Zwischen Abwesenheit und Ankommen. Mehr Männer in Kitas

„Zwischen Abwesenheit und Ankommen. Mehr Männer in Kitas“.

Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Positionspapier als PDF

In der Kindertagesbetreuung spiegelt sich die Vielfalt unserer Gesellschaft bei den Kindern wider.[1] Hier kommen Kinder aus verschiedenen familiären Konstellationen, mit unterschiedlichen Interessen und Fähigkeiten zusammen. Sie lernen und leben gemeinsam und werden dabei von pädagogischen Fachkräften entwicklungsförderlich begleitet. Insgesamt ist im Feld der Kindertagesbetreuung in den letzten Jahren eine gesteigerte Dynamik und wachsende gesellschaftliche Aufmerksamkeit wahrzunehmen: Dies zeigt sich beispielsweise in der Anzahl der Betreuungsplätze, in der zunehmenden Professionalisierung, im personellen Wachstum des Feldes als auch der steigenden Diversität, Größe und unterschiedlichen professionellen Zusammensetzung der Teams. So sind zum Beispiel in den letzten Jahren immer mehr Fachkräfte mit akademischen Abschlüssen hinzugekommen und multiprofessionelle Teams entstanden.[2] Diesen positiven Entwicklungen im Feld der Kindertagesbetreuung steht jedoch ein prognostizierter Fachkräftebedarf in den nächsten Jahren gegenüber, welcher das Feld vor große Herausforderungen stellen wird. So fehlen laut einer Studie des Forschungsverbundes DJI/TU Dortmund bis zum Jahr 2025 rund 329.000 Fachkräfte in der Kindertages- und Grundschulbetreuung.[3] In der Diskussion zu Lösungen zur Schließung der vorhandenen Personallücke wird unter anderem diskutiert, wie man mehr männliches Personal für die Kindertagesbetreuung gewinnen kann. Denn ein detaillierter Blick auf die Zusammensetzung des Personals zeigt, dass die unterschiedliche geschlechtliche Zusammensetzung auf Seiten des Personals noch nicht sehr groß ist und die Gruppe der pädagogischen Fachkräfte die Vielfalt der Gesellschaft und der betreuten Kinder nur in mancherlei Hinsicht oder gar nicht widerspiegelt. So sind trotz vielfältiger Versuche, mehr Männer für das Arbeitsfeld der Kindertagesbetreuung zu begeistern, immer noch nur lediglich knapp 6 Prozent der im Feld arbeitenden Personen Männer.[4]

Diese Entwicklungen nimmt die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ mit diesem Positionspapier in den Blick und schaut auf die Bemühungen der Gewinnung von männlichen Fachkräften in den letzten Jahren und erläutert, welche Gründe für die Abwesenheit von Männern als pädagogische Fachkräfte in der Kindertagesbetreuung bestehen können. Denn trotz der beschriebenen Dynamik und der gesteigerten Attraktivität des Feldes für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind immer noch wenig Männer tätig: Pauschale Verdächtigungen gegen männliche Fachkräfte führen dazu, dass mit dem Thema Männer in der Kindertagesbetreuung teilweise immer noch Ängste, Vorurteile und Widerstand zusammenhängen und das in einem Generalverdacht[5] gegen männliche Fachkräfte münden kann. So begegnen männlichen Fachkräften im Alltag Vorurteile, die sie in der Ausübung ihrer Tätigkeit als pädagogische Fachkraft einschränken oder es ihnen schon vorab erschweren, sich für das Arbeitsfeld der Kindertagesbetreuung zu entscheiden.[6] Gleichwohl steht diese Thematik im Mittelpunkt des Positionspapieres, obwohl weitere Faktoren bestehen, die Männer vom Arbeitsfeld abhalten.

Die AGJ leistet mit dem vorliegenden Positionspapier einen Beitrag zur Diskussion über das Thema „Männer in der Kindertagesbetreuung“ und möchte deutlich machen, dass mehr männliche Beschäftigte einen Gewinn für die pädagogische Arbeit mit Kindern und die qualitätsorientierte Gestaltung institutioneller Bildung, Betreuung und Erziehung darstellen können. In einer vielfältigen Gesellschaft sollten Männer als selbstverständlicher Teil im Alltag in der Kindertagesbetreuung dazugehören. Diese Entwicklung wird zunehmend auch gesellschaftlich positiv bewertet. Die AGJ sieht es als notwendig an, dass im System der Kindertagesbetreuung eine Auseinandersetzung über ein professionelles Verhältnis von Nähe und Distanz von Fachkräften zu den von ihnen betreuten Kindern stattfindet. Diese Auseinandersetzung sollte auf verschiedenen Ebenen geführt werden und ist letztlich eine wichtige Grundlage für Fachkräfte zur Weiterentwicklung ihrer professionellen Haltung. Des Weiteren sind sexualpädagogische Konzepte und Schutzkonzepte wichtig und sollen hier weiter diskutiert werden. Diese Konzepte können einen Teil dazu beitragen, männliche pädagogische Fachkräfte von einem Generalverdacht zu befreien und das Personal der Kindertagesbetreuung insgesamt in ihrer Tätigkeit als pädagogische Fachkräfte zu unterstützen. Das Positionspapier betrachtet diese Entwicklung und unterstützt Leitungen und Träger sowie (männliche) Fachkräfte in ihrem Handlungsrepertoire. Der Fokus des Papiers liegt auf der Institution Kindertageseinrichtung. Die Kindertagespflege als Angebot der Kindertagesbetreuung bringt Spezifika in der Organisation und Gestaltung mit sich, die eine gesonderte Betrachtung notwendig machen.

