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Öffentliche und Freie Jugendhilfe in den Hilfen zur Erziehung: Verantwortungsgemeinschaft im Sinne
der Adressatinnen und Adressaten gestalten

Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Positionspapier als PDF


Die Entwicklung sowie Ausgestaltung einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit und einer Verantwortungsgemeinschaft zwischen öffentlicher und freier Jugendhilfe auf Basis der strukturellen Zweigliedrigkeit der Jugendhilfe dient dem Wohl der Adressatinnen und Adressaten und ist Ziel des SGB VIII. Die Partner stehen aber auch in Geschäftsbeziehung zueinander, mit jeweils definierten Rahmenbedingungen und Voraussetzungen, über die die Beteiligten sich laufend verständigen müssen. Dazu gehört auch eine Verständigung über die Anpassung ihrer Angebote an sich wandelnde Lebensbedingungen und Bedarfslagen von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien.

Im Hinblick auf ebendiese sich wandelnden Bedingungen und Bedarfslagen bietet die Unterbringung und Versorgung der in den letzten Jahren nach Deutschland unbegleitet minderjährigen Geflüchteten ein besonderes und bedeutendes Beispiel für die partnerschaftliche Zusammenarbeit der öffentlichen und freien Jugendhilfe: Sie hatte Mitte der 2010er Jahre angesichts der hohen Zahl von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten vor großen Herausforderungen gestanden. In kürzester Zeit mussten Unterbringungs-möglichkeiten geschaffen werden, um Obdachlosigkeit zu vermeiden und eine Versorgung und Begleitung der jungen Menschen zu ermöglichen. 2016 lebten zeitweise knapp 70.000 unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Deutschland. Die Verantwortung für eine kind- und jugendgerechte Unterbringung einer großen Anzahl junger Menschen, für die Umsetzung der Jugendhilfestandards und für mögliche Risiken beim Aufbau neuer Angebotsformen wurden durch beide Seiten innerhalb kurzer Zeit gemeinsam übernommen und getragen. Denn die sich in dieser „Krisensituation“ ergebenden Fragen nach Raum- und Unterbringungs-kapazitäten, der Gewinnung von Fachkräften und der Notwendigkeit einer Betriebserlaubnis für kurzfristig benötigte Wohn- und Betreuungsformen betrafen im gleichen Maße die öffentliche wie die freie Jugendhilfe. Die großen Anstrengungen konnten nur gemeinsam und partnerschaftlich zwischen Trägern der öffentlichen und freien Jugendhilfe geleistet werden.

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ stellt in diesem Positionspapier aus verschiedenen Perspektiven und „Blickrichtungen“ die Zusammenarbeit vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen der Trägerlandschaft in den Fokus, zeigt Entwicklungslinien und Trendbewegungen auf und zieht Schlussfolgerungen, wie sich die Zusammenarbeit zwischen Verantwortungsgemeinschaft und Geschäftsbeziehung in den Hilfen zur Erziehung weiterentwickeln sollte, um die Qualität der Angebote und Leistungen im Interesse der Adressatinnen und Adressaten auch künftig sicherzustellen.

Der erste Blick: Daten und Zahlen zur Trägerlandschaft in den Hilfen zur Erziehung

Die Entwicklung der Trägerlandschaft in der Kinder- und Jugendhilfe sowie in den Hilfen zur Erziehung lässt sich in den letzten Jahren auf Basis von Daten der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik (KJH-Statistik) wie folgt skizzieren:[1]
Im Hinblick auf die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe insgesamt bleibt die Anzahl der westdeutschen Träger der Jugendhilfe relativ konstant und die Anzahl der ostdeutschen Träger der Jugendhilfe nähert sich diesem Niveau an. So sind rund 30 Prozent der Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe in Trägerschaft der öffentlichen Jugendhilfe und rund 70 Prozent der Einrichtungen in Trägerschaft der freien Jugendhilfe (1991 waren in Ostdeutschland 94 Prozent der Einrichtungen in öffentlicher Trägerschaft und 6 Prozent in freier Trägerschaft).[2] Die Entwicklung des Anteils „privat-nichtgemeinnütziger Träger“ – so die Bezeichnung in der KJH-Statistik – lässt sich über die Kinder- und Jugendhilfestatistik aufgrund von Veränderungen der Erhebungen der letzten Jahre nur bis ins Jahr 2014 verfolgen. Diesbezüglich ist für die gesamte Kinder- und Jugendhilfe ein geringfügiger Anstieg in den letzten Jahren zu verzeichnen. So beträgt der Anteil dieser Trägergruppe an den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe 2016/2017 5,4 Prozent – 2014/2015 lag dieser noch bei 4,9 Prozent.

