Von der Notbetreuung für Wenige zur Kindertagesbetreuung für Viele – Worauf es bei der Kita-Öffnung ankommt!

Von der Notbetreuung für Wenige zur Kindertagesbetreuung für Viele – Worauf es bei der Kita-Öffnung ankommt!

Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Stellungnahme als PDF

Seitdem die Bundesregierung in Absprache mit den Ministerpräsident*innen zum 20. April 2020 erste Lockerungen der sogenannten Corona-Maßnahmen beschlossen hat und Ende April/Anfang Mai dieses Jahres stufenweise der Schulbetrieb wieder aufgenommen wird bzw. schon aufgenommen worden ist, wächst der öffentliche und fachliche Druck auf den Bereich der Kindertagesbetreuung, für den ebenfalls Lockerungen eingefordert werden. Zahlreiche Stellungnahmen verweisen auf die erheblichen familialen Belastungen, die mit der Schließung der Kindertageseinrichtungen für Kinder und ihre Eltern einhergehen; insgesamt wird argumentiert, dass es insbesondere die Familien und hier (neben den Kindern) vielfach die Mütter sind, die aktuell die sozialen Kosten der Pandemie begleichen müssen. Auch wenn das übergeordnete Ziel der Eindämmung des Infektionsgeschehens mit Covid-19 und die Sicherstellung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird, hat die Ankündigung, die Kitas bis Anfang August bzw. bis zum Ende der Sommerferien geschlossen zu lassen, sowohl bei vielen betroffenen Familien als auch bei nicht wenigen Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe Zweifel aufkommen lassen. Gezweifelt wird daran, ob im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Bereichen die Fortsetzung dieser weitgehenden Beschränkungen kindlicher und familialer Lebenswelten angesichts der damit einhergehenden Überforderungen nicht weniger Familien und der Belastungen von Kindern tatsächlich zumutbar ist. Vermisst werden insbesondere konkrete Aussagen zu einem zeitnahen Prozess der schrittweisen Öffnung der Kindertagesbetreuung noch vor den Sommerferien. Die folgende Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ greift diese Debatte auf und veranschaulicht, mit welchen Herausforderungen ein Öffnungsprozess der Kitas verbunden ist und unter welchen Bedingungen eine mittelfristige Rückkehr zum Regelbetrieb gestaltet werden muss.

Ausgangssituation

Die Diskussion um die Öffnung der Kindertagesbetreuung muss verschiedene Ebenen in den Blick nehmen und diese zueinander in ein Verhältnis setzen. Zunächst ist die Kindertages-betreuung in den letzten Jahren durch einen enormen Bedeutungszuwachs charakterisiert, der seinen Ausdruck sowohl in den Daten der Inanspruchnahme als auch bezogen auf das Beschäftigungsvolumen findet. Rund ein Drittel der Kinder unter drei Jahren nutzt ein Angebot der Kindertagesbetreuung. Bei den über Dreijährigen sind dies über 93 Prozent, d. h. für mehr als 3,3 Millionen Kinder ist die Kindertagebetreuung bis zum Schuleintritt ein selbstverständlicher Ort des Aufwachsens und des sozialen Austausches mit Gleichaltrigen. In den fast 53.000 sehr heterogen strukturierten Einrichtungen der Kindertagesbetreuung für nicht-schulpflichtige Kinder sind mehr als 610.000 pädagogische Fachkräfte tätig. Innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe ist dies mit Abstand das größte Beschäftigungsfeld. Schon diese Zahlen alleine, aber auch die vielfältigen Reaktionen auf die Schließung der Kindertagesbetreuung im Kontext der Covid-19 Pandemie veranschaulichen, dass die Relevanz der Kindertagesbetreuung mittlerweile unstrittig ist und die Schließung der Kitas mit erheblichen Folgen verbunden ist. Im Dreiklang von Betreuung, Bildung und Erziehung erweitert der Kinderbetreuungssektor das familiale Erziehungsgeschehen sowie die Chancen sozialer Teilhabe in einer institutionellen Perspektive, trägt zum Ausgleich von Bildungsbenachteiligungen bei und ist das zentrale Angebot zur Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie.
Dass all dies seit mehreren Wochen unterbrochen ist, wird mit dem Ziel legitimiert, das Infektionsgeschehen zu verlangsamen und die Gesundheit eines jeden einzelnen Kindes und Erwachsenen zu schützen. Die damit einhergehenden Maßnahmen eines Lockdowns weiter Teile des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens dienen der Eindämmung der Pandemie und der Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems und können den Bereich der Kindertagesbetreuung nicht ausklammern, ohne sich selbst zu konterkarieren. An der Aufrechterhaltung dieser vorrangigen Zielsetzungen müssen sich dementsprechend die Schritte einer kontrollierten Öffnung der Kindertagebetreuung messen lassen. Gleichzeitig müssen diese Maßnahmen sowohl die Perspektiven der Kinder und der Eltern, als auch die der Fachkräfte in den Blick nehmen.  