1. Die Ausgangslage: Etwas mehr männliche Fachkräfte in Ausbildung und Beruf

Kindertageseinrichtungen bilden ein historisch gewachsenes Frauenerwerbsfeld, das bei einem bundesweiten Frauenanteil von rund 94 Prozent auch heute noch zu den am stärksten geschlechtsspezifisch segregierten Berufsfeldern auf dem gesamten Arbeitsmarkt zählt. Die Abwesenheit von Männern im Arbeitsfeld der Kindertagesbetreuung hat dabei verschiedene Gründe: Unter anderem werden sogenannte Care-Tätigkeiten insgesamt noch immer Frauen zugeschrieben, zu der die institutionalisierte Betreuung von Kindern von Beginn an dazugehörte. Zum anderen spielt auch die Entlohnung in der Kindertagesbetreuung eine Rolle, denn diese wird von pädagogischen Fachkräften und potenziell interessierten Bewerberinnen und Bewerbern häufig als nicht angemessen wahrgenommen und senkt so die Attraktivität und die Anerkennung des Arbeitsfeldes.

Die Geschlechterverteilung zeichnet sich dabei durch eine hohe Stabilität aus, obgleich der geringe Männeranteil im nationalen und europäischen Diskurs bereits relativ früh fachpolitische Aufmerksamkeit erhielt. So wurde beispielsweise schon Mitte der 1990er-Jahre das Erreichen einer Männerquote von 20 Prozent vom Europäischen Netzwerk für Kinderbetreuung als ein Qualitätsziel für den frühkindlichen Bereich formuliert. Verschiedene Initiativen, teilweise im Rahmen von EU-Förderungen, zielten seitdem darauf ab, mehr Männer für den Erzieherberuf zu gewinnen und zu einer geschlechterausgeglichenen Berufs- und Studienwahl beizutragen. Hier kann zum Beispiel der Jungen-Zukunftstag – Boys‘ Day als ein Projekt genannt werden, in dem Jungen früh Berufe frei von Geschlechterklischees kennenlernen können. Des Weiteren sind in diesem Kontext u. a. auch die Modellprojekte[7] und Werbekampagnen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend einzuordnen.[8]

Teilerfolge dieser Politik- und Förderstrategien lassen sich durchaus beobachten: So konnten im Zuge des Personalausbaus des letzten Jahrzehnts mehr Männer für eine pädagogische Tätigkeit in Kindertageseinrichtungen gewonnen werden. Im Spiegel der Kinder- und Jugendhilfestatistik ist zwischen 2006 und 2017 die Zahl der männlichen Mitarbeiter von rund 11.000 auf 34.300 (+23.300) gestiegen. Hierdurch hat sich die Männerquote zeitgleich von 3,1 auf 5,8 Prozent erhöht. Besonders deutlich ist der Männerzuwachs bei den Beschäftigten unter 30 Jahren ausgefallen, bei denen die Männerquote inzwischen bei 9,8 Prozent liegt. In diesem Zusammenhang ist auch der Blick auf die Erzieherinnen- und Erzieherausbildung aufschlussreich, bei der – gemäß Bildungsstatistik – der Männeranteil im ersten Ausbildungsjahr im Schuljahr 2014/15 bundesweit bei rund 17 Prozent und damit deutlich höher als im Berufsfeld lag, allerdings bei deutlichen Schwankungen zwischen den Ländern (mit einem Männeranteil von 11 Prozent in Bayern und 28 Prozent in Hamburg). Allerdings ist hierbei zu berücksichtigen, dass nur ein Teil der Absolventen tatsächlich im Arbeitsfeld der Kindertagesbetreuung tätig wird.[9]

Neben der traditionellen Fachschulausbildung erhalten in jüngerer Zeit auch neue, praxisintegrierende Organisationsformen in Verbindung mit einer vergüteten Anstellung in einer sozialpädagogischen Einrichtung sowie verschiedene Formen des Seiten- und Quereinstiegs[10], aber auch das Freiwillige Soziale Jahr, als potenzielle Zugangswege in das Berufsfeld vermehrt Beachtung. Hier kann unter anderem auf die Einführung der Praxisintegrierten Ausbildung (PIA) im Jahr 2012 in Baden-Württemberg verwiesen werden. Neben der Teilzeitausbildung und der Externenprüfung werden Ausbildungsmodelle und Quereinstiegsformate, die sich auch oder explizit an Berufswechslerinnen und -wechsler mit langja?hriger Berufserfahrung richten, als eine Möglichkeit gesehen, verstärkt Männer aus nicht-pädagogischen Berufen als eine Zielgruppe zur Deckung des hohen Fachkräftebedarfs anzusprechen. Dort scheinen Männer – wie erste, nicht repräsentative Studienergebnisse nahelegen – etwas häufiger als in der klassischen Erzieherinnen- und Erzieherausbildung vertreten zu sein. Trotz der erzielten Fortschritte bleibt jedoch festzuhalten, dass Männer immer noch eine sehr kleine Gruppe innerhalb der Frauendomäne Kindertagesbetreuung darstellen. Auch zukünftig werden infolgedessen erhebliche Anstrengungen erforderlich sein, um die einseitige Geschlechterverteilung zu überwinden und mehr Männer für eine Tätigkeit in Kindertagesstätten oder in der Kindertagespflege zu gewinnen.

2. Bedingungen für die Tätigkeit von Männern im Berufsfeld: Zwischen wachsender Akzeptanz und Generalverdacht

Dass die Vorzeichen für eine schrittweise Erhöhung des Männeranteils auch seitens der Praxis der Kindertageseinrichtungen relativ günstig scheinen, signalisiert u. a. die empirische Studie von Cremers/Krabel/Calmbach (2010), laut der männliche Fachkräfte im Arbeitsfeld im hohen Maße erwünscht sind: So stimmten 56 Prozent der befragten Eltern, 77 Prozent der Leitungen und 75 Prozent der Trägerverantwortlichen der folgenden Aussage voll und ganz zu: „Es ist wichtig, dass Kinder sowohl von männlichen als auch von weiblichen Fachkräften betreut werden“ (S. 47). Gleichzeitig waren Eltern (45 Prozent), Leitungskräfte (63 Prozent) und Trägerverantwortliche (69 Prozent) mehrheitlich der Meinung, dass „(sich) Kitas und deren Träger (…) dafür einsetzen (sollten), mehr männliche Erzieher zu gewinnen“ (ebd.).[11]
In Studien und Praxisberichten werden jedoch nicht nur die hohe Akzeptanz und Erwünschtheit von Männern im Berufsfeld, sondern oftmals auch Vorbehalte und Verdachtsmomente gegenüber dieser Beschäftigtengruppe deutlich.