Im Hinblick auf die in der Kinder- und Jugendhilfe 2016/2017 tätigen Personen ergibt sich, dass rund 63 Prozent der Beschäftigten bei privat-gemeinnützigen Trägern, etwa 32 Prozent bei Trägern der öffentlichen Jugendhilfe sowie ca. 4 Prozent bei privat-nichtgemeinnützigen Trägern tätig sind. Je nach Arbeits- oder auch Handlungsfeld kann sich die Verteilung der Beschäftigten auf die Trägergruppen unterschiedlich darstellen.
Im Bereich der stationären Einrichtungen beispielsweise liegt der Anteil der beim privat-gemeinnützigen Träger tätigen Personen Ende 2016 bei etwa 81 Prozent, beim privat-nichtgemeinnützigen Träger bei ca. 15 Prozent sowie beim öffentlichen Träger bei rund 4 Prozent.

Für die Hilfen zur Erziehung insgesamt erfolgte zwischen 2006 und 2016 ein Personalanstieg. Dieser zeigt sich insbesondere bei den Trägern der freien Jugendhilfe. So ist die Anzahl der Mitarbeitenden bei den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe zwischen 2010 und 2014 sogar noch rückläufig, hat aber bis 2016 wieder etwas zugelegt. Kontinuierlich gestiegen sind hingegen die Beschäftigten bei Trägern der freien Jugendhilfe. So sind im Jahr 2016 von den insgesamt rund 102.500 tätigen Personen 93 Prozent bei einem Träger der freien Jugendhilfe angestellt. Der Anteil der Beschäftigten bei nicht-gemeinnützigen Anstellungsträgern als Teilgruppe der Träger der freien Jugendhilfe liegt für das gesamte Arbeitsfeld Hilfen zur Erziehung bei 13 Prozent.

Der zweite Blick: Strukturvorgaben und Leitprinzipien des SGB VIII zum Verhältnis öffentlicher und freier Jugendhilfe

Kennzeichen der Kinder- und Jugendhilfe ist die enge Zusammenarbeit zwischen Trägern der öffentlichen und der freien Jugendhilfe. Die Grundlagen der Zusammenarbeit sind in § 4 SGB VIII (Zusammenarbeit der öffentlichen Jugendhilfe mit der freien Jugendhilfe) geregelt und in weiteren Gesetzesnormen konkretisiert (bspw. §§ 36, 78 SGB VIII). Der Begriff der Partnerschaftlichkeit ist im SGB VIII nicht weiter bestimmt und muss daher im Kontext des SGB VIII ausgelegt und in der Praxis mit Leben gefüllt werden. Maßstab ist dabei immer das Wohl der jungen Menschen (§ 4 Abs. 1 SGB VIII).

Im Rahmen der Gesamtverantwortung und Planungsverantwortung (§ 79 SGB VIII) sind die Träger der öffentlichen Jugendhilfe für die Aufgabenerfüllung nach dem SGB VIII verantwortlich. Dazu gehört, dass die erforderlichen Angebote und Leistungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen. Diese Verantwortung bezieht sich auch auf eine entsprechende Ausstattung der Jugendämter und der Landesjugendämter inklusive des erforderlichen Personals. Zudem ist es Aufgabe des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe zu gewährleisten, dass die Grundsätze und Maßstäbe für die Bewertung der Qualität der Leistungen (weiter)entwickelt werden (§ 79a SGB VIII).

