicht wahrnehmen zu können.

Der AGJ ist wichtig anzumerken, dass sie die auch nach aktuellem Sozialen Entschädigungsrecht (OEG/BVG) bestehenden Kausalitätspflicht nicht anzweifelt. Der Erstattungsanspruch greift auch aktuell nur, soweit der Hilfebedarf kausal auf die erlittene Schädigung zurückgeführt werden kann. Fallgestaltungen, in denen bereits zuvor ein Hilfebedarf der Familie bestand, zu dem eine Schädigung i.S.d. OEG hinzukam, waren nie erfasst. Das ist auch in Ordnung. Die o.g. neue Rechtslage führte aber selbst im Fall eines Kleinkindes, dessen Eltern durch eine Gewalttat zu Tode kommen und welches aus diesem Grunde stationär untergebracht werden muss, dazu, dass (zumal ohne Diagnose einer – drohenden – seelischen Behinderung) keine Möglichkeit mehr bestände, die Kosten dieser Unterbringung aus dem Sozialen Entschädigungsrecht abzudecken.

Um Rechtstreitigkeiten vorzubeugen und die Versorgung junger Geschädigter durch das Soziale Entschädigungsrecht abzusichern, bittet die AGJ um eine klarstellende Nachbesserung im SGB XIV (z.B. Aufnahme der Erziehungsbeihilfen in § 3 SGB XIV sowie Bezugnahme auf § 35a SGB VIII in § 66 SGB XIV).

3.    Änderungsbedarf an §§ 93 Abs. 2 SGB XIV, 10 Abs. 5 SGB VIII durch einschränkende Konkretisierung des Vorrang-Nachrang-Verhältnisses bzgl. Leistungen zum Unterhalt nach § 39 SGB VIII

In der Annahme, dass es nicht Absicht des Gesetzgebers war, den aus einem schädigenden Ereignis entstandenen Erziehungshilfebedarf bzw. Eingliederungshilfebedarf für junge Menschen mit seelischer Behinderung aus dem Sozialen Entschädigungsrecht auszunehmen (vgl. 1.) ist es der AGJ wichtig, im Folgenden auf ein weiteres folgenschweres Problem durch das reformierte Soziale Entschädigungsrecht hinzuweisen.

Leistungen der Sozialen Entschädigung nach dem SGB XIV gehen den Leistungen anderer Träger, insbesondere anderer Sozialleistungsträger vor (§ 28 Abs. 1 SGB XIV). Dies gilt grundsätzlich auch bezogen auf die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII und bestätigt den grundsätzlichen Nachrang der jugendhilferechtlichen Verpflichtungen in § 10 Abs. 1 SGB VIII. Mit Inkrafttreten des neuen Sozialen Entschädigungsrechts zum 01.01.2024 soll dieses Vorrang-Nachrang-Verhältnis an einer entscheidenden Stelle allerdings geändert werden: „Soweit Leistungen zum Lebensunterhalt nach § 39 [SGB VIII] erbracht werden, gehen sie den Leistungen zum Lebensunterhalt nach § 93 des [SGB XIV] vor.“ (§ 10 Abs. 5 SGB VIII und Parallelregelung in § 93 Abs. 2 SGB XIV). Anders als unter der bisherigen Rechtslage werden folglich die Kosten für die Unterbringung nicht mehr übernommen, sondern in die kommunale Finanzierungsverantwortung verschoben. Dies beruht vermutlich auf einem groben Missverständnis. Auch diese Änderung würde zu einer Belastung der Kommunen führen, die nicht beabsichtigt sein kann. Sie hat zudem massive Umsetzungsprobleme zu Folge.

Die einschränkende Konkretisierung der §§ 93 Abs. 2 SGB XIV, 10 Abs. 5 SGB VIII ist aus Sicht der AGJ aus mehreren Gründen fehlgeleitet und zu ändern:

Die AGJ vermutet, dass sich die Logik an den Verhältnissen in Pflegeeinrichtungen oder im Erwachsenensystem der Eingliederungshilfe orientiert. Anders als bei den Kosten der Unterkunft dort ist die Hilfe zum notwendigen Unterhalt nach § 39 SGB VIII als sog. Annexleistung in den Fällen der stationären Unterbringung konstruiert. Sie steht in einer engen Verbindung mit der Fachleistung (anders als in anderen Sozialgesetzbüchern, wo in der Rechtsentwicklung spezifisch auf die Trennung hingewirkt wurde). Die Leistungen zum Unterhalt nach § 39 SGB VIII werden nicht vom Bund finanziert, sondern sind Bestandteil der kommunalen Leistung.