Im Kontext eines gewachsenen Problembewusstseins für sexualisierte Gewalt in pädagogischen Institutionen besteht hiernach die Gefahr, dass Männer aufgrund vereinfachender und verallgemeinernder Täter- und Opferzuschreibungen mit einem Generalverdacht in Verbindung gebracht werden. Dies hat die paradoxe Situation zur Folge, dass Männer in Kitas einerseits als wesentlich für die Entwicklung von Kindern angesehen und teilweise sogar allein aufgrund ihres Geschlechts idealisiert werden. Andererseits erscheinen sie im Lichte generalisierter Vorurteile und der Unterstellung bedrohlicher Aspekte von Männlichkeit (wie Gewalt, Machtausnutzung und Grenzen ignorierende Sexualität) für die Arbeit mit Kindern als wenig geeignet. Dieses „Spannungsfeld zwischen Idealisierung und Verdächtigung“[12] führt zu Verunsicherung. Es prägt nicht nur die Reaktionen von Eltern, Leitungskräften und Erzieherinnen auf männliche Fachkräfte, sondern beeinflusst auch das Selbstbild von Männern, die in dieses weiblich dominierte Arbeitsfeld einsteigen wollen oder in diesem bereits tätig sind. Die verschiedentlich geäußerten Ängste und Zweifel gegenüber der Tätigkeit von Männern in Kitas können die Entscheidung für den Erzieherberuf erschweren, zu Unsicherheit von Auszubildenden und Studierenden führen sowie (Selbst-)Einschränkungen berufstätiger Erzieher nach sich ziehen und damit – jenseits tradierter Rollen- und Geschlechterbilder – auch zu einem niedrigen Männeranteil im Berufsfeld beitragen.[13] Statistische Daten zu sexualisierter Gewalt speziell in der Institution Kindertageseinrichtung liegen hingegen nicht vor.

Diese Entwicklung ist trotz der Klarstellung im Bundeskinderschutzgesetz, dass der Schutz vor sexualisierter Gewalt verpflichtend ist und alle Fachkräfte betrifft, immer wieder herausfordernd. Insgesamt hängt die Vorkommenshäufigkeit von Ängsten gegenüber der Einstellung von Männern jedoch von verschiedenen Faktoren ab: Einen Einfluss darauf haben z. B. die bestehende Anzahl männlicher Fachkräfte in einer Einrichtung, das Trägerkonzept bzw. -leitbild, die Eltern- und Teamarbeit, regionale Disparitäten und die Anzahl der männlichen Fachkräfte im Bundesland. Diese unterschiedlichen Faktoren für das Entstehen eines Verdachts müssen bei der Betrachtung des Themas miteinbezogen werden.

3. Entwicklung einer Geschlechtsidentität und Auswirkungen auf Kinder

Generell kann festgehalten werden, dass das Geschlecht eine große Rolle in der Identitätsbildung eines jeden Menschen spielt. Nicht nur, dass es als klassische Differenzierung in vielen Sprachen fungiert, darüber hinaus charakterisieren Geschlechtsunterschiede das Leben in vielfältiger Hinsicht. In allen Gesellschaften erfolgt die Klassifikation von Frauen und Männern nicht ausschließlich aufgrund biologischer Unterschiede[14], sondern über kulturell und sozial geteilte Definitionen beider Geschlechtergruppen. Während die Vielfalt von Definitionen des psychologischen und sozialen Geschlechts (und der Forschungsansätze dazu) einmal mehr die Komplexität dieses Konstrukts offenbart, besteht weitgehende Übereinstimmung hinsichtlich der Repräsentation von Geschlechtsrollen, -normen und -kategorien im Selbst sowie im sozialen Leben: Individuen ziehen Geschlechterstereotype zur Selbstbeschreibung heran, die das gesamte Leben beeinflussen: Sie steuern Werte ebenso wie das Verhalten und spiegeln die Erwartungshaltungen an Männer und Frauen seitens der Gesellschaft wider.

Das Geschlechtsrollenselbstkonzept entwickelt sich im Laufe der Sozialisation in Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Vorstellungen der umgebenden Kultur: Jungen wie Mädchen werden mit diesen in der jeweiligen Gesellschaft geltenden Geschlechterstereotypen und Geschlechtsrollenerwartungen konfrontiert und erlernen Verhaltensweisen, Einstellungen, Interessen, Motive und emotionale Reaktionen, die als sozial angemessen für die Mitglieder des jeweiligen Geschlechts gelten. Folgt man lerntheoretischen Ansätzen, beginnt die Geschlechterstereotypisierung damit unmittelbar nach der Geburt eines Kindes, wenn Eltern, Bekannte, medizinische oder pädagogische Fachkräfte geschlechtsspezifisches und -angemessenes Verhalten interpretieren und durch Lob, Ermutigung, Missbilligung oder Ärger verstärken, z. B. durch die Wahl von „geeigneten“ – also vor allem geschlechtsangemessenen – Spielzeugen, Kleidungsstücken oder Aktivitäten.
Das Erleben von Männern und Frauen, mit unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten und Geschlechtsrollen, ist für Kinder wichtig, um ihre eigene Geschlechtsidentität zu entwickeln und sich für sie passende Verhaltensweisen und Rollenbilder zu entscheiden. Denn, wenn Kinder nicht erleben, dass Personen sich unterschiedlich verhalten und unterschiedliche Rollen einnehmen und ihnen darin als Vorbilder dienen, kann dies dazu führen, dass sich die Breite und Unterschiedlichkeit von Verhaltensmustern, Tätigkeiten, Vorlieben etc., über die Frauen und Männer verfügen, den Kindern nicht erschließt. So besteht für Kinder die Gefahr, Geschlechterstereotypisierung als nicht hinterfragbar wahrzunehmen und in der eigenen Identitätsbildung dadurch beeinflusst zu werden. Zudem ist das frühe Erleben von Geschlechtergleichwertigkeit wichtig, um sich im weiteren Leben weniger eingeschränkt zu fühlen, zum Beispiel in den Vorstellungen von Partnerschaft und Erziehung, bei der Vorstellung eines zukünftigen Berufs oder der Wahl einer Freizeitaktivität, sprich darüber, wie man in der Welt sein will. Wenn Kinder die Vielfalt von weiblichen Bezugspersonen erleben dürfen, sollten sie auch die Chance bekommen, Männer in dieser Rolle wahrzunehmen.