Für die Erfüllung der Aufgaben der Jugendhilfe (§ 2 SGB VIII) stehen insbesondere Angebote und Leistungen der freien Jugendhilfe zur Verfügung. Soweit deren geeignete Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen betrieben oder rechtzeitig geschaffen werden können, soll die öffentliche Jugendhilfe von eigenen Maßnahmen absehen. Ihre Angebote und Leistungen frei zu gestalten, die Aufgaben eigenständig auszuführen und das Personal nach ihren Erfordernissen zu qualifizieren, beschreibt die Selbständigkeit der freien Jugendhilfe. Insofern sind die Träger der freien Jugendhilfe keine Auftragsnehmer oder Verwaltungshelfer/Beliehene und können nicht zur Erbringung von Leistungen verpflichtet werden, übernehmen aber durch die Schaffung von Einrichtungen und Diensten eine Mitverantwortung bei der Ausgestaltung einer ausreichenden Angebotsstruktur.                

Die Motivation zum Tätigwerden im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ist demnach unterschiedlich: Während der öffentliche Träger einem gesetzlichen Auftrag folgt und zur Kooperation verpflichtet ist, handeln die freien Träger aus individuell gewählten Gründen und Motiven, die bspw. in den jeweiligen Satzungen festgelegt sind.

Das Gebot zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit zum Wohl junger Menschen und ihrer Familien findet seinen Ausfluss im Bereich der Hilfen zur Erziehung insbesondere in der Verpflichtung zur Kooperation und im fachlichen Zusammenwirken auf der Einzelfallebene im Rahmen des individuellen Hilfeplanprozesses (Hilfeplanung etc.) nach § 36 SGB VIII. Darüber hinaus ist sie auf der Strukturebene bzw. auf der Ebene der Infrastrukturgestaltung (Jugendhilfeplanung) verortet. Beide, öffentliche und freie Jugendhilfe, haben den gemeinsamen Auftrag nach den Maßgaben des SGB VIII, junge Menschen zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden, Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung zu beraten und zu unterstützen sowie vor allem dazu beizutragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien zu schaffen.
Zur Sicherung von Pluralität und einer vielfältigen Angebotsstruktur sowie zur Realisierung der Partnerschaftlichkeit dient auch die Zweigliedrigkeit des Jugendamtes. Die Aufgaben des Jugendamtes werden durch den Jugendhilfeausschuss und die Verwaltung des Jugendamtes wahrgenommen. Der Jugendhilfeausschuss ist für die kommunale Kinder- und Jugendhilfepolitik neben den Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB VIII das zentrale Gremium – ihm obliegen die politische Steuerung sowie die fachliche Entwicklung der regionalen Angebotsstruktur in der Kinder- und Jugendhilfe. In dieser kommunalverfassungs-rechtlichen Besonderheit nimmt der Jugendhilfeausschuss in der kommunalen Kinder- und Jugendhilfepolitik eine besondere Funktion wahr: ihm stehen gegenüber dem Kommunalparlament Beschluss-, Antrags- und Anhörungsrechte im Hinblick auf die Kinder- und Jugendhilfe betreffenden Entscheidungen zu. Durch die Zusammensetzung des Jugendhilfeausschusses mit der Beteiligung der anerkannten Träger der freien Jugendhilfe können unterschiedliche fachpolitische Positionen und Differenzen qualifiziert, breit und weniger interessenorientiert diskutiert und ausgehandelt werden als dies bei der Aushandlung der Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsvereinbarungen möglich ist. Die Jugendhilfeplanung ist eine der Schwerpunktkompetenzen des Jugendhilfeausschusses
(§ 71 Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII). Sie ist Grundvoraussetzung für die Entwicklung einer bedarfsgerechten Angebotsstruktur der Kinder- und Jugendhilfe. Wie die gesetzlich normierte Beteiligung der Träger der freien Jugendhilfe bei der Jugendhilfeplanung gestaltet wird, sei es durch Mitwirkung oder Mitbestimmung im Rahmen eines Aushandlungs-prozesses oder eines Anhörungsprozesses, ist jeweils von den Beteiligten vor Ort abhängig. Die Jugendhilfeplanung soll mit anderen örtlichen und überörtlichen Planungen abgestimmt werden (§ 80 Abs. 4 SGB VIII).

Selbst ohne die nun folgende Betrachtung der finanziellen Aspekte wird deutlich, dass öffentliche und freie Jugendhilfe in einem Modus von Kooperation und Aushandlung miteinander intensiv verbunden sind.