§ 39 SGB VIII folgt einer völlig anderen Logik als in den Erwachsenensystemen, wo der Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt durch die Bedürftigkeit der Berechtigten und deren fehlende Möglichkeit ausgelöst wird, den notwendigen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln (Einkommen und Vermögen) und Kräften (Erwerbstätigkeit) noch mit Hilfe anderer (Unterhaltspflichten) zu bestreiten. Werden die Kosten der Unterkunft getrennt von dem Anspruch auf Fachleistung betrachtet, können Unterhalt und Fachleistung parallel erfolgen – oder eben auch nicht.    

Für junge Menschen in stationärer Unterbringung nach SGB VIII ist das aber genau anders: In jedem Fall einer stationären Unterbringung wird immer auch die Hilfe zum Unterhalt des Kindes oder des Jugendlichen nach § 39 SGB VIII als Annex mitgeleistet. Fälle, in denen ausschließlich Leistungen zum Lebensunterhalt nach § 39 SGB VIII erbracht werden, gibt es nach der Konzeption des SGB VIII nicht.

Mit Blick auf die für das Soziale Entschädigungsrecht so relevante Kausalität heißt dies, dass für das Auslösen der Leistungspflicht hinter § 39 SGB VIII also der gleiche Kausalzusammenhang zum schädigenden Ereignis besteht, der für die Leistung der Unterbringung nach §§ 27 bzw. 35a i.V.m. §§ 33,34,35 oder § 41 SGB VIII besteht.

Da § 39 SGB VIII den Charakter einer Annexregelung hat und niemals losgelöst von einer sog. stationären Maßnahme geleistet wird, wäre es für die öffentlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe völlig wesensfremd nur für Leistungen zum Lebensunterhalt zu bezahlen. Diese werden folglich auch nicht trennscharf ausgewiesen, was auch daran liegt, dass der notwendige Unterhalt nach SGB VIII gerade nicht am Existenzminimum bzw. Sozialhilfe- oder Grundsicherungsniveau orientiert ist. Hier drohen massive Umsetzungsprobleme. Ganz praktisch kann nicht davon ausgegangen werden, dass öffentliche Träger der Kinder- und Jugendhilfe derzeit in der Lage sind, eine Trennung in Fachleistungsstunden und Leistungen zu Lebensunterhalt zu vollziehen – vielmehr sind diese häufig als „Kosten für Pflege und Erziehung“ entsprechend § 39 Abs. 1 SGB VIII in einem Betrag zusammengefasst:

Das betrifft jedenfalls die Unterbringung in Pflegefamilien, weil nicht nur die Sachleistung, sondern auch die Kosten der Erziehung Elemente des Unterhalts im engeren Sinne enthalten.

Aber auch Jugendhilfeeinrichtungen rechnen typischer Weise die ihnen entstehenden regelmäßigen Unterbringungskosten nach einem in den Rechnungen nicht weiter ausdifferenzierten Tagessatz ab. Bei einer stationären Unterbringung in Einrichtungen oder sonstigen betreuten Wohnformen wird in den Leistungs- und Entgeltvereinbarungen zwischen dem öffentlichen Träger und Leistungserbringern gem. § 78c Abs. 2 SGB VIII nur teilweise aufgeteilt in getrennte Pauschalen für Unterkunft und Verpflegung bzw. eine Pauschale für die sozialpädagogische Leistung. In etlichen Vereinbarungen sind die Leistungsbestandteile auch hier verschränkt und nicht entsprechend der Logik bspw. der Kosten der Unterkunft in der Eingliederungshilfe aufgeschlüsselt. Hierzu vergleichbar, sieht im Übrigen auch das Vereinbarungsrecht zur Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe für minderjährige Leistungsberechtigte (§ 134 Abs. 3 SGB IX) allein eine Grundpauschale für Unterkunft und Verpflegung vor, womit es in der Praxis ebenfalls zur Vereinbarung integrierter Komplexleistungen ohne Trennung Fachleistung von Lebensunterhaltsleistung kommt.