Von der Notbetreuung für Wenige zur kontrollierten Öffnung

Von Anfang an hat für Kinder von Beschäftigten in den so genannten systemrelevanten Bereichen eine Notbetreuung in den Kindertageseinrichtungen zur Verfügung gestanden. Dabei handelt es sich um Berufstätige, die für das öffentliche Leben, das Gesundheitssystem, die Sicherheit und Versorgung der Bevölkerung unabdingbar sind und deren Tätigkeiten nicht im Homeoffice erbracht werden können. Beobachtbar ist aktuell, dass die Liste der systemrelevanten Bereiche immer länger wird, länderspezifisch durchaus unterschiedlich ist und durch die Lockerung der Corona-Maßnahmen weiter an Umfang zunimmt. Wiederum länderspezifisch sind Anspruchsberechtigungen in Abhängigkeit von der Frage, ob beide Elternteile in der kritischen Infrastruktur erwerbstätig sind oder der entsprechende Nachweis nur eines Elternteils ausreichend ist. Auch die Nachweispflichten selbst sind unterschiedlich geregelt und reichen von der reinen Selbstauskunft bis hin zu differenzierten Angaben der Arbeitgeber.
Hinzu kommt, dass in einigen Bundesländern der Bereich der Kindertagespflege von den Schließungen ausgenommen ist. Immer mehr Bundesländer haben die Notbetreuung aus Erwägungen des Kinderschutzes auch für solche Kinder geöffnet, bei denen aus Sicht des Jugendamtes ein entsprechender Kinderschutzbedarf festgestellt worden ist. Die Größe der Gruppen, in denen eine Notbetreuung angeboten wird, reicht von 5 bis 10 Kindern; die Inanspruchnahmequoten betragen je nach Bundesland zwischen drei und etwas über 10 Prozent. Bis zur Lockerung der Corona-Maßnahmen waren bundesweit rund 160.000 Kinder anspruchsberechtigt. Nach der Lockerung wächst der Kreis der Anspruchsberechtigten rasant, da von (Hoch)Schulen bis zum Einzelhandel immer mehr Institutionen auf Personal angewiesen sind, das bislang die Kinder zu Hause betreut hat.

Herausforderungen des Öffnungsprozesses

Die Erweiterung der Notbetreuung führt folglich schon jetzt dazu, dass immer mehr Gruppen ihre Ansprüche aus Vereinbarkeitsgründen einfordern, aber auch aus einer kinderrechtlichen Perspektive weitere Öffnungsnotwendigkeiten angezeigt werden. Erweiterte Öffnungsmöglichkeiten, die nicht allein arbeitsmarktpolitischen Erwägungen folgen, setzen voraus, dass Begründungskontexte für die Ermöglichung der Nutzung der Kindertagesbetreuung jenseits des durch den Pandemieschutz ausgesetzten Rechtsanspruchs auf Kindertagesbetreuung (§ 24 SGB VIII) entwickelt werden. D. h. aber auch, dass in einem langfristigen planvollen Prozess einer kontrollierten Öffnung hin zu einem eingeschränkten Regelbetrieb unterschiedliche Zugangsberechtigungen transparent offengelegt und nachvollziehbar legitimiert werden müssen. Begründungsbedürftig werden bei Beibehaltung des Primats einer Verlangsamung des Infektionsgeschehens und der Aufrechterhaltung des Gesundheits-schutzes Limitierungen von Gruppengrößen, von Räumen und von Personal bis hin zu Einschränkungen von Eltern- und Kinderrechten.