4. Gesellschaftlicher Wandel von Männer- bzw. Väterrollen und deren (denkbarer) Einfluss auf die pädagogische Arbeit in der Kindertageseinrichtung

Nach wie vor ist zu beobachten, dass die überwiegende Arbeit der Betreuung und Sorge um Kinder in dieser Gesellschaft in der Hand von Frauen liegt und sich nur langsam ein Wandel verzeichnen lässt. Dieser Wandel hat jedoch dazu geführt, dass das gesellschaftliche Bild des Mannes als Vater und somit Bezugsperson für Kinder, sich in den letzten Jahren verändert hat – vor allem durch die Männer selbst. Diese Entwicklung hängt auch mit der veränderten Rolle von Frauen in der Gesellschaft zusammen und kann nicht losgelöst von ihr betrachtet werden. Männer als auch Frauen entwickeln zunehmend ihre eigenen Rollenbilder weiter: Viele Väter schätzen es so ein, dass sie sich im Vergleich zu früheren Generationen sehr viel stärker in die Erziehung und Betreuung ihrer Kinder einbringen und dies als gewinnbringend für sich empfinden. Auch der Wunsch, mindestens die gerechte Hälfte der Kinderbetreuung zu übernehmen, besteht bei der Hälfte der Väter.[15] Dies geht einher mit einer sich wandelnden Vorstellung vom alleinigen oder hauptsächlichen Familienernährer hin zur Vorstellung einer Partnerschaft, in der beide für den eigenen Lebensunterhalt aufkommen können: 60 Prozent der Eltern von unter Dreijährigen wünschen sich eine Einbindung von Mutter und Vater zu gleichen Teilen in Familie und Beruf. Zudem nehmen immer mehr Väter Elternzeit und reduzieren oder unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit temporär. Immer mehr Frauen gestalten eine durchlässige Erwerbsbiografie und steigen nach der Elternzeit eher und mit zunehmend größerem Umfang wieder in ihre Berufstätigkeit ein. Diese und andere Entwicklungen zeigen deutlich, dass sich die Rolle und das gesellschaftliche Bild von Frauen und Männern in den letzten Jahren geändert haben. So kann man für Männer bzw. Väter hier sagen, dass diese Rolle zu einer gelebten, aktiven Vaterschaft tendiert, und sich Väter in größerem Ausmaß an der Kindererziehung beteiligen.

Väter sind auch im Alltag von Kindertageseinrichtungen immer präsenter und werden zunehmend gesellschaftlich als auch von den pädagogischen Fachkräften als wichtig wahrgenommen, obwohl die Elternarbeit noch immer hauptsächlich mit den Müttern geschieht. Trotzdem sind Männer immer selbstverständlicher bei der Eingewöhnung dabei, bei Festen, beim Abholen und anderen Aktivitäten und sind natürliche Ansprechpartner für die pädagogischen Fachkräfte. Dieser erhöhten männlichen Präsenz steht jedoch das Fehlen männlicher pädagogischer Fachkräfte gegenüber, das dem gesellschaftlichen Bild und familiären Realitäten widerspricht. Somit besteht weiterhin ein Handlungsbedarf, Männer und Frauen gleichwertig an der Erziehungs- und Betreuungsarbeit von Kindern zu beteiligen und das auch in Kindertageseinrichtungen zu repräsentieren. Positiv festzustellen ist, dass Kinder in Kindertageseinrichtungen Frauen als gleichberechtigt erwerbstätig erleben können.

Die AGJ sieht das Fehlen von Männern als pädagogische Fachkräfte als problematisch an, da Kindern so der selbstverständliche Umgang mit verschiedenen Geschlechtern und das Erleben von Geschlechtergerechtigkeit erschwert wird. Dies sind jedoch Erfahrungen, die notwendig sind, um die gesellschaftliche Realität zu begreifen und frei die eigene Geschlechtsidentität zu entwickeln und damit auch der Reproduktion geschlechtlicher Stereotype entgegenzuwirken. Für die Entwicklung der eigenen Identität und für das Heranwachsen von Kindern ist es zentral, dass sie Erwachsene erleben, die sich unterschiedlich verhalten, kleiden, sprechen, denken oder reden und ihr Geschlecht verschieden definieren und repräsentieren. Das heißt, unterschiedliche Rollen einnehmen. Dies sowohl im Alltag in der Kindertageseinrichtung im Umgang mit den Kindern wie auch im Team zu leben, bedeutet auch, sich regelmäßig und offen mit dem Anspruch der Gleichheit von Jungen und Mädchen auseinanderzusetzen. Ein offener Austausch über Stereotype und geschlechtliche Zuschreibungen sollte ermöglicht werden. Es bedarf hier der Entwicklung einer Haltung bei den Fachkräften, die es allen Kindern erlaubt, in verschiedene Rollen „zu schlüpfen“ und sich auszuprobieren, und die geschlechtliche Unterschiedlichkeit auch unter Kolleginnen und Kollegen akzeptiert.