Der dritte Blick: Komplementäre Geschäftsbeziehung zwischen den Trägern der öffentlichen und der freien Jugendhilfe

Die finanziellen Beziehungen zwischen den Trägern sind ebenfalls grundsätzlich auf struktureller Ebene und auf Einzelfallebene vorhanden:

Bestandteil des Aushandlungsprozesses für stationäre und teilstationäre Leistungen nach
§§ 27 ff. SGB VIII ist eine Verständigung über die Leistungs-, Qualitäts- und Entgeltvereinbarungen. Die Grundsätze der Leistungsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit müssen dabei berücksichtigt werden. Die Grundlage, aus der sich die Vergütung der entsprechenden Leistung ergibt, stellen die Leistungs- sowie Qualitäts-merkmale dar. Zur Übernahme des Entgelts (gegenüber dem Leistungsberechtigten) ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nur dann verpflichtet, wenn er ferner im Einzelfall den Hilfebedarf im Rahmen der Hilfeplanung nach §§ 36, 36a SGB VIII mit den Beteiligten federführend ermittelt und die Leistung nach diesen Grundlagen gewährt hat.
Über die einzelfallbezogene Finanzierung auf Grundlage von Vereinbarungen nach §§ 77, 78a ff. SGB VIII hinaus ist die Förderung der freien Jugendhilfe im Sinne der Unterstützung durch finanzielle Zuwendungen des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe grundsätzlich Ausfluss des Gebots der partnerschaftlichen Zusammenarbeit.

Diese gesetzlich normierten Beziehungen begründen eine nicht auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Marktform. Betrachtet man diese aus rein ökonomischer Sicht, so sind folgende Aspekte festzuhalten:

  • Märkte werden durch die Austauschbeziehungen von Anbietern und Nachfragern definiert und begrenzt. Während die Angebotslandschaft klar erkennbar ist, ist die Nachfrageseite durch das sozialrechtliche Leistungsdreieck nicht ganz eindeutig, ob Nachfragende die Leistungsberechtigten oder die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sind. Da die wesentlichen Kriterien (Qualitätsdefinition, Entgeltübernahme etc.) im Wesentlichen durch die Jugendämter wahrgenommen werden, treten sie faktisch als Nachfrager von Jugendhilfeleistungen auf.
  • Dies zugrunde gelegt, sind die Märkte für ambulante Jugendhilfeleistungen relativ regional angelegt und beziehen sich auf das Stadt- oder Kreisgebiet. Stationäre Jugendhilfeleistungen werden eher überregional angeboten.
  • Die Märkte sind umfangreich und umfassen regelmäßig sowohl für die Anbieter als auch für die nachfragenden Jugendämter sehr relevante Einnahme- bzw. Ausgabeposten.
  • Die Märkte sind seit vielen Jahren beständig, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, im Wachstum. Sollte das Wachstum enden, könnten relativ schnell Verwerfungen entstehen. Diese könnten sich auf einzelne Träger beziehen, die bei  fallenden Belegungszahlen die entsprechenden remanenten Kosten nicht rechtzeitig abbauen können.
  • Unter den Anbietern von Leistungen herrscht trotz vielfältiger Kooperations-beziehungen auch Konkurrenz in unterschiedlicher Intensität.  
  • Die Steuerungsansätze des öffentlichen Trägers auf struktureller oder Einzelfallebene haben immer auch ökonomische Konsequenzen auf dem Markt.

Insgesamt sind die Wechselwirkungen, die sich aus den ökonomischen Beziehungen ergeben, noch wenig erforscht oder konzeptionell gefasst.

Der vierte Blick: Realitäten von Jugendhilfepraxen

Die vorgenannten Beschreibungen machen deutlich, wie Trägerstrukturen und Entwicklungen des Leistungsangebotes durch die Vorschriften des SGB VIII bestimmt und geprägt sind. In den vergangenen Jahren haben sich in den Hilfen zur Erziehung die Trägerstrukturen und Trägerkonstellationen weiter ausdifferenziert: Es existiert eine große Trägervielfalt mit privat-gemeinnützigen Trägern, privat-gewerblichen Trägern, mit Fachkräften, die ihre eigenen Existenzen in neuen Organisationsformen gründen, mit Trägern, die eigene Rechtsformen wählen (bspw. (g)GmbH, GbR) oder mit öffentlichen Trägern, die eigene Einrichtungen bzw. Eigenbetriebe führen.