Die einschränkende Konkretisierung der §§ 93 Abs. 2 SGB XIV, 10 Abs. 5 SGB VIII könnte zudem dazu führen, dass bei den Jugendämtern ab dem 01.01.2024 ein originäres Interesse entsteht, die aus guten Gründen praktizierte nachgelagerte Wiederherstellung des Nachrangs im Erstattungswege (dazu näher unter 3.) nicht fortzuführen und zu versuchen, den jungen Menschen auf den Vorrang des Sozialen Entschädigungsrechts zu verweisen um zu verhindern, dass der Annexanspruch nach § 39 SGB VIII überhaupt erst entsteht und sich somit von jeglicher Kostenverantwortung befreien. Zwar darf sich der Jugendhilfeträger im Verhältnis zu Leistungsberechtigten nur dann auf einen vorrangig zuständigen anderen Sozialleistungsträger berufen, soweit die vorrangige Leistung tatsächlich präsent und realisierbar ist. In Anbetracht dessen, dass sich Verzögerung sich haushalterisch aber lohnen könnte, droht nicht nur aufgrund der Bewilligungsdauer der Versorgungsämter eine Nichtversorgung der Leistungsberechtigten, sondern auch ein Wegfall der für die Leistungsbewilligung wichtige und für Verwaltungseffizienz sorgende Zugang zur Fachkompetenz der Jugendämter.

Im Austausch mit einzelnen Expert*innen für die Leistungen des Sozialen Entschädigungsrechts wurde deutlich, dass auch diese weiterhin eine vollumfängliche Leistung ohne Ausdifferenzierung und Herausnahme von Leistungen zum Lebensunterhalt befürworten. Eingebracht wurde eine Auslegung des § 93 Abs. 2 SGB XIV, wonach dieser keine einschränkende Konkretisierung des Vorrang-Nachrang-Verhältnisses bezwecke, sondern nur auf die zeitliche Abfolge der Erbringung abziele, die mit einer vollumfänglichen Erstattung (inklusive der Kosten für den Lebensunterhalt) nach dem Sozialen Entschädigungsrecht ende. Eine Streichung der §§ 93 Abs. 2 SGB XIV, 10 Abs. 5 SGB VIII sei aber auch aus ihrer Sicht sinnvoll. Die AGJ würde eine solche Auslegung entsprechend der gemeinsamen Intention der vollumfänglichen Leistungsgewährung zwar begrüßen, hält sie aber rechtsystematisch und aufgrund des Wortlauts der Normen für kaum haltbar. Zur Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten ist insbesondere in Anbetracht der Sensibilität der Vorgänge des Sozialen Entschädigungsrechts eine gesetzgeberische Klarstellung dringend erforderlich.

Es spricht somit alles dafür, die Veränderung im zentralen Praxisanwendungsbereich des bisherigen Vorrang-Nachrang-Verhältnisses wieder aus den Gesetzen zu streichen und die §§ 93 Abs. 2 SGB XIV, 10 Abs. 5 SGB VIII aufzuheben. Die Veränderung ist rechtssystematisch nicht zu rechtfertigen und entspringt offensichtlich einem Missverständnis bzw. Versehen.

4.    Fortsetzung der gängigen Praxis einer Geltendmachung des Vorrang-Nachrang-Verhältnisses im Wege der Kostenerstattung

Aus Sicht der AGJ ist es richtig, dass der bezogen auf Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe bislang lediglich aus § 10 Abs. 1 SGB VIII abgeleitete Vorrang der Leistungen des Sozialen Entschädigungsrechts (OEG, BVG) im SGB XIV ebenfalls ausdrücklich verankert ist (§ 28 Abs. 1 SGB XIV). Sie spricht sich ausdrücklich für eine Beibehaltung dieses Vorrang-Nachrang-Verhältnisses (§ 28 Abs. 1 SGB XIV), die deutliche Aufnahme der erzieherischen Hilfen und Eingliederungshilfen für Minderjährige mit seelischer Behinderung in das Leistungsspektrum des SGB XIV (dazu 1.) sowie eine Streichung der einschränkenden Konkretisierung der §§ 93 Abs. 2 SGB XIV, 10 Abs. 5 SGB VIII (dazu 2.) aus.