Kinder ab etwa dem dritten Lebensjahr verstehen, dass sie in einer Gesellschaft leben, in der Menschen in der Regel in Frauen und Männer unterschieden werden und ordnen sich demzufolge selber einem der beiden Geschlechter zu. Ab dieser Zeit setzen sie sich mit Geschlechterfragen auseinander und suchen Antworten auf Fragen zu ihrer Wahrnehmung von Geschlechtern. Bei der Beantwortung dieser Geschlechterfragen orientieren sich Kinder an gesellschaftlich vorherrschenden Geschlechterbildern und -vorstellungen und realen Bezugspersonen in ihrem Alltag. Eine pauschale Verdächtigung wird unter anderem durch diese stereotypen Geschlechtervorstellungen begünstigt, nach der sich Männlichkeit und Fürsorge scheinbar gegenseitig ausschließen. Wer sich schwer tut, in Männern kompetente und fürsorgliche Bezugspersonen für kleine Kinder zu sehen, entwickelt schnell ein Misstrauen gegenüber Männern, die mit kleinen Kindern arbeiten. Männliche Fachkräfte in Kitas ermöglichen aber den Kindern, sich ein differenzierteres Bild von Männern zu machen, indem sie sie beispielsweise als fürsorgliche, ihnen zugewandte Bezugspersonen erleben. Sie ermöglichen dies aber auch den Eltern und dem gesamten Team der Kindertageseinrichtungen.

5. Pädagogische Konzepte in der Kindertageseinrichtung und ihre Wirkung auf den Umgang mit dem Generalverdacht

Ein professioneller Umgang der Kindertageseinrichtung und ihres Trägers mit den Themen Geschlecht und Sexualität kann den Generalverdacht gegen männliche Fachkräfte vermindern. Je mehr Sicherheit und Selbstbewusstsein Träger und Team der Kindertageseinrichtung im Umgang mit diesen Themen vermitteln, desto mehr Sicherheit können Kinder und Eltern und auch das soziale Umfeld der Kindertageseinrichtung gewinnen. Dafür ist es aus Sicht der AGJ notwendig, dass sich Team und Träger mit Hilfe von Fachberatung mit den Themen auseinandersetzen und Handlungs- und Schutzkonzepte in den folgend benannten Bereichen für sich entwickeln. Kindertageseinrichtungen, die über ein Schutzkonzept verfügen, schützen damit auch ihre männlichen Mitarbeiter vor dem Verdacht des übergriffigen oder distanzlosen Verhaltens. Die einzelnen Module des Konzeptes dienen dem Team einer Kindertageseinrichtung, professionelle pädagogische Praktiken, Leitlinien und Verfahrensmechanismen in der Einrichtung zu etablieren, die pauschalen Verdächtigungen entgegenwirken. Darüber hinaus geben sie den Leitungen und Fachkräften ein gutes Argument an die Hand, sollten Eltern männliche Fachkräfte unbegründet und generell verdächtigen. Der Hinweis auf ein vorliegendes Konzept macht deutlich, dass der Träger und die Kindertageseinrichtung selbst Rahmenbedingungen geschaffen haben, die sexualisierte Gewalt an Kindern in der eigenen Einrichtung so weit wie möglich verhindern.

Einrichtungsbezogene Bestandsanalyse

Der Umgang mit Ängsten, Vorurteilen und Zweifeln gegenüber Männern in der Kindertageseinrichtung zeigt sich individuell unterschiedlich in jeder Einrichtung. Er wird beeinflusst von Haltungen, welche die Fachkräfte im Team, die Eltern und die soziale Umgebung zu dem Thema haben. Eine einrichtungsspezifische Bestandsanalyse trägt dazu bei, die Unsicherheiten und bestehenden Umgangsweisen mit körperlicher Nähe und übergriffigem und grenzverletzendem Verhalten in der jeweiligen Kindertageseinrichtung transparent zu machen. Letztlich ist sie der Zugang zu einer Auseinandersetzung und Entwicklung einer professionellen Haltung zu Nähe und Distanz.

Professionelle Nähe und Distanz

Professionelles Handeln ist daran zu messen, ob eine Fachkraft die aktuellen Bedürfnisse des Kindes wahrnimmt und angemessen darauf reagiert, sich jedoch gleichzeitig selbstkritisch mit den eigenen Motiven, Bedürfnissen und Handlungsimpulsen gegenüber dem Kind auseinandersetzt.

Nähe ist wichtig, insbesondere in Situationen, in denen Kinder überfordert, verängstigt oder erschrocken sind. Kinder suchen auch explizit die Nähe zu Fachkräften. Es wird eine Grenze überschritten, wenn die körperliche Nähe zum Kind allerdings von Fachkräften für die eigene (sexuelle) Bedürfnisbefriedigung benutzt wird.  Gravierend ist zudem, wenn über Grenzverletzungen hinweggesehen wird und kein reflektierter Umgang mit Nähe- und Distanzbedürfnissen stattfindet.[16] Eine kritische Selbstreflexion in diese Richtung ist in keinem Fall nur von männlichen Erziehern zu leisten, sondern von allen Kolleginnen und Kollegen.[17] Insgesamt muss betont werden, dass das Feld der Kinder- und Jugendhilfe durch die direkte Arbeit mit Kindern und Jugendlichen Gelegenheitsstrukturen für sexualisierte Gewalt bietet, dies jedoch kein spezifisches Merkmal von Kindertageseinrichtungen ist.

Träger und Leitungskräfte haben die Verantwortung, Eltern und dem gesamten Team zu vermitteln, dass männliche und weibliche Fachkräfte prinzipiell für die gleichen pädagogischen Tätigkeiten zuständig sind. Es darf also keine Sonderregelungen für männliche Fachkräfte geben, die ihnen beispielsweise das Wickeln verbieten. Zudem können ein klarer Umgang und gemeinsam getroffene Regeln und eine offensive Aufklärungsarbeit dazu beitragen, Unsicherheiten und Ängste zu thematisieren und Transparenz für alle Beteiligten und damit auch die Grundlage für eine angenehme Arbeitsatmosphäre und ein vertrauensvolles Betreuungsverhältnis herzustellen.