Obwohl die Strukturprinzipien der Zusammenarbeit von öffentlichen und freien Trägern der Jugendhilfe und ihre jeweiligen Aufgaben und Eigenständigkeiten gesetzlich festgelegt sind, gibt es in der Praxis Einflussfaktoren und Abhängigkeiten, die dem zwar nicht grundsätzlich entgegenstehen, aber Konfliktpotential bergen.[3]

Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist als Leistungsverpflichteter angewiesen auf eine bedarfsorientierte Angebots- und Leistungsstruktur der freien Jugendhilfe (mit ihren strukturellen finanziellen, personellen und fachlichen Ressourcen), ohne die die öffentliche Jugendhilfe ihre Aufgaben nicht erfüllen kann. Insbesondere in zugespitzten Bedarfssitua-tionen (z.B. hinsichtlich der Erstunterbringung von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, bei komplexen rechtskreisübergreifenden Hilfebedarfen) zeigt sich dieses angewiesen sein, wenn Träger der freien Jugendhilfe keine entsprechenden Angebote zur Verfügung stellen können oder wollen. Die freie Jugendhilfe wiederum ist angewiesen auf die Inanspruchnahme der Leistungen bzw. auf finanzielle und politische Förderung. Die Finanzierungsgrundlagen für stationäre und teilstationäre Hilfen sichern zwar einerseits eine leistungs- und qualitätsbezogene Entgeltvereinbarung mit prospektiv abzuschließenden Kostensätzen zu, eine Belegungszusage oder nachträgliche Ausgleiche sind jedoch ausgeschlossen.

Die tägliche Praxis zeigt auch, dass die Umsetzung dieser Grundprinzipien des SGB VIII immer wieder mit Schwierigkeiten verbunden ist: Dies ist oftmals dann zu beobachten, wenn die Partner ihren Verantwortlichkeiten nicht hinreichend nachkommen, bspw. das Jugendamt seine Planungsverantwortung nur ungenügend wahrnimmt oder Träger der freien Jugendhilfe im Jugendhilfeausschuss nur im Sinne der eigenen Interessen diskutieren.

Der fünfte Blick: fachpolitische Entwicklungslinien und aktuelle Trends

Das Verhältnis der öffentlichen und freien Jugendhilfe steht seit mehreren Jahren insofern im Mittelpunkt der Debatten, als dass über eine „Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung“ auf fachlicher, rechtlicher und (finanz)politischer Ebene diskutiert wird. Insbesondere das Papier „Wiedergewinnung kommunalpolitischer Handlungsfähigkeit zur Ausgestaltung von Jugendhilfeleistungen“ aus der Koordinierungssitzung der A-Staatssekretäre in 2011 hat vor dem Hintergrund des Anstieges in den Ausgaben für die Hilfen zur Erziehung eine besondere Entwicklung dieser Debatten ausgelöst. Hier wurde eine „Überprüfung“ der Ausgestaltung des Hilfeangebots als individueller Rechtsanspruch und der angeblich starken Stellung der Träger der freien Jugendhilfe bei der Ausgestaltung des Hilfeangebots gefordert. Es folgten intensive fachpolitische und politische Auseinandersetzungen. In einem JFMK-Beschluss aus 2014 wurde es als notwendig angesehen, dass die Träger der öffentlichen Jugendhilfe darin bestärkt werden, eine Steuerung und abgestimmte Planung wahrnehmen bzw. aktivieren zu können, da dies für die Wirksamkeit des Hilfesystems und des effizienten Mitteleinsatzes eine Schlüsselfunktion sei. Außerdem solle eine „Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung“ im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe, dem Ausbau sozialräumlicher und infrastruktureller Angebote für Kinder und Jugendliche und der gegenseitigen Kooperation mit den Regelsystemen, z. B. Kindertagesbetreuung und Schule, erfolgen.  