Die Limitierung von Gruppengrößen

In den Überlegungen des Robert Koch Instituts (RKI) zur Wiedereröffnung von Bildungseinrichtungen1 wird festgehalten, dass die Rolle von Kindern als Krankheitsüberträger in der Covid-19-Pandemie noch nicht gut untersucht ist. Es wird betont, dass Kinder häufiger als Erwachsene einen milden oder asymptomatischen Verlauf haben und daher nicht auf Grund von Symptomen, sondern im Rahmen einer Kontaktpersonen-Nachverfolgung positiv getestet werden. Kinder werden oft nicht als SARS-CoV-2-Infizierte erkannt. Asymptomatische und präsymptomatische Übertragungen können ohne Schutzmaßnahmen im Alltag nur schwer verhindert werden, wobei vor allem jüngere Kinder sich nicht in vollem Umfang an kontaktreduzierende und Hygienemaßnahmen halten können. Es besteht nach Auffassung des RKI’s damit die Gefahr, dass sich SARS-CoV-2 effektiv unter Kindern in Betreuungs-einrichtungen ausbreitet. Hinzu kommt, dass von einem Multiplikatoreffekt mit Ausbreitung in den Familien und nachfolgend in der Bevölkerung ausgegangen werden muss. Es fehlt zudem an Erfahrungen, welche Rolle Betreuungseinrichtungen als mögliche „Hotspots“ für Übertragungen im aktuellen Pandemiegeschehen spielen. Anknüpfend an diese Überlegungen ist es wichtig, im Rahmen eines Schutz- und Hygienekonzeptes für die Kindertagesbetreuung die Anzahl der Kontakte in der Kindertagesbetreuung klein und für den Fall einer Infektion rückvollziehbar zu gestalten. Die augenblicklichen Gruppengrößen in der Notbetreuung von 5 bis 10 Kindern und einer exklusiv für diese Gruppe zuständigen Fachkraft können nicht überschritten werden, will man weiter die bei derzeitigem Forschungsstand angeratene Risikominimierung zur Eindämmung der Pandemie erreichen. In der Konsequenz solcher Plangrößen ist die Öffnung der Kindertagesbetreuung für alle Kinder zum jetzigen Zeitpunkt und erwartbar auch noch über einen längeren Zeitraum ausgeschlossen.

Limitierung von Räumen

Einer solchen Limitierung von Gruppengrößen mit der Folge einer eingeschränkten Öffnung der Kindertagesbetreuung könnte entgegengehalten werden, dass durch eine Vervielfachung der Gruppen dennoch eine größere Anzahl von Kindern wieder in die Kitas zurückkehren würde. Hier stellt sich jedoch unmittelbar die Frage nach Räumlichkeiten, in denen eine Vielzahl von kleineren Kitagruppen getrennt voneinander untergebracht werden könnten. Zwar haben insbesondere kirchliche Träger unter Umständen die Möglichkeit, ihre Raumkapazitäten durch die Hinzuziehung von Gemeinderäumen zu erweitern, und Träger der Kinder- und Jugendarbeit haben ihre Unterstützung angeboten. Ideen gehen dabei von der Einbeziehung ihrer freien Räume bis dahin, zeitlich befristet für auszuwählende Kinder mehrtägige entlastende Ferienmaßnahmen in kleinen Gruppen und feststehenden Räumlichkeiten zu offerieren2. Eine generalisierbare Lösung des Raumproblems stellen solche Optionen aber nicht dar, sodass der Platz für eine am Infektionsgeschehen orientierte Öffnung der Kindertagesbetreuung begrenzt bleibt.