Um einen Austausch zu diesem Thema herzustellen und zu gemeinsamen Handlungsleitlinien zu finden, braucht es eine Grundsensibilisierung zu professioneller Nähe und Distanz für die Fachkräfte. Diese sollte bereits Bestandteil der Ausbildung sein. Auch von Trägerseite und Leitung der Kindertageseinrichtung kann bereits zu Beginn des Arbeitsverhältnisses ein Zeichen gesetzt werden, indem die Haltungen der zukünftigen Fachkraft und des Trägers im Einstellungs- und Einarbeitungsverfahren eine Rolle spielen. Gleiches trifft auf die Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen in der Einrichtung zu.

Sexualpädagogisches Konzept

Kindertageseinrichtungen benötigen ein sexualpädagogisches Konzept, das den Fachkräften einen pädagogischen Rahmen und Leitlinien für eine sexualpädagogische Praxis an die Hand gibt. Eine gelungene sexualpädagogische Praxis trägt zu einem positiven Selbstbild und Selbstwertgefühl von Kindern bei und kann Kinder darin bestärken, sich gegen Grenzüberschreitungen zur Wehr zu setzen. Hierfür spielt die Förderung körperlicher Fähigkeiten und elementarer Körpererfahrungen eine wichtige Rolle. Das sexualpädagogische Konzept beinhaltet Themen wie die eigene Wahrnehmung und das Ausdrücken von Gefühlen, körperliche Selbstbestimmung, die Vielfalt von Geschlechtsidentitäten und Geschlechterrollen sowie das Äußern von Widerspruch und die Möglichkeit, sich Hilfe holen zu können. Ziel eines sexualpädagogischen Konzepts ist es, Kinder in ihrer sexuellen Entwicklung geschlechtssensibel zu unterstützen. Um dies zu erreichen, müssen die verantwortlichen Erwachsenen im Bereich der Sexualpädagogik weitergebildet sein und im Bedarfsfall qualifizierte externe Unterstützung anfordern können. Alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Kindertageseinrichtung sollten sich selbst in sexualpädagogischen Fragen sicher fühlen und eine gemeinsame Haltung nach innen und außen tragen. Dies spiegelt sich im sexualpädagogischen Teil einer Einrichtungskonzeption wider.

Partizipations- und Beteiligungsformen und Beschwerdemanagement für Kinder, Fachkräfte und Eltern
Kinder haben ein Recht auf Beteiligung (Art. 12 UN-Kinderrechtskonvention). Dieses Recht ist auch Voraussetzung dafür, dass Kinder ihr Recht auf Selbstbestimmung über ihren Körper erfahren können. Partizipation thematisiert das Verhältnis von Kindern zu Erwachsenen. In Kindertageseinrichtungen bedeutet dies, dass alle Mitarbeitenden eine Haltung gegenüber Kindern einnehmen, die davon geprägt ist, Kinder als eigenständige Persönlichkeiten wahrzunehmen. Dabei begleiten und unterstützen sie die Kinder in ihrer Fähigkeit, sich eigenaktiv zu entwickeln. Das beinhaltet, die Kinder mit ihren Bedürfnissen, Ideen und Vorstellungen wahrzunehmen und mit ihnen in einen Dialog zu treten, der sicherstellt, dass sie gesehen, gehört und ernst genommen werden. Kinder sind aufgrund ihrer Erziehungsbedürftigkeit abhängig von Erwachsenen, die für die Entwicklung und Versorgung der Kinder verantwortlich sind. Dieses Verhältnis ist ein ungleiches Machtverhältnis, das im Team thematisiert werden sollte. Dabei ist zu klären, an welchen Stellen Kinder auf jeden Fall beteiligt werden sollen und an welchen Stellen Kinder nicht beteiligt werden können. Darüber hinaus sind Träger von Kindertageseinrichtungen aufgefordert, Eltern als Expertinnen und Experten ihrer Kinder in die Gestaltung der pädagogischen Arbeit miteinzubeziehen. Denn Eltern müssen die Mitbestimmungsrechte der Kinder in der Einrichtung mittragen können. Pädagogische Fachkräfte, die Partizipation und Beteiligung ermöglichen wollen, brauchen einen Rahmen, in dem sie selbst die Erfahrung demokratischer Teilhabe ihrer Arbeit erleben, beispielsweise durch Mitbestimmung ihrer Rahmenbedingungen. Das heißt, pädagogische Fachkräfte können Partizipation gemeinsam mit Kindern besser ermöglichen und Kindern und Eltern (als Vorbilder) glaubhaft nahebringen, wenn sie sie auch selbst im Team erleben. Kindertageseinrichtungen sind im Sinne des § 45 SGB VIII verpflichtet, geeignete Verfahren zu entwickeln, die Kindern ermöglichen, ihr Recht auf Beteiligung wahrzunehmen und sich in persönlichen Angelegenheiten beschweren zu können.

Wichtige Maßnahmen, die auch zum Umgang mit dem Thema Generalverdacht beitragen, sind beispielsweise die Einrichtung eines Beschwerdemanagements. Neben Kindern sollten auch Eltern die Möglichkeit haben, Fälle sexualisierter Gewalt einer vertrauenswürdigen Person mitteilen zu können. Ein solches Beschwerdemanagement hilft, Fälle von sexualisierter Gewalt schon in einem anfänglichen Stadium zu erkennen und zu beenden.

Interventionskonzepte zum Umgang mit Verdächtigungen

Eine wesentliche Bedeutung kommt den internen Kommunikationsstrukturen einer Einrichtung zu. Zum Thema „Übergriffe und sexualisierte Gewalt“ herrscht oftmals Unsicherheit, was genau darunter zu verstehen und was im Falle einer Beobachtung zu tun ist. Betreffen diese Vermutungen das Tun der Kinder untereinander, wird in der Regel das eigene Team als Ort für eine Besprechung genutzt. Geht es aber um potenziell übergriffiges Verhalten durch Kollegen und Kolleginnen, ist die Hemmschwelle, den Verdacht zu benennen, höher. In Schutzkonzepten beschriebene Interventionsverfahren sorgen daher für Entlastung und ermöglichen einen sachlichen Umgang mit der Situation. In einem Schutzkonzept ist sowohl die Kommunikationskultur der Einrichtung als auch die Kommunikationsstruktur beschrieben. Interventionsverfahren enthalten sowohl einen klar strukturierten und für alle nachvollziehbaren Ablauf als auch Zuständigkeiten.