Gleichzeitig wurden die Debatten vermehrt vor einem finanzpolitischen Hintergrund geführt, so unter anderem auch durch die Standpunkte der Monopolkommission. In ihren Empfehlungen aus dem Hauptgutachten in 2014 versucht sie Aspekte des „Wettbewerbes in der Kinder- und Jugendhilfe“ zu analysieren und kritisiert dabei insbesondere die Stellung der frei-gemeinnützigen Träger der Jugendhilfe im SGB VIII. Die Monopolkommission entwickelt dabei eine eigene wirtschaftspolitische Auffassung, die sie den Regelungen des SGB VIII entgegenhält. Kern ihres Engagements ist es dabei, den Interessen privat-gewerblicher Anbieter zur stärkeren Durchsetzung zu verhelfen. Dazu möchte sie insbesondere das Vergaberecht in der Kinder- und Jugendhilfe zur Anwendung bringen, fordert den Aufbau landes- und bundesweiter Datenbanken über Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsentwicklungsvereinbarungen, den Ausbau von „Gutscheinsystemen“, den Abbau von Steuervorteilen für privat-gemeinnützige Träger der Jugendhilfe und die Veränderung der Zusammensetzung des Jugendhilfeausschusses, den sie als „institutionelles Wettbewerbshindernis“ betrachtet.

Der Bundesrat hat demgegenüber in seiner Stellungnahme zu diesem Hauptgutachten betont, „dass die Grundprinzipien des SGB VIII sich bewährt haben und einer rein wettbewerbsrechtlichen Betrachtung fachlicher Angebote der Kinder- und Jugendhilfe deutlich entgegenstehen“ und die Vorschläge der Monopolkommission zurückgewiesen.

Fachpolitisch diskutiert wird derzeit außerdem ein – regional unterschiedlich starker – Anstieg der Anzahl privat-gewerblicher Träger, die Jugendhilfeleistungen anbieten. Kennzeichnend für diese ist, dass sie keinen gemeinnützigen Status haben und diesen auch nicht anstreben. Sie können deshalb nicht als Träger der freien Jugendhilfe (nach § 75 SGB VIII) anerkannt werden. Folge davon ist, dass der Träger der öffentlichen Jugendhilfe sie nicht umfassend an der Jugendhilfeplanung beteiligen muss und dass ihnen keine Mitgliedschaft im Jugendhilfeausschuss zukommt. Im Gegensatz zu frei-gemeinnützigen Trägern, die Jahresüberschüsse zugunsten ihres Satzungszweckes verwenden müssen, ist die Tätigkeit der frei-gewerblichen Träger auf Kapitalrendite ausgerichtet. Fraglich ist, ob diese Systemlogik Einfluss auf das Verhältnis zwischen den Trägern der freien Jugendhilfe und der öffentlichen Jugendhilfe hat und ob dies auch Auswirkungen auf die pädagogische Arbeit haben kann.

Kritisch erörtert wird auch, dass die Zunahme des Kostendrucks und der Wettbewerbsmechanismen die Partnerschaftlichkeit öffentlicher und freier Jugendhilfe aushöhle. Schwierig sei ebenfalls die besonders in den Ballungsgebieten zu beobachtende Entwicklung der Zunahme von einer Vielzahl von Trägern: eine verlässliche und vertrauensvolle Zusammenarbeit sowie Kooperation von freier und öffentlicher Jugendhilfe gestaltet sich dann nicht einfach, wenn eine Vielzahl von (neuen) Verhandlungspersonen den herausforderungsvollen Prozess für die Aushandlung der Leistungen und Angebote begleiten.
Weitere Entwicklungslinien finden sich in Konzepten, die mit Schwerpunktträgern für bestimmte regionale Bereiche arbeiten und damit besondere Konstellationen zwischen öffentlichen und freien Trägern vorsehen. Sie sind bei offensichtlichen Vorteilen durch Komplexitätsreduktion mit rechtlichen, fachlichen und steuerungslogischen Risiken verbunden.

Nachdem in Folge der „neuen Steuerung“ in den 90er Jahren viele Kommunen ihre eigenen leistungserbringenden Dienste abgeschafft haben, scheint es nun eher wieder einen Trend hin zu eigenen Diensten zu geben. Begründet wird dies unterschiedlich, teilweise mit dem Versuch, die Form der Leistungserbringung stärker beeinflussen zu können, teilweise mit dem Versuch, Ausweichbeschäftigungen für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter zu organisieren, indem sie beispielsweise in Folge der beruflichen Belastung in einem Arbeitsfeld andere Arbeitsbereiche in den trägereigenen Strukturen und Diensten besetzen können.