Limitierung von Personal

Selbst wenn es gelänge, das Raumangebot zu vergrößern, ist damit noch lange nicht die Frage beantwortet, welches Personal die größere Anzahl von Gruppen betreuen soll. Schon vor der Pandemie waren Personalengpässe in der Kindertagesbetreuung unübersehbar: Hält man an der Idee kleiner Gruppen mit einer gleichbleibenden Anzahl an Fachkräften in voneinander abgeschotteten Räumen fest, würde dies zur Voraussetzung haben, dass deutlich mehr Fachkräfte tätig werden müssten. Tatsächlich ist aber davon auszugehen, dass die Anzahl des zur Verfügung stehenden Personals eher noch geringer werden wird. Das Risiko einer schweren Erkrankung mit Covid-19 steigt ab 50 bis 60 Jahren stetig an, eine Altersgruppe, zu der rund 29 Prozent des Personals zählt. Unbekannt ist, wie groß der Anteil des Personals ist, der aufgrund verschiedener Grunderkrankungen wie z. B. Herzkreislauferkrankungen, Diabetes, Erkrankungen des Atmungssystems, der Leber und der Niere sowie Krebserkrankungen unabhängig vom Alter das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf hat. Hinzu kommt, dass ein Teil des Personals der Kindertagesbetreuung schon deshalb nicht zur Verfügung steht, weil es durch die Betreuung eigener Kinder gebunden ist, die Pflege von Angehörigen übernommen hat oder in Quarantäne lebt.
Trotz der Vorgaben des SodEG, wonach soziale Einrichtungen, die Corona-bedingt vorübergehend schließen müssen, u. a. freiwerdende Personalressourcen zur Krisenbewältigung zur Verfügung stellen müssen, lässt sich weder kurz- noch mittelfristig eine Hinzuziehung weiterer Mitarbeiter*innen im erforderlichen Umfang erreichen. Zum einen stellen sich arbeitsrechtliche, organisatorische und abrechnungstechnische Hürden, zum anderen sind auch pädagogische und kinder- und jugendhilferechtliche Fragen vor der Hinzuziehung zu klären. Aus fachlicher Perspektive ist das Fachkräftegebot nicht verzichtbar. Bereits aus pädagogischer Sicht ist angeraten, zu prüfen, ob und unter welchen Voraussetzungen weitere Mitarbeiter*innen als Unterstützung einer der regulären Fachkräfte eingesetzt werden können.
Solche Beschränkungen der Personalstärke führen wiederum dazu, dass die Anzahl der Gruppen nicht beliebig erweiterbar ist, zumal insbesondere diejenigen Bundesländer Probleme haben dürften, ausreichend Personal zur Verfügung zu stellen, deren Betreuungsschlüssel schon vor der Pandemie deutlich über den fachlich empfohlenen Größen lag.

Zwischenfazit

In der Konsequenz heißt das, dass die Zahl der zur Verfügung stehenden Räume für getrennte Gruppen sowie die Anzahl des verfügbaren Personals den quantitativen Rahmen bilden, um die Zahl der Kinder zu bestimmen, die gegenwärtig in einer kontrollierten Kita-Öffnung maximal aufgenommen werden könnten.
Unabhängig davon muss aber unzweifelhaft gelten, dass für das Personal und die Kinder alle notwendigen Maßnahmen für den Infektionsschutz umgesetzt werden, und die Einhaltung von Hygienemaßnahmen in enger Absprache mit den lokalen Gesundheitsämtern möglich ist.

Kriterien zur Vergabe begrenzter Kinderbetreuungsplätze

Die in der Kindertagesbetreuung realisierte Bildung, Betreuung und Erziehung steht vom vollendeten ersten Lebensjahr an allen in Deutschland lebenden Kindern zu (§ 24 Abs. 1 SGB VIII). Die Möglichkeit der Bewegungsfreiheit, der sozialen Kontakte mit anderen Kindern, die Anleitung durch Erwachsene, die nicht die Eltern sind, gehören zum förderlichen Aufwachsen aller Kinder. Dass diese Rechte zurzeit durch das Infektionsgesetz eingeschränkt sind, trifft grundsätzlich auf eine breite Zustimmung der Bevölkerung und auch der unmittelbar Betroffenen. Je länger allerdings die Einschränkungen andauern, je größer die aus der Pandemie resultierenden Belastungen insgesamt und Überforderungen der Eltern und Kinder im Besonderen werden, je unbestimmter ein absehbares Ende der Beschränkungen ist, desto lauter und intensiver werden die Forderungen nach einer Rückkehroption in die Kindertagesbetreuung. Die Limitierung der Gruppengrößen, der Räume und des Personals machen nun den schwierigen Abwägungsprozess erforderlich, mit welcher Priorisierung Kinder welcher Eltern zunächst ein Angebot der Kindertagebetreuung erhalten. Die hierzu bislang formulierten Vorschläge gilt es vor dem Hintergrund von Kinder- und Elternrechten abzuwägen und im Hinblick auf ihre Realisierungsoptionen zu prüfen.

Aufrechterhaltung systemrelevanter Infrastruktur

Festgehalten werden muss zunächst, dass alle Kinder, deren Eltern in systemrelevanten Infrastrukturbereichen beschäftigt sind, auch in der Pandemie einen Anspruch auf Kindertagesbetreuung haben. Die Liste der systemrelevanten Berufsgruppen stetig auszuweiten, wäre dabei kein sinnvolles Vorgehen. Der so provozierte Streit um die Einordnung der (eigenen) Unverzichtbarkeit bedroht vielmehr den gesellschaftlichen Konsens zur Notbetreuung. Es ist weiter sinnvoll, die Notbetreuung auf Kinder eines engen, zwischen den Ländern möglichst gleichlautenden Kreises von Berufsgruppen zu begrenzen, die für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens zwingend gebraucht. Die im Weiteren formulierten erweiterten Kriterien zur Vergabe der begrenzten Betreuungsressourcen trotz des deutlich werdenden breiten Bedarfs beziehen sich daher immer auf ein Angebot, das zusätzlich zu der bereits realisierten und weiterhin zu gewährenden Notbetreuung realisiert werden soll.

Eindämmung gravierender sozialer Nachteile für die Kinder

Neben den bereits erwähnten Kindern mit einem besonderen Kinderschutzbedarf werden in den einschlägigen Debatten häufig prioritär solche Kinder benannt, die aus prekären, bildungsfernen und räumlich beengt lebenden Familien stammen, die kaum über Möglichkeiten verfügen, die durch die Pandemie entstandenen weiteren Benachteiligungen auszugleichen.
So sehr die Orientierung an sozialen Ungleichheiten zu begrüßen ist, so schwierig kann aber deren folgenreiche Berücksichtigung sein. Die Ausbuchstabierung dessen, was in diesem Kontext als Benachteiligung gewertet wird, muss potentiell damit einhergehende Stigmatisierungen vermeiden und zudem lokal so umgesetzt werden können, dass die entsprechenden Parameter nicht zu Größenordnungen der Inanspruchnahme führen, die angesichts der möglichen Folgen der Pandemie abzulehnen sind, wenn sie tendenziell zu einer fast vollständigen Öffnung der Kindertagesbetreuung mit unkontrollierbaren Folgen beitragen würden.
Dies ist vor allem in solchen Stadtteilen bzw. Kindertageseinrichtungen eine erwartbare Schwierigkeit, in denen überproportional viele Familien leben, die für ihre Existenzsicherung auf sozialstaatliche Unterstützungsleistungen angewiesen sind. Gleiches gilt aber auch, wenn vorgeschlagen wird, sich auf solche Kinder zu konzentrieren, die in Elternhäusern aufwachsen, in denen Deutsch nicht die zuhause gesprochene Sprache ist. Da dies deutschlandweit bei mehr als 20 Prozent der Kita-Kinder der Fall ist – mit deutlich höheren Werten in westdeutschen Metropolregionen –, müssten hier als weiteres Entscheidungskriterium in vielen Kommunen bereits festgestellte Sprachdefizite hinzugezogen werden. Andernfalls könnte es auch in diesem Fall zu Betreuungsumfängen kommen, die einem kontrollierten Umgang mit der Pandemie widersprechen.
Wer unter diesen Umständen einen Kitaplatz erhält, muss folglich in enger Absprache zwischen den kommunalen Jugendämtern und den bislang betreuenden Einrichtungen entschieden werden können.

Entlastung von Alleinerziehenden

Andere Vorschläge beziehen sich eher auf die besonderen Belastungen von Alleinerziehenden. Der Status, alleinerziehend zu sein, ist aber nicht per se mit einem besonderen Unterstützungsbedarf verbunden; so wäre zu prüfen, inwieweit beispielsweise Alleinerziehende, die die Gleichzeitigkeit von Erwerbstätigkeit und Betreuung ihrer Kinder zu bewältigen haben, nicht einer hervorgehobeneren Entlastung bedürfen.

Berücksichtigung von Behinderung

Des Weiteren werden Kinder mit einem besonderen Unterstützungsbedarf benannt, die aufgrund einer Behinderung selbst beeinträchtigt sind oder deren Eltern Beeinträchtigungen haben. Auch hier lässt sich pauschal jedoch keine Aussage über die Belastungsfolgen der eingeschränkten Kindertagesbetreuung treffen. Daher sollten Entscheidungen wiederum in enger Absprache zwischen den Akteur*innen vor Ort getroffen werden, die die Belastungssituation der Familie einschätzen können.

Vorschuljahrgang

Andere Vorschläge konzentrieren sich eher auf Altersgruppen, indem sie die bevorzugte Rückkehr von Kindern vorschlagen, die kurz vor der Einschulung stehen, diesen Übergang mit den ihnen vertrauten Fachkräften gestalten wollen und die eher in der Lage sind, Schutz- und Hygieneerfordernisse nachzuvollziehen. Auch bei diesen Vorschlägen wird aber schnell eine Größenordnung erreicht, die das Infektionsgeschehen negativ beeinflussen kann, wenn ein Viertel der Jahrgänge der Drei- bis Sechsjährigen somit einen Anspruch hätte.

Berufstätigkeit beider Elternteile

Elternpaare, die zunächst bei der Analyse der Folgen einer einschneidenden Beschränkung der Kindertagesbetreuung kaum eine Rolle gespielt haben, die aber in der öffentlichen Wahrnehmung der damit einhergehenden Belastungen zunehmend Gehör finden, sind Elternpaare, die beide einer Erwerbstätigkeit nachgehen und zusätzlich die Betreuung ihrer Kinder und Haushaltsaufgaben übernehmen müssen. Auch diese Eltern verweisen verstärkt darauf, ihre Belastungsgrenzen erreicht zu haben.
Diskussionswürdig sind in diesem Kontext ersatzweise Überlegungen einer als „Corona-Elterngeld“ bezeichneten materiellen Unterstützung solcher Eltern, die zur Bewältigung der zahlreichen Belastungen temporär ihre Erwerbstätigkeit einschränken oder sogar ganz unterbrechen. Es dürfte klar sein, dass solche Einschränkungen bzw. Unterbrechungen der Berufstätigkeit gleichstellungs- und wirtschaftspolitisch schwierige Folgen mit sich bringen; es darf jedoch keine Alternative sein, die betroffenen Eltern und ihre Kinder in die Zerreißprobe zwischen Existenznot und Kinderbetreuung zu bringen.