Die AGJ hält es darüberhinaus für hilfreich, wenn in den Gesetzgebungsmaterialien oder in einer mit dem Inkrafttreten zeitlich verbundenen untergesetzlichen Regelung hervorgehoben würde, dass die gängige Praxis fortgeführt werden soll, welche dieses Vorrang-Nachrangverhältnis nicht durch Verweisung der Leistungsberechtigten, sondern im Wege der Kostenerstattung zwischen den Sozialleistungsträgern (§ 104 SGB XIV) zur Geltung bringt. Diese gängige Praxis erklärt sich zum einen aus dem zumeist bestehenden Erfordernis einer unmittelbaren Bedarfsdeckung der Berechtigten bei einer faktisch deutlich längeren Bewilligungsdauer der Versorgungsämter. Ein Leistungsverweigerungsrecht der Jugendämter ist somit mangels tatsächlich präsent und realisierbarer Leistung ausgeschlossen. Zum anderen beruht dieses Vorgehen auf der Erwägung, dass die Kinder- und Jugendhilfe über die fachlich entsprechend ausgebildeten und geschulten Fachkräfte verfügt, um über die Deckung des psychosozialen Bedarfs in Form psychosozialer Dienstleistungen zu entscheiden und der Aufbau einer Parallelstruktur zu dieser Fachbehörde in den Versorgungsämtern nicht sinnvoll wäre. Das Gemeinsames Rundschreiben BMAS/BMFSFJ vom 14.11.2007 (IVc 1 – 46651 – 8) hat in der Vergangenheit für begrüßenswerte Klarheit gesorgt, an die durch ein neues gemeinsames Rundschreiben von BMAS und BMFSFJ angeknüpft werden sollte. Die AGJ fürchtet ansonsten, dass mit Inkrafttreten der neuen Rechtslage die hochrelevanten Sachgründe für einen Vollzug des Nachrangs im Wege der Kostenerstattung (Fachkenntnis der Jugendämter, zeitnaher Bedarf vs. Bewilligungsdauer der Versorgungsämter) in der Umsetzungspraxis zum Nachteil der Berechtigten in den Hintergrund treten könnten. Dies gilt umso mehr sollte die fehlgeleiteten §§ 93 Abs. 2 SGB XIV, 10 Abs. 5 SGB VIII in Krafttreten, da diese einen richtunggebenden Anreiz zum Verweis der Leistungsberechtigten setzen (vgl. dazu unter 2.).

Die AGJ teilt die Einschätzung aller befragten Fachleute, dass eine frühzeitige enge Kommunikation der Jugendämter mit den Versorgungsämtern über in Betracht kommende SGB XIV-Leistungen sinnvoll ist, um das ggf. in Betracht kommende weitere Leistungsspektrum des Sozialen Entschädigungsrechts und die hier zu beachtenden Verfahrensvorgaben einbeziehen zu können.

5.    Auslegung „erhebliche Vernachlässigung“

Abschließend möchte die AGJ darauf aufmerksam machen, dass sie die Erweiterung des Kreises der Leistungsberechtigten begrüßt, die neben Geschädigten durch eine Gewalttat, nun auch auf Geschädigten durch eine „erhebliche Vernachlässigung von Kindern“ erfasst (§ 14 Abs. 1 Nr. 5 SGB XIV). Dies ist aus Sicht der Leistungsberechtigten und mit Blick auf in der Kinder- und Jugendhilfe bekannte Fälle der Kindeswohlgefährdung sehr sinnvoll. Sie entlastet die bisher notwendige, oft sehr schwierige Erbringung des Nachweises einer Gewalttat und bietet auch vielfach bei Fällen mit Verdacht auf sexuellen Missbrauch ein zumindest vereinfachtes Verwaltungsverfahren. Dies unterstreicht auch die Notwendigkeit, der unter 1. gefordeten Erfassung von Hilfen zur Erziehung und Leistungen zur Teilhabe für Minderjährige mit seelischer Behinderung im Leistungsspektrum des SGB XIV.
Allerdings ist absehbar, dass Abgrenzungsstreitigkeiten zu dieser neuen Gruppe von Leistungsberechtigten entstehen werden. Auch hierzu könnten z.B. in einem neuen gemeinsamen Rundschreiben von BMAS und BMFSFJ (vgl. bereits unter 3.) klarstellende Hinweise aufgenommen werden.
Die AGJ regt an, dass hierfür zügig im Rahmen einer Fachdiskussion Lösungen gesucht werden und bittet das BMAS und BMFSFJ hierfür Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, um auf ein gleichgerichtetes Vorgehen bundesweit hinzuwirken. Die AGJ plant selbst, sich damit innerhalb ihrer Strukturen z.B. mit Fragen wie der Aktenführung in Kinderschutzfällen zu befassen, verfügt aber über sehr begrenzte Kapazitäten. 

 

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ 
Berlin, den 21./22.09.2023

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[1] Ansprechperson für diese Stellungnahme in der AGJ ist die für die Begleitung des Arbeitsfeldes I „Organisations-, Finanzierungs- und Rechtsfragen“ zuständige stellvertretende Geschäftsführerin Angela Smessaert (angela.smessaert@agj.de).