Allen verschiedenen Entwicklungen gemeinsam ist, dass sich die Kinder- und Jugendhilfe einem stetigen Legitimationsdruck ausgesetzt sieht und versucht, in einem schwierigen Umfeld die Handlungshoheit zu bewahren. Dabei soll sie „Wirkungen“ belegen, Kosten einsparen und gleichzeitig die Qualität der Leistungen und Angebote gewährleisten. Dies kann die gesetzlich normierte partnerschaftliche Ausgestaltung der Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und freien Trägern belasten.

Schlussfolgerungen

Die Besonderheit der gesetzlichen Verpflichtung zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit öffentlicher und freier Jugendhilfe und die Gestaltungsmöglichkeiten, die darin liegen (trotz aller ihrer praktischen Schwierigkeiten und auch normativen Überforderungen), wurden bei dem eingangs genannten Beispiel zur Inobhutnahme und Betreuung der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten in einem besonderen Maße deutlich. Diese Besonderheit prägt darüber hinaus das Verhältnis der öffentlichen und der freien Jugendhilfe in der alltäglichen Praxis. Aus Sicht der AGJ sind folgende Positionen zentral, wenn es um die Angebotsvielfalt in der Kinder- und Jugendhilfe sowie um das Einhalten der Grundprinzipien des SGB VIII geht:
 

  • In der Diskussion um die Partnerschaftlichkeit bzw. um das Verhältnis öffentlicher und freier Jugendhilfe stehen die Adressatinnen und Adressaten sowie die Qualität der erforderlichen Angebote und Leistungen im Mittelpunkt, um im Sinne des § 1 SGB VIII Kinder und Jugendliche zu fördern, sie und ihre Familien zu unterstützen und sie vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen. Sie und die positive Gestaltung ihrer Lebensbedingungen sind die zentralen Leitziele für alle beteiligten Akteure in der Kinder- und Jugendhilfe.
  • Die Kinder- und Jugendhilfe hat einen gesetzlich verankerten Auftrag: Sie erbringt in erster Linie personenbezogene Dienstleistungen, ist für die Unterstützung, Begleitung und Hilfe für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen verantwortlich und zur Wahrnehmung des staatlichen Wächteramtes verpflichtet. Sie ist sozialrechtlich wesentlich durch das SGB I, VIII und X geprägt. Eine primär wettbewerbsrechtliche Betrachtung ist abzulehnen.
  • Die Träger der Kinder- und Jugendhilfe sind zu einem ressourcensparenden und wirtschaftlichen Einsatz der Mittel verpflichtet, was für die Träger der freien Jugendhilfe eine verantwortliche Unternehmensführung (bspw. Personalverantwortung) und das Interesse, an der Angebotsvielfalt mitzuwirken, einschließt.
  • Die öffentliche Jugendhilfe muss ihre Gesamt- und Planungsverantwortung mit den vorrangig durch die Länder aber auch den Bund zur Verfügung gestellten Mitteln umsetzen (können). Dazu gehört insbesondere eine aufgabenangemessene Ausstattung der Jugendämter und Landesjugendämter, um sich auf die (gesetzlich normierte) Aufgabenerfüllung zu konzentrieren.
  • Es gibt Wettbewerb zwischen den Trägern der freien Jugendhilfe und eine ökonomische Verhandlungsebene zwischen dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe und den Anbietern. Beides ist im Sinne der Ziele des § 1 SGB VIII zu gestalten. Die Frage, welche Wettbewerbsmechanismen bzw. welches ökonomische Verhalten diese Ziele am besten unterstützt, ist noch zu wenig erforscht. Um die Zusammenarbeit im Sinne der Leistungen für Kinder und Jugendliche zukunftsgerecht und verantwortungsvoll zu gestalten, sollten die Wechselwirkungen stärker untersucht und diskutiert werden.
  • In der Aushandlung und Festsetzung von Leistungsentgelten müssen folgende Grundsätze Beachtung finden:
    • Einhaltung des Fachkräftegebotes orientiert an der Leistungserbringung,
    • Berücksichtigung von erforderlichen Rahmenbedingungen wie Supervision und Fortbildung,
    • Einhaltung sozialversicherungs- und arbeitsrechtlicher Vorgaben,
    • Ermittlung von Personalkosten auf der Grundlage tariflicher Vergütungshöhen.