Empfehlungen zur schrittweisen Wiedereröffnung

Die AGJ spricht sich neben der Aufrechterhaltung der Notbetreuung für einen eng begrenzten Kreis systemrelevanter Berufsgruppen dafür aus, die gegebenen Limitierungen ernst zu nehmen und eine Wiedereröffnung der Kindertagesbetreuung zwar perspektivisch für alle Eltern und Kinder in Aussicht zu stellen, sie aber schrittweise nach Priorisierung der o. g. Kriterien vorzunehmen. Die zur Vergabe erforderliche Bewertung kann dann allein vor Ort erfolgen, wo die wahrgenommenen familiären Belastungsfaktoren ins Verhältnis zu den konkret gegebenen limitieren Betreuungsressourcen gesetzt werden müssen. Grundsätzlich sollte gelten, dass die Rückkehr in die Kindertagesbetreuung dann prioritär erfolgen kann, wenn sich Benachteiligungen kumulieren oder wenn in einer Familie mehrere Kinder von der Schließung der Einrichtungen betroffen sind und sich die Herausforderungen für die Eltern somit verdichten.  
Allen Kindern und Eltern wäre zudem geholfen, wenn der langwierige Prozess der Rückkehr zu einer Regelbetreuung nicht durch ein Entweder-Oder, d. h. durch die Differenz davon, einen Zugang zu haben oder davon ausgeschlossen zu sein, charakterisiert wäre. Die Chance, die Limitierung von Gruppengrößen, Räumen und Personal für viele nicht zu einem gefühlten Dauerzustand werden zu lassen, besteht dann, wenn Einrichtungen der Kindertagesbetreuung in einer fachlich gestalteten Öffnung als Limitierung von Betreuungszeit temporär möglichst vielen offen stehen würden. Kinder, die bspw. an einem oder an zwei Tagen in der Woche in ihre Einrichtung zurückkehren könnten, würden ihre sozialen Kontakte wiedererlangen, ihr Lebensumfeld erweitern können und hätten Eltern, die dieses angesichts der zurückliegenden Wochen sicherlich als entscheidende Entlastung erleben würden. Die Optionen einer halbtäglich oder täglich wechselnden Inanspruchnahme sollten geprüft werden, um einer möglichst großen Zahl an Kindern die Kontakte zu den gleichaltrigen Kindern zu ermöglichen und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Sorgen und Nöten jenseits des familiären Umfelds beispielsweise Erzieher*innen anzuvertrauen.
Unabhängig davon, welche Gruppen von Kindern und Eltern bei der schrittweisen Öffnung der Kindertagesbetreuung besonders adressiert werden, brauchen die Träger der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe Rechtssicherheit in diesem für alle nur mit erheblichen Anstrengungen zu gestaltenden Prozess. Rechtssicherheit benötigen die Träger einmal in Bezug auf die noch lange geltenden Einschränkungen, damit Eltern nicht damit beginnen, den Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung vor Ort und gegenüber einzelnen Trägern einzuklagen.
Sicherheit und eine entsprechende Ausstattung brauchen die Träger auch in Hinblick auf die einzuleitenden und einzuhaltenden Schutz- und Hygienemaßnahmen. Sie benötigen Zeit, um die schrittweise Öffnung ihrer Einrichtungen vorbereiten zu können. Neben den hier angesprochen logistischen Herausforderungen müssen sie sich auch fachlichen Diskussionsprozessen stellen, welche pädagogischen Gesichtspunkte die die Kindertagesbetreuung auszeichnende Beziehungsarbeit in Zeiten der Pandemieeindämmung prägen können (z. B. Verwendbarkeit von Schutzmasken im Kita-Alltag, Bewegungsspiele trotz Kontaktminimierung, Umgang mit neuen Ängsten, Eingewöhnung neuer Kinder). Die AGJ wird diese Klärungsprozesse in ihren Gremien begleiten und unterstützten.  

Fazit

Alle diese Erwägungen machen deutlich, wie komplex, langwierig und voraussetzungsvoll der Prozess der Rückkehr zu einer Regelbetreuung sein wird. Entscheidungen, die in diesem Kontext gefällt werden müssen, sollten perspektivisch auf der Intensivierung von forschungsbasiert belastbaren Befunden, u. a. mit regelmäßiger, systematischer Testung aufbauen können, um eine gesicherte Handlungsbasis für zukünftig zu treffende Entscheidungen zu haben und die Wahrscheinlichkeit der Rücknahme von Lockerungen zu minimieren.
In der augenblicklichen Situation ist für eine breite Zustimmung zu dem eingeschlagenen Weg von zentraler Bedeutung, dass die politischen Entscheidungen den betroffenen Eltern, Kindern und Trägern transparent und plausibel vermittelt werden. Dazu gehört auch, die Notwendigkeit des Fortbestandes von Beschränkungen immer wieder zu begründen, ohne den Eindruck entstehen zu lassen, in einen Wettbewerb um möglichst baldige Lockerungsmaßnahmen eingetreten zu sein. Benötigt wird dafür ein bundeseinheitlich legitimierter, länderspezifisch ausformulierter und kommunal konkretisierter Fahrplan, dessen Stationen als Resultat unumgänglicher Schutzmaßnahmen Einsicht bedingen, die Ängste und Befürchtungen von Kindern, Eltern und Fachkräften ernst nehmen und Wertschätzung gegenüber familialen und fachlichen Leistungen zum Ausdruck bringen.

Geschäftsführender Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ, Berlin, 27. April 2020

Fußnoten

1Epidemiologisches Bulletin 19/2020, S. 6-12, abrufbar unter: www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/19_20_02.pdf?__blob=publicationFile

2Vorausgesetzt, dies ist landesrechtlich im Rahmen der infektionsschutzrechtlichen Eindämmungsmaßnahmen zulässig.