Zusammenarbeit mit Eltern

Träger, Leitung und Fachkräfte können zudem dazu beitragen, Eltern die Zweifel und Ängste gegenüber Männern in der Kita zu nehmen. Wichtig ist es, mit ihnen, beispielsweise in Elternabenden, ins Gespräch zu kommen und zu bleiben. Den richtigen Zugang zu finden, ist dabei ein wesentlicher Schlüssel und kann gelingen, indem beispielsweise über Geschlechterrollen oder geschlechterbewusste Pädagogik gesprochen wird. In diesem Zusammenhang fällt es Eltern sicherlich leichter, auch Ängste und Verunsicherungen gegenüber männlichen Fachkräften sowie zu kindlicher Sexualität allgemein zu artikulieren. Leitung und Fachkräfte können hier erklären, dass weibliche und männliche Fachkräfte die gleichen pädagogischen Aufgaben haben und Körperkontakt Bestandteil einer professionellen pädagogischen Arbeit ist. Wenn Kindertageseinrichtungen ihre Leitlinien zum Umgang mit Körperlichkeit und Grenzsetzungen bei Körperkontakt und körperlicher Nähe erarbeitet haben und für die Eltern transparent machen, ist dies hilfreich und vertrauensfördernd.

Organisations- und Personalentwicklung

Die hier beschriebenen Handlungskonzepte sind immer auch als Prozess der Organisationsentwicklung zu betrachten, also der planvollen (Weiter-)Entwicklung von Abläufen, Regeln und dem Selbstverständnis der Kindertageseinrichtung als Organisationseinheit des Trägers. Diese Prozesse im Team zu verankern und regelmäßig zu reflektieren, ist Aufgabe der Leitung im Rahmen der Personalentwicklung. Über regelmäßige Rückmeldungen zur Arbeitsleistung und passgenaue Fort- und Weiterbildungsplanung werden Stärken und Ressourcen gefördert, die zur Entwicklung jedes einzelnen Mitarbeitenden beitragen.

6. Handlungsempfehlungen und Forderungen der AGJ

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ fordert Akteure auf allen Ebenen des Systems institutioneller Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern dazu auf, geschlechtersensible pädagogische Strategien und Konzepte zu entwickeln und nachhaltig zu implementieren sowie Bedingungen zu schaffen, die der speziellen Situation männlicher Fachkräfte in dem stark weiblich konnotierten Arbeitsfeld Rechnung tragen. Dies beinhaltet auch, dass die Auseinandersetzung mit Genderfragen verstärkt in die Ausbildungen an Fach- und Hochschulen einfließt und die verschiedenen Aspekte von Gender systematisch als Querschnittthema verankert werden.

Zudem betont die AGJ, dass die Anstrengungen, mehr männliche Fachkräfte für die Kindertagesbetreuung zu gewinnen, von den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe insgesamt unterstützt werden müssen. Die Vielfalt der Gesellschaft muss sich auch im Alltag der Kindertagesbetreuung wiederspiegeln. Einen Weg, auf dem es gelingen kann, mehr Heterogenität in das Arbeitsfeld Frühkindliche Bildung zu bringen, sieht die AGJ in der Entwicklung der Profession selbst.

Unter dem Aspekt der Personalentwicklung sollten sich Träger, Leitungen und letztlich Teams in der Kindertageseinrichtung sehr bewusst dem Thema des professionellen Umgangs mit Nähe und Distanz sowie Gewalt widmen. Einen bewussten und planvollen Umgang im Team zu haben und diesen auch nach außen kommunizieren zu können, trägt zur Transparenz für Kinder, Eltern und zur Weiterentwicklung einer professionellen Haltung der Fachkräfte bei. Ebenso unterstützen sexualpädagogische Konzepte die Sprachfähigkeit über eher tabuisierte Themen der Sexualität, die unbesprochen eher zu einer unreflektierten Zuschreibung von Geschlechterrollen beitragen. Diese Themen sollten zudem als Bestandteil in der Ausbildung von pädagogischen Fachkräften gestärkt werden. Für bereits ausgebildete Fachkräfte sollte eine regelmäßige Auseinandersetzung und Weiterbildung mit der eigenen Haltung und dem Verhältnis von Nähe und Distanz ermöglicht werden. Team und Träger sollten diese Themen mit Hilfe von Fachberatungen aufgreifen und konzeptionell verankern.

Generell ist die Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Macht‘ in pädagogischen Beziehungen bzw. grenzwahrender Umgang mit Kindern für Fachkräfte notwendig. Hier müssen Träger klar die Verantwortung übernehmen und es pädagogischen Fachkräften ermöglichen, sich fortzubilden und sie bei dem Prozess der Entwicklung von Schutzkonzepten und sexualpädagogischen Konzepten sowie einer reflektierten Haltung unterstützen.

Zudem regt die AGJ an, dass Träger und Leitungskräfte verstärkt einen geschlechtersensiblen Reflexions- und Diskussionsprozess im Alltag der Kindertageseinrichtung mit den pädagogischen Fachkräften anstoßen. Hier sollte ein Ziel sein, alle Fachkräfte als Bezugspersonen und Vorbilder von Kindern zu begreifen und den Umgang mit verschiedenen Geschlechtsidentitäten erstens als gesellschaftliche Realität und zweitens als wertvoll für die Identitätsentwicklung von Kindern zu sehen. Dies sollte zudem auch ein Bestandteil der Elternarbeit sein. Denn Eltern können einen wesentlichen Teil dazu beitragen, den Generalverdacht aufzulösen und die professionelle Haltung von pädagogischen Fachkräften zu unterstützen und sich dafür einzusetzen, dass die Tätigkeit von Männern in der Kindertagesbetreuung selbstverständlich ist.
Darüber hinaus regt die AGJ an, insgesamt bewusster mit den Ängsten und Zweifeln gegenüber der Tätigkeit von Männern im Arbeitsfeld umzugehen und die Herausforderungen und Bedenken hier konkret auszuformulieren, anstatt den wenig griffigen Begriff des Generalverdachtes zu benutzen.


Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 28./29. Juni 2018


[1] Eine tiefgehende Auseinandersetzung mit diesem Thema ist im AGJ-Positionspapier. „Kind. Gerecht. Gestalten. Interkulturalität, Vielfalt und Demokratieerziehung in der Kindertagesbetreuung“ (2017) zu finden.
[2] Autorengruppe Fachkräftebarometer/Beher, Karin/Hanssen, Kirsten/König, Anke/Peucker, Christian/Rauschenbach, Thomas/Reitzner, Bianca/Walter, Michael (2017): Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2017. München: DJI. S. 68 ff.
[3] Rauschenbach, Thomas/Schilling, Matthias/Meiner-Teubner, Christiane (2017): Plätze. Personal. Finanzen – der Kita-Ausbau geht weiter. Zukunftsszenarien zur Kindertages- und Grundschulbetreuung in Deutschland.
[4] Im vorliegenden Text werden alle Personen, die sich selbst als Männer identifizieren, als Männer angesprochen. Darüber hinaus soll erwähnt werden, dass zu einer allumfassenden Beschreibung der geschlechtlichen Vielfalt pädagogischer Fachkräfte in der Kindertagesbetreuung auch die Rahmenbedingungen, Herausforderungen und die aktuelle Situation für trans- und intergeschlechtliche Menschen, die in der Kindertagesbetreuung arbeiten wollen oder bereits arbeiten, diskutiert werden müssen. Auch die Situation von trans- und intergeschlechtlichen Kindern in der Kindertagesbetreuung bedarf einer genauen Betrachtung. Auf existierende Konzepte von Trägern und Kindertageseinrichtungen hierzu wird verwiesen.
[5] Der Begriff ‚Generalverdacht‘ hat sich in der Fachdebatte mittlerweile etabliert. Er bezeichnet den Umstand, dass männliche Fachkräfte in Kindertagesstätten (zumindest gedanklich) häufig pauschal mit sexuellem Missbrauch in Zusammenhang gebracht werden. Die (häufige) Verwendung des Begriffs ist jedoch nicht unproblematisch, da der Begriff möglicherweise dazu beiträgt, den Verdacht gegenüber männlichen Fachkräften bei denjenigen, die diesen Verdacht nicht haben, überhaupt erst entstehen zu lassen. Mehr dazu in: Koordinationsstelle „Mehr Männer in Kitas“ (2014): Sicherheit gewinnen. Wie Kitas männliche Fachkräfte vor pauschalen Verdächtigungen und Kinder vor sexualisierter Gewalt schützen können. Handreichung für die Praxis.
[6] Cremers, Michael; Krabel, Jens; Calmbach, Marc (2010). Männliche Fachkräfte in Kindertagesstätten – Eine Studie der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin und Sinus Sociovision GmbH. Heidelberg/Berlin: BMFSFJ (Hg.). S. 63.
[7] Weitere Infos zu den Modellprojekten „Mehr Männer in Kitas“ sind hier zu finden: https://mika.koordination-maennerinkitas.de/unsere-themen/modellprojekte-mehr-maenner-in-kitas/ .
[8] Autorengruppe Fachkräftebarometer (2017): Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2017. Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte. München, S. 143 ff. sowie die Teilaktualisierung der Daten auf https://www.fachkraeftebarometer.de/laenderdaten/kita-personal/ ; Textor, Martin (1999): Qualität der Kindertagesbetreuung: Ziele des Netzwerks Kinderbetreuung der Europäischen Kommission. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 1999, 79, S. 17-24.
[9]  Autorengruppe Fachkräftebarometer 2017.
[10] Siehe zu den Entwicklungen in den Ländern auch: https://www.chance-quereinstieg.de/quereinstieg-erzieher-in/.
[11] Cremers, Michael/Krabel, Jens/Calmbach, Marc (2010): Männliche Fachkräfte in Kindertagesstätten. Eine Studie zur Situation von Männern in Kindertagesstätten und in der Ausbildung zum Erzieher. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Referat Öffentlichkeitsarbeit. Berlin.
[12] Rohrmann, Tim (2014): Männer in Kitas: Zwischen Idealisierung und Verdächtigung. In: Budde, Jürgen/Thon, Christine/Walgenbach, Katharina (Hg.): Männlichkeiten. Geschlechterkonstruktionen in pädagogischen Institutionen. Jahrbuch Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft; 10. Opladen, Berlin, Toronto, S. 67-84.
[13] Cremers, Michael/Krabel, Jens (2012): Generalverdacht und sexueller Missbrauch in Kitas: Bestandsanalyse und Bausteine für ein Schutzkonzept. In: Cremers, Michael u. a. (Hg.): Männer in Kitas. Koordinationsstelle „Männer in Kitas“. Berlin, S. 265-285.
[14] Zur Vollständigkeit der Auseinandersetzung mit dem Geschlechtsrollenselbstkonzept müssen auch Studien und Diskussionen erwähnt werden, die dem Einfluss der Biologie auf die geschlechtliche Identitätsentwicklung mehr Bedeutung beimessen. Diese Diskussion wird in diesem Papier jedoch nicht weiter ausgeführt.
[15] BMFSFJ (2016): Väterreport. Vater sein in Deutschland heute.
[16] „Sexueller Missbrauch oder sexuelle Gewalt an Kindern ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor Mädchen und Jungen gegen deren Willen vorgenommen wird oder der sie aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen können. Der Täter oder die Täterin nutzt dabei seine/ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen“ (2018), Definition von sexuellem Missbrauch laut dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.
[17] Zentrum Bildung der EKHN (2012): Professionalität kennt kein Geschlecht, S. 24.