Kostenkontrolle muss immer zusammen gedacht werden mit einer tragfähigen Verständigung über eine qualifizierte Leistungserbringung, um die Ziele des § 1 SGB VIII zu realisieren.

  • Die Zweigliedrigkeit des Jugendamtes, der Jugendhilfeausschuss und seine Zusammensetzung sind bewährte Strukturprinzipen, durch die Fachkräfte aus der freien Jugendhilfe in die öffentliche Verantwortung für die Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen eingebunden werden. Dadurch wird der Pluralität und der unterschiedlichen Werteorientierung im Trägerspektrum der freien Jugendhilfe Rechnung getragen sowie die vielfältige fachliche Expertise in die Arbeit des Jugendhilfe-ausschusses eingebracht.
  • Grundvoraussetzung für eine gelingende Zusammenarbeit ist das Wissen über und die Anerkennung der jeweiligen rechtlichen Grundlagen, Rollen und Aufgaben und die Übersetzung dieser Strukturprinzipien in Planung, Dialog, Verfahren und Rahmenvereinbarungen vor Ort, um auch damit eine Qualitätsdimension zu gewährleisten, die es den Parteien ermöglicht, Vertragspartner zu werden und diese Voraussetzungen in den Rahmenvereinbarungen aufzunehmen.
  • Die Bildung von Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB VIII soll vor Ort unterstützt werden, um auch damit einen Beitrag zu leisten, Maßnahmen aufeinander abzustimmen und zu ergänzen.  
  • Ein bedarfsgerechtes Angebot muss zudem in der Lage sein, flexibel auf ungewöhnliche Bedarfe und schwierige erzieherische Herausforderungen angemessen zu reagieren. Hier muss sich partnerschaftliche Zusammenarbeit auch in adressatenorientierten und fachlich anspruchsvollen Hilfesettings auf der Basis solider Finanzierungen bewähren. Nur so können plötzliche Unzuständigkeitserklärungen und schädliche Hilfeabbrüche vermieden werden.
  • Auch und vor allem vor dem Hintergrund des enorm großen Fachkräftebedarfs für die Kinder- und Jugendhilfe stehen öffentliche wie freie Jugendhilfe in der Verantwortung, dieses Arbeitsfeld als attraktiven Arbeitsort zu gestalten, um den gesetzlichen Auftrag sicherzustellen. Dazu gehört auch, gute Kooperationsbeziehungen aufzubauen und zu halten sowie einen fachlichen Austausch und Qualitätsprozess partnerschaftlich zu gestalten.


Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 27./28. September 2018


[1] Datengrundlage sind die Ergebnisse der KJH-Statistik zu den Kindertageseinrichtungen und den hier tätigen Personen sowie zu den Einrichtungen und tätigen Personen in der Kinder- und Jugendhilfe ohne die Kindertageseinrichtungen. Die Angaben zu den Kindertageseinrichtungen werden jährlich jeweils zum 1. März eines Jahres erhoben, die zu den anderen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe alle 2 Jahre jeweils zum 31. Dezember. Für ein Gesamtergebnis zur Kinder- und Jugendhilfe – beispielsweise für 2016/2017 – werden die Daten zu den Kindertageseinrichtungen zum 1. März 2017 mit den Angaben zum 31. Dezember 2016 aufsummiert. Die Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik an der Technischen Universität Dortmund hat die AGJ bei der Zusammenstellung der Ergebnisse der KJH-Statistik unterstützt.
[2] Vgl. Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJStat) (2017): Empirische Befunde zur Kinder- und Jugendhilfe. Analysen zum Leitthema des 16. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetages 2017. Dortmund, S. 35ff. Die Ergebnisse beziehen sich auf die Jahre 2014 und 2015. Eine Aktualisierung dieser Analysen mit Ergebnissen der Kinder- und Jugendhilfestatistik für 2016 und 2017 bestätigen die Verteilung von 29% Einrichtungen in öffentlicher sowie 71% in freier Trägerschaft.
[3] S. Merchel, J. : „Partnerschaftliche Zusammenarbeit“ zwischen ASD und freien Trägern – eine unangemessen harmonisierende Formel?; in: Forum Erziehungshilfen 5/2017; S. 